I

Weit kam unser schwergewichtiger Held jedoch nicht. Hechelnd sprang er nach ein paar Metern ins erstbeste Taxi und wies den eingedösten Fahrer an, gottverdammtnochmal aufs Gas zu treten. Und siehe da, nachdem dieser Folge geleistet und Peter sich im Verklingen der Stimmen und Verblassen der Lichter sicher wähnte, realisierten beide, dass sie sich schon bei der Hinfahrt begegnet waren. Sichtlich genervt vom Anblick des vormals furzenden Fahrgasts, sagte der Fahrer: “Ah, du wieder. Wo ist denn dein Freund?” und verkniff sich einen bissigen Kommentar. “Ja, komm!”, sagte Peter. “Der is früher nach Hause. Jetzt fahr erstmal, geht dich sowieso nichts an.”
“Weißt du, eins ist mir vorhin klar geworden.” Er blickte zu Peter, der ihn gekonnt ignorierte. “Ich hab’ keinen Bock mehr. Leute wie du und dein Freund, pöbelndes Gesocks, Typen, die mir das Auto zuscheißen und zukotzen; darauf hab’ ich einfach keinen Bock mehr.” Peter horchte auf. “Jetzt versteh mich nicht falsch, ich weiß schon, dass der Job das mit sich bringt und überhaupt sind die meisten Gäste wahrscheinlich so normal ganz in Ordnung, aber ich hab‘ echt kein’ Bock mehr. Und dafür bin ich dir eigentlich sogar dankbar, also dir und deinem Freund. Ihr wart vorhin so das Zünglein an der Waage, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Denn morgen ist Schluss. Ab morgen lass ich das Taxifahren sein und mach was anderes.“
Peter senkte enttäuscht den Kopf. Nach einem tiefen Seufzer, sagte er schließlich: “Ist das alles?” Der Taxifahrer zuckte mit den Schultern. “Was meinst du?”
“Ob das alles ist, was du mir zu sagen hast? Also außer diesem pathetischen Stuss von wegen ‘Ich schmeiß’ hin und mach’ morgen was anderes’-Gesabber. Ich wurde gerade in der abgefuckten Dorfdisse Zeuge einer Tragikomödie monumentalen Ausmaßes und jetzt kommst du mit deinem Midlife-Crisis-Scheiß. Ich dachte, du wärst mehr als das.“
Der Taxifahrer hielt abrupt an. “Wie meinst du das?“
“Du stehst wohl auf Wiederholungen, was? Ich sagte, ich dachte, du wärst mehr als das!”
Verblüfft starrte der Taxifahrer Peter an, als hätte dieser ihm die Existenzfrage gestellt. Peter öffnete indes die Tür und sagte beim Aussteigen nochmals mit sanfter Stimme: “Ich dachte wirklich, du wärst mehr als das.”

“Scheiße, wo bin ich denn jetzt hier gelandet?” Peter musste sich kurz orientieren. Er war am Ortseingang und hatte noch etwas Fußmarsch vor sich. Eine Abkürzung durch den Wald schien ihm angebracht. Der Morgen dämmerte bereits und eine rötlich-schwache Sonne stieg an der Himmelslinie empor. Peter atmete kalte, klare Luft, die ihn zum Besteigen eines Hügels beflügelte. Oben angekommen sah er einen Mann, der mitten auf der Wiese schlief. Es war Sven. Erleichtert ließ er sich neben ihm nieder und blickte auf das Dorf. Wenn Zeit etwas Menschengemachtes ist, wer bestimmt dann, dass sie vorwärts läuft? Mit diesem Gedanken schlief auch er ein.

VIII

Als Sven fluchtartig die Disco verlassen hatte, wieder und wieder über unsinnig den Weg versperrende Beine gestolpert, gefallen und wieder aufgesprungen war, hatte Peter stolz und triumphierend auf seinem Barhocker gesessen. Er hatte das absurde Schauspiel, das sich vor seinen Augen entfaltet hatte aus nächster Nähe verfolgt. Von seiner Loge aus hatte er innerlich dem Sieg der Romantik über die Schwärze der Apathie und Teilnahmslosigkeit applaudiert. An einem undenkbaren Ort zu einer undenkbaren Zeit hatte ein betrunkener Casanova der Rationalität und Stumpfsinnigkeit der Welt, schwankend den Krieg erklärt. Taumelnd hatte er sich einer debil grinsenden Ophelia genähert, ihr tief in die vom Alkohol glasigen Augen geschaut, ihr samten rotes Haar beiseite gestrichen und unbekannte Worte gegen den Bass und die Logik angeflüstert. Es folgte ein langer Blick. Verständnislos, abschätzig, verächtlich und schließlich hingebungsvoll. Ein Kuss und die alternativlose Flucht. Für einen Moment hatte Peter überlegt, ob er seinem Freund folgen sollte, doch in den Augen der Ophelia meinte er durch den Rauch seiner Zigarette den ersten Hauch des Wahnsinns zu erkennen und instinktiv hatte er gefühlt, dass diese Bühne keiner weiteren Mimen bedurfte und jede Unachtsamkeit den zarten Keim der Tollheit zerstören konnte, der in diesem Moment und in diesem Dorf zu keimen begann. Peter hatte stumm vor sich hingekichert und sich triumphierend ein weiteres Bier und einen weiteren Kurzen bestellt. Tief hatte er den Rauch seiner Zigarette eingesogen und ihn schließlich, als sich langsam verblassende Ringe in Richtung Paradies geblasen. Eine ganze Weile hatte er schweigend da gesessen und glücklich die letzten Züge seiner Zigarette und die letzten Züge der Nacht genossen. Dann war er aufgestanden, hatte sich geräuspert und sich schweigend einen Weg durch die tanzenden Menschen und in die Mitte des Raumes gekämpft. Unterschwellig lallend aber mit der Zeit immer sicherer werdend, hatte er begonnen zu sprechen:

„Die Pest tritt in die niedren Türen ein.
Vorm Kruzifix zergeißelt sich das Fleisch,
Blut netzt des neuen Gottes bleichen Fuß.

Kehr wieder, Gott. Kehr wieder aus dem Reich
Des grünen Waldes. Denn erfüllt ist nun
Des neuen Gottes kummervolles Reich.

Sie passen in die Königskleider nicht,
Die Zwerge, die wie kleine Affen hocken
Im Götterpurpur auf der Blitze Thron.

Kehr wieder Gott, dem Pentheus einst erlag.
Du Gott der Feste und der Jugendzeit.
Kehr wieder aus des Waldes grünem Reich.

Kehr wieder, Gott. Erlösung, rufen wir.
Erlöse uns vom Kreuz und Marterpfahl.
Tritt aus dem Walde. Finde uns bereit.

Wir wolln dir wieder Tempel bauen, Herr.
Wir wollen Feuer an die Kirchen legen,
Vergessen sei des Lebens ‚Traurigkeit.

Wir flehn zu dir in mancher stillen Nacht.
Wir sehen hoffend zu den Sternen auf.
Tritt aus den Sternen. Hör das Rufen, Herr.

Georg Heym“

Die Musik hatte einige Passagen übertönt und doch hatte sich die Menge schließlich zu ihm gedreht und ihn fassungslos angeschaut. Viele der ihn Umstehenden hatten nur ein monotones Rauschen in den Ohren, dass die Musik mit Peters vor Anspannung zitternder Stimme verschmelzen ließ. Und auch wenn niemand seine Worte verstanden hatte oder verstehen wollte, so war sich Peter doch der Bedeutung seiner Rede bewusst gewesen. Es war der Epilog einer langen Nacht.

Nachdem er sich verbeugte hatte, war er langsam und mit erhobenen Armen zu seinem Barhocker gegangen und hatte in genussvollen Zügen sein Bier geleert. Die Musik war verstummt und der Raum hatte ihn, wie ein tiefer Schlund schwarz und leer und verängstigend angestarrt. Für einen Moment hatte er die Augen geschlossen und die Stille genossen. Als er sie nach kurzer Zeit wieder geöffnet hatte, waren die Türsteher zusammengekommen, hatten sich versammelt um dem Wahnsinnigen zu überwältigen. Doch sie waren unschlüssig. Und so hatten sich plötzlich drei wütend blickende Jungen vor ihm aufgerichtet. Ihre Gesichter waren von Wut und Angst verzerrt und Peter hatte einen Moment lang nicht gewusst, ob sie ihn anlachten. Einer der drei hatte ihn angerempelt und ihm gegen die Schulter geschlagen.

„Du bist doch der Penner, der mit diesem dummen Wichser hier war, der meine Freundin angebaggert hat. Ihr Arschlöcher. Und dann so ne beschissene Aktion hier. Ihr Dreckstypen. Du fetter Wichser. Bis du Terrorist? Ich mach dich fertig du Wichser!“

Peter hatte ihn aus müden Augen angeschaut und seine Flüche ignoriert. Dann hatte er ruhig gesagt: „Mein junger Freund. Der Wahnsinn naht. Schau in die Augen deiner Freundin und du weißt, dass sie verloren ist. Wenn die schwitzenden Affen in deiner Badewanne sitzen, wirst du alles begreifen.“

Dann hatte er ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen, und war losgelaufen, auf der Flucht und auf der Suche nach seinem heroischen Freund.

VII

Mo las den Brief bereits zum dritten Mal. Er war vom Arbeitsamt.

“Sehr geehrter Herr Kieslowski,

da Sie zum wiederholten Mal Ihrer Meldepflicht beim Jobcenter nicht nachgekommen sind, sehen wir uns gezwungen, Ihr Arbeitslosengeld II mit sofortiger Wirkung um weitere 30% des Regelsatzes zu reduzieren.

Wir machen Sie weiterhin darauf aufmerksam, dass bei einem weiteren Verstoß gegen die Meldepflicht Ihr Anspruch auf Sozialhilfe komplett entfällt. Wir fragen Sie: Ja, wollen Sie das etwa?

Bitte beachten Sie zum Thema Meldepflicht folgende Vorschriften:

– Sämtliche Tätigkeiten, die einen monetären Vorteil für Sie nach sich ziehen, haben Sie umgehend dem zuständigen Jobcenter mitzuteilen und detailliert aufzuzeigen.

– Ohne Moos nichts los! Für Sie bedeutet das: Sie gehen nicht über Los und bekommen daher auch kein Moos.

– Sollten Sie unerwartet Stuhlgang antizipieren, haben Sie auch dies unverzüglich dem Jobcenter mitzuteilen. Kleinere Geschäfte können mit einer Vorschussfrist von 15 Minuten, größere Geschäfte mit einer Frist von 30 Minuten angemeldet werden, um Ihre ständige Erreichbarkeit zu gewährleisten. Eine Nachmeldung ist nur möglich, wenn Sie Ihrem Jobcenter binnen 12 Stunden eine entsprechende Stuhlprobe zukommen lassen, aus der eine offensichtliche Dringlichkeit Ihres keramischen Anliegens hervorgeht.

Bei Missachtung eines oder mehrerer der oben genannten Punkte werden, wie bereits erwähnt, Ihre Sozialleistungen gestrichen. Wir fragen Sie daher nochmal: Wollen Sie das?

Mit freundlichen Grüßen

“…deine Mudda!”, stieß Mo keifend aus, sich ungläubig die Augen reibend. Was für ein beschissener Morgen, dachte er und konnte in Gedanken einige Paragrafen des Briefes überhaupt nicht fassen, geschweige denn verarbeiten. “Wollen Sie das?”, äffte er in spöttischem Ton den Wortlaut des Textes nach. “Ja, klar will ich das, du dumme Fotze. Boah ey, und scheiß kalt in der Butze hier.”

Er goss heißes Wasser in eine Tasse mit löslichem Kaffee und schlurfte zum Wohnzimmer. Ungelenk ließ er sich in seinen Fernsehsessel fallen und verkippte etwas Kaffee über seinen Pullover. “Heiß, verdammte Scheiße!”, grummelte er und schaltete den Fernseher ein.

“Wie sieht die Welt in hundert Jahren aus?”, sagte ein Sprecher. “Wir haben mit versch…” Mo schaltete wieder ab. “Wie die Zukunft aussieht, willst du wissen? Das kann ich dir sagen.“ Und er begann, das längste Selbstgespräch seines Lebens zu führen:

„Wenn die Atombomben fallen, wird nichts übrig bleiben. Nichts, außer Kakerlaken und Tauben. Und die Tauben werden so groß werden wie eine Boing 737 und die Kakerlaken so groß wie Leopard-II-Panzer. Und die Tauben werden auf die Erde scheißen. Enorme Batzen, ätzend wie Säure und beim Aufprall so erschütternd wie Erdbeben. Und die Kakerlaken werden sich unter ihren pechschwarzen Panzern verkriechen, perfekt getarnt auf verbranntem Boden. Und sie werden in Scharen über die Taube herfallen, die es wagt, am Boden nach einer einzelnen Kakerlake zu picken. Bis zur absoluten Vernichtung allen Lebens auf der Oberfläche des Planeten Erde wird dieser Kampf geführt werden. Und danach wird sich der Planet ein paar hunderttausend Jahre Verschnaufpause gönnen. Und dann werden wieder hässliche Plattfüßer aus dem Wasser steigen. Und dann werden wieder Affen auf Bäume klettern. Und dann werden Affen wieder vom Baum steigen. Und dann werden sich die abgestiegenen Affen wieder Anzüge anziehen und geschwollenen Scheißdreck labern. Und dann haben wir wieder den Salat.“

VI

Ein feiner Nebel zog über die Landschaft. Das Pochen und die gedämpfte Musik waren hier nicht mehr zu hören. Es war kalt und Sven beobachtete seinen Atem wie er weiß und schwerelos zum Himmel stieg. Die Geister der Nacht auf dem Weg ins Paradies. Oder in die Hölle, wenn oben unten ist. Überhaupt, dachte Sven, wenn eine Seele tatsächlich 23 Gramm wiegt, würde sie dann nicht nach unten fallen. Denn 23 Gramm sind 23 Gramm und 23 Gramm steigen nicht einfach so nach oben, es sei denn sie würden nach oben gezogen. Und wer gezogen wird, der geht nicht freiwillig. Und das eine Seele etwas wiegen muss, schien Sven gewiss. Schwer wiegt ein Leben auf der Seele, überlegte er und schwer fällt sie ins Paradies. Er lief mittlerweile wieder langsam in eine unbestimmte Richtung. Nachdem er für einen Moment stehengeblieben war, um sich auszuruhen und zu orientieren, meinte er, hinter sich noch immer die wütenden Rufe der bloßgestellten und um eine bedeutungslose Nacht betrogenen Männer zu vernehmen. Der Alkohol, der Rauch und der Rausch hatten seine emotionale Empfänglichkeit zum Vorschein gebracht und so wusste er selbst nicht ob er verängstigt, glücklich oder wütend war. Eine Vielzahl von Gefühlen drangen auf ihn ein, die sonst erfolgreich von einer kühlen Rationalität und beruhigenden Monotonie begraben waren. Am Horizont erschienen die ersten Strahlen der Sonne, die durch den Nebel gebrochen wurden und so, undeutlich und verschwommen auf dem bis dahin dunklen Grund der unbewegten Landschaft hervortraten.

Nach einer Weile erreichte Sven einen Hügel von dem aus er die Landschaft bis zum Horizont überblicken konnte. Die Welt schien zweigeteilt. Knapp über dem Boden zog der Nebel unbestimmt durch die Dörfer und über die Felder. Das Licht, von Wassertropfen und Staub tausendfach gebrochen, schien in den Wolken wie gefangen. Gischt die über meine Heimat zieht, dachte Sven und richtete seinen Blick weiter nach oben, wo die Sonne mittlerweile deutlich hervortrat und alles was über dem Nebel lag in ein orangefarbenes Licht hüllte. Sie steigt, dachte Sven. Sie steigt, bis sie wieder sinkt. Irgendwo im Wald zu seiner rechten stieß ein Vogel einen seltsamen Ruf aus und Sven wünschte sich seinen Namen zu kennen. Immer noch sah er auf die Welt zu seinen Füßen, wo der Nebel nun immer deutlicher von einem gelben Schein eingehüllt wurde. Ein alter Hahn stieß einen kraftlosen Schrei aus, das Läuten der Kirchenglocken. Spuren der Zivilisation. Sven spürte eine stille Euphorie, die schließlich von einer tiefen Ruhe abgelöst wurde. Er dachte daran, dass diese Landschaft und die ganze Welt eines Tages wieder menschenleer sein würden. Die Menschheit wäre vergangen doch die Erde würde immer noch existieren. Die weit entfernten Berge, die gebrochen und zerklüftet den Rand seines Gesichtsfeldes markierten, die nur von vereinzelten Lichtstrahlen beschienen Täler und der morgendliche Geruch des Taus auf den von Betrunkenen zertrampelten und von Autos platt gefahrenen Wiesen, überzeugten ihn von der eigenen Bedeutungslosigkeit und vielmehr noch von der befriedigenden Bedeutungslosigkeit der Menschheit. Irgendwann wird alles vergangen sein, dachte Sven, und unser Leben besitzt kein Gewicht.

Sven erinnerte sich an Peters Worte und seinen Plan und dachte, dass er vielleicht niemanden aus der Abwärtsspirale befreien aber doch der Menschheit ein Beispiel geben könnte. Aber wofür, überlegte Sven. Beispiel für den Untergang? Er wusste es nicht und wollte die Minuten der Erkenntnis und Erlösung nicht durch ernüchternde Gedanken vertreiben. Er setzte sich auf den Boden und lehnte sich an einen alten Baum, dessen einer Ast, vom Blitz getroffen zu Boden hing. Es fiel ihm schwer den Blick von der Landschaft abzuwenden, doch schließlich zog er seine Jacke enger und erinnerte sich an den Brief vom Arbeitsamt. Erregt durchwühlte er seine Jacken- und Hosentaschen, doch fand nichts außer einer handvoll Kronkorken und einer fast leeren Zigarettenschachtel. Er sprang auf, entdeckte sein Handy und seine Haustürschlüssel, warf sie abschätzig zu Boden und lief auf der Suche nach dem Brief zweimal ziellos um den Baum. Ohne etwas zu finden, setzte er seinen Lauf fort, übersah eine Wurzel und fiel unsanft zu Boden. Mühsam wälzte er sich auf den Rücken, blickte in den Himmel und lachte. Erst jetzt merkte er wie müde er war und begann sich zu fragen, was mit Peter geschehen war. Für einen Moment schloss er die Augen. Was wird wohl morgen noch von heute übrig bleiben, dachte Sven. Kurz darauf schlief er ein.

V

“Guck mal da!”, riss Peter seinen Freund unsanft aus dessen Tanzbestreben. “Da ist ne Rothaarige.” Benommen blickte Sven umher und versuchte, Peters schwankenden Finger zu fokussieren, der auf die gegenüberliegende Seite der U-förmigen Bar zeigte. Dort nahm gerade eine Frau mit roten Haaren Platz. “Das ist die nich’.”, sagte Sven enttäuscht. Und so setzten sich die beiden wieder und bestellten eine neue Runde.

“Weißt du, was mir beim Tanzen bewusst wurde?”, fragte Sven nach einer Weile, die Frau gegenüber beobachtend.
“Nö.”, erwiderte Peter angeödet schnaufend.
“Dass in vielen Werken der Weltliteratur immer wieder Französisch gesprochen wird.”
Leicht verwirrt fragte Peter: “In französischen Werken oder wie?”
“Nein, allgemein. Zum Beispiel im ‘Zauberberg’ oder ‘Krieg und Frieden’.”
“Aha!”
“Ja, meistens im Dialog mit Frauen. Als ob Französisch der totale Antörner wäre, der die Frauen rallig macht, also auf so ‘ner emotionalen Ebene trifft.”
“Oho!”
“Wenn ich’s mir recht überlege, sollte ich das vielleicht auch mal ausprobieren. Ich hab doch ziemlich lange Französisch in der Schule gehabt und trau’ mir das zu.”
Mittlerweile hatte sich ein junger Mann zu der Frau gesellt, der angeregt auf sie einredete.
“Soso!”, sagte Peter nach einem kurzen Moment der Stille. “Was traust du dir zu? Die Alte auf Französisch anzulabern? Alter, ich halt’s nicht mehr aus mit dir. Du bist hier in ‘ner schäbigen Dorfdisse. Der einzige, der hier vielleicht noch Französisch kann, ist die Schwuchtel von Barkeeper. Von hinten, versteht sich.”

Doch Sven schenkte den Worten seines Freundes kein Gehör. Wie in Trance glitt er von seinem Hocker herüber an die andere Seite der Bar und näherte sich dem Duo. Noch bevor sie ihn bemerkten, sprach er den einzigen französischen Satz, den er sich im Voraus zurechtgelegt hatte: “Ce mec-là, il ne veut que baiser!”
Verdutzt sah man ihn an. Nach vielen unangenehmen Sekunden des Schweigens vernahm er ein gehauchtes ‘Wie bitte?’ von der rothaarigen Schönheit, die ihm Bann seines starren Blickes stand.
“Der Typ will nur ficken, hab ich gesagt! Das sieht man dem doch an.
Erneutes Schweigen umhüllte die Gruppe. Zu seiner Überraschung musste Sven feststellen, dass der Typ sich räuspernd davonmachte. Er setzte nach: “Mademoiselle, vous êtes tellement belle, avec vos cheveux rouges et votre visage si joli, je me tombait amoureux de vous.
Fasziniert und gleichermaßen geschmeichelt sah sie ihn an. Verstand sie ihn etwa? Sie antwortete nicht.
“Excusez-moi mon effort audacieux pour il est trop précipité, mais je dois vous rencontrer bientôt.” Aus dem Augenwinkel sah Sven den Kerl von vorhin, der sich mit seinen halbstarken Freunden auf den Weg nach ihm machte. Instinktiv spürte er, dass sie ihm an den Kragen wollten. “Ma chère, malheureusement je dois sortir cet établissement et j`espère profondément qu’on se voit à nouveau.” Er küsste ihre Hand und zwinkerte ihr zu. Sie lächelte verlegen.

Ich laufe, also bin ich. Sven nahm beide Beine in die Hand und lief in die Nacht hinaus. Als er wieder zum Stehen kam, graute bereits der Morgen.

IV

„Was meinst du eigentlich damit: „Vielleicht sollte ich ihn suchen?“, sagte Peter lachend. „Und wenn du ihn findest, machst du was? Nett fragen, ob du ihn schlagen darfst, oder ob er dir noch eine reinhaut? Für Schlägereien sind wir doch gar nicht die Typen. Stell dir doch mal vor, wie das aussehen würde, wenn wir zum Schlag ausholen. Bestenfalls würden wir günstig stolpern, dem Gegenangriff so ausweichen und uns den Schädel beim ungebremsten Fall gegen die Wand nur anbrechen. Vielleicht hätte die Menge dann ein Einsehen und würde sich angeekelt oder gar belustigt abwenden.“

„Oder sie treten mich blutig und pissen mich an.“, sagte Sven verbittert. Der Schlag hatte ihn nicht allzu hart getroffen und die Wange schmerzte nur unmerklich, doch irgendetwas war ihm bewusst geworden, als er auf dem Toilettenboden aufschlug und für einige Minuten mehr resigniert als gekränkt liegen geblieben war. Es war offensichtlich und unbenennbar und stand entweder direkt mit seinem Leben oder dem Leben an sich in Verbindung. Sven wusste es nicht und wollte nicht darüber reden. Lose Fäden wurden von seinem Verstand nach allen Seiten ausgeworfen und auch wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Schöpfung ein Ziel hatten, fielen sie jetzt bedeutungslos und umso schwerer zu Boden. Sven kniff die Augen zusammen und hoffte, dass durch die verengte Perspektive alles Unnütze an seinen Augenlidern abprallen möge und nur die Erkenntnis bliebe und seinen Verstand erreiche. Sven sah sich als fadenlose Marionette, die das Laufen gelernt hat aber nicht sehen kann.

„Nana, jetzt mal nicht so pessimistisch!“, warf Peter gut gelaunt ein. „Und warum guckst du eigentlich so bescheuert? Sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?“

Sven saß mit zusammengekniffenen Augen neben Peter. Ein rotes Licht ruhte auf seinem Gesicht, seine Arme bewegten sich ruckartig und ungelenkig. Die Musik war für einen Moment verstummt, doch Sven vollzog weiter mit größtem Ernst einen stummen Tanz. Wie einer dieser japanischen Roboterhunde, musste Peter unwillkürlich denken. Oder ein Schamane. Entweder er hat jetzt etwas Wichtiges erkannt oder er erkennt gar nichts mehr. Unterwerfung oder Erlösung. In ersterem Fall würde ich ihn angewidert streicheln, überlegte Peter. In zweitem, in den Tanz einstimmen. Plötzlich fielen Peter ein Gemälde und die Zeilen eines Gedichtes ein. Auf dem Bild waren in abwechselnder Reihenfolge Menschen und Skelette zu sehen, die sich an den Armen und Händen hielten und vor einer idyllischen mittelalterlichen Landschaft einen bewegungslosen Tanz vollführten. Betrachtet man das Bild von links nach rechts, sind die Bewegungen auch irgendwie abgehackt, dachte Peter. Ein gemalter Film. Ist das Svens Totentanz? Peter wusste es nicht und als Sven sein Bier für eine ganze Zeitlang nicht anrührte und nur immer weiter tanzte, begann Peter schließlich auch zuckend auf seinem Barhocker zu tanzen.

Das Leben ist wie die Lampe, die auch schon anfängt auszubrennen, wenn sie angezündet wird! So alt wie jeder von euch ist, so viele Jahre habe ich schon mit euch getanzt. Jeder hat seine eigenen Touren, und der eine hält den Tanz länger aus als der andere. Aber die Lichter verlöschen zur Morgenstunde, und dann sinkt ihr alle müde in meine Arme.“

Das Klassenzimmer ist still. Niemand traut sich zu lachen, doch in den Augen der Kinder und Erwachsenen glitzert der Spott. Genüsslich und verächtlich. Direkt neben Mo steht Karl als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener, als Greis. Als Mo ihn für längere Zeit ansieht, erkennt er, das es eigentlich sein eigenes Gesicht ist, in das er da blickt. Mo als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener, als Greis. Das Gesicht jedoch ist immer das Gleiche. Jeden Tag blickt es ihn mitleidig aus dem Spiegel an. Mo schaut in seine eigenen Gesichter und in seinen Augen glitzert der Spott. Genüsslich und verächtlich. Er steht im Klassenzimmer, der Boden unter seinen Füßen ist nass. Seine Mutter hält einen Zeigestock in der Hand, an dessen Spitze ein Licht erscheint, das Mo anstrahlt. Sie geht auf Mo zu und das Licht wird immer heller und blendender und ist gelb und blau und rot und hüllt schließlich seinen ganzen Körper ein, der pulsiert und aus dem eine blendende Flüssigkeit läuft. Mo versucht vor sich selbst zu entkommen, doch schließlich ist da nur noch blendendes rotes Licht.

Als er schließlich erwachte saß Mo noch immer auf der Toilette. Der Boden vor dem Klo war nass und fluchend machte er sich daran seine Pisse aufzuwischen. Der Raum stank und er war müde, seine Beine schmerzten. Schließlich schleppte er sich deprimiert in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Vor ihm auf dem Tisch lag der Brief. „Was solls?“ dachte sich Mo und öffnete den Umschlag.

 

III

Mo schreckte aus seinem Schlaf auf. Seine gesamte linke Seite zuckte, aber er war innerlich gefasst. Er hatte einen seltsamen Traum und versuchte sich zu erinnern:
Es war am Ende seiner Schulzeit. Er stand kurz vor den Prüfungen für sein Fachabitur und feierte mit seinen Mitschülern den letzten Schultag. Alle waren ausgelassen, fröhlich und voller Tatendrang. Nur Mo fühlte sich an diesem Tag unwohl, es war, als stünde er vor einem Abgrund; in ihm herrschte tiefe Leere.
“Was ist los, Mo?”, fragte sein bester Freund Karl. “Du bist so still. Lass ordentlich Party machen heute.” Mo schluckte laut hörbar und ging zu den anderen.
Dann Szenenwechsel:
Ein paar Jahre zuvor im Klassenzimmer, gefühlte Zukunft, die Lehrerin war seine Mutter, die Klasse ein Wirrwarr aus tatsächlichen Mitschülern und undefinierbaren Personen, die irgendwann, irgendwo Einzug in sein Leben hielten. “So, wer kann mir sagen…”, sprach die Lehrerin, also seine Mutter, “…was Leben ist?” Alle Hände schnellten hoch, außer Mos, der eingeschüchtert die Hand leicht anhob, um nicht aufzufallen. “Ja, Moritz?” Mo räusperte sich und kalter Schweiß breitete sich auf seiner Stirn aus. Gelächter.
Szenenwechsel:
Ein verschmolzenes Raum-Zeit-Geflecht schulbezogener Personen und Klassenzimmer. Alle scheinen das gleiche Buch zu lesen. Mo sucht in seinem Rucksack nach dem Buch, kann es aber nicht finden. Vorsichtig wendet er sich zu der Person am Nebentisch, in der er Karl zu identifizieren glaubt und flüstert: “Hey, was liest du da?” Eine Reaktion bleibt aus.

Da war es wieder, dachte Mo, als sein Erinnerungsvermögen abbrach und sich seine Gedanken im Strudel wiederkehrender Eindrücke verloren. Das Gefühl, dass irgendwas vor ihm verwahrt blieb, sein Leben lang, was allen anderen anvertraut war, so eine Art Buch des Lebens, ein Regelwerk zur Anleitung für das Leben, woran sich alle halten, wie selbstverständlich, ohne Rückfragen, ganz einfach, weil es einem von Kindheit an beratschlagend zur Seite steht, quasi wie Muttermilch aufgesaugt wird, fast ein Naturprinzip in Buchform, ein Gott auf Papier.
Hatte Gott ihn vergessen? Oder gar verbannt? Warum waren die anderen so zielstrebig und lebensbejahend, während bei ihm immer mehr Zweifel aufkamen? War er nur ein erbarmungswürdiger Pessimist oder ein notorischer Schwarzmaler, der nach Ausreden für sein eigenes Unvermögen suchte? Welches Unvermögen eigentlich? Er war doch hier, zwischen all den anderen, kurz vor seinem Schulabschluss, eine Ausbildung vor Augen, seinen bisher kaum von der Norm abweichenden Weg in der Gesellschaft absolviert. Doch wer bestimmt eigentlich diese Norm?

Mo raffte sich vom Bett hoch und ging ins Badezimmer, wo ein heftiger Schmerz sein rechtes Bein durchfuhr. Nicht auch noch das rechte, dachte er und setzte sich unüblicherweise beim Pinkeln hin.

„Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“, versuchte Peter Sven zu ermuntern, der leicht benommen wieder auf dem Barhocker Platz nahm. “Hast du echt nichts gesehen?”, fragte Sven. Peter schüttelte den Kopf.
“Und der hat dich einfach so…, aus heiterem Himmel?”
“Ja, voll auf die Mütze, hab’s nicht kommen sehen und auf einmal lag ich da, mitten auf dem Kloflur.” Sven deutete auf seine rechte Wange, die ziemlich gerötet war.
“Heftig! Und ich Volltrottel hab’s nicht bemerkt. ‘Ne richtige Schlägerei!”
“Keine Schlägerei. Eine Faust von der Seite, ohne Ankündigung. Das ist Betrug, feige und hinterhältig.”
“Darauf zwei Kurze! Warte, ich bestell’ eben.”
“Alter, ich find das grad nicht so witzig. Vielleicht sollte ich den Wichser suchen…”
“Oder die Wichserin.”, ergänzte Peter höhnisch grinsend. “Vielleicht war es ja die geheimnisvolle Rothaarige…”
Sven seufzte. “Verdammte Scheiße, warum passiert das ausgerechnet mir? Ich bin wahrlich nicht der Typ für sowas.”
“Kopf hoch, Großer!”, sagte Peter plötzlich ernst und Sven überlegte angestrengt, wann Peter ihn jemals ‘Großer’ genannt hat.
“Nich’ lang schnacken, Kopp in Nacken!”, willigte Sven schließlich erschöpft ein und ergab sich damit seinem Schicksal.

II

„Nana!“, brachte Peter schließlich mühsam hervor, während er sich er sich keuchend vom Boden hochkämpfte. „Nana!“ wiederholte er und hätte fast vergessen, den Satz fortzuführen. „Nana! Jetzt mal nicht so aufgeregt! Rote Haare, roter Himmel, Hauptsache die Affen frieren nicht.“ Sven, dessen Verstand sich durch die frische Luft langsam lichtete, sah Peter missmutig an. „Das bringt uns jetzt auch nicht weiter. Verstehst du überhaupt irgendetwas von dem, was ich gerade gesagt habe.“ Langsam schüttelte Peter den Kopf und verrieb das Gras auf seiner hellen Jeans. „Natürlich, verstehe ich das. Aber das ist doch albern, meinst du nicht? Erst betrinken wir uns weil du verwirrt bist wegen des Beischlafs mit einer roten Arbeitsamtuschi die es gar nicht gibt und dann treffen wir sie hier in der Dorfdisco? Mit so nen Klischees hab ich es nicht so. Und was meinst du eigentlich wer diese Geschichte erzählt? Bezichtigst du Mo offen der Trivialität?“

Sven seufzte und schaute unsicher zu dem blauen Neonlicht, das die vor der Tür stehenden Gestalten einhüllte. Rote Haaren waren hier blau, die Gesichter blickten kalt und geheimnisvoll durch den Rauch der Zigaretten. Hin und wieder schwangen seltsame Geräusche durch die Nacht. Abgehackte Rufe, ein wildes Röhren, totalitäre Semantik der Tonalität. Peter kicherte und als sich Sven zu ihm umdrehte, glaubte er auf Peters Lippen seine eigenen Worte zu lesen. Totalitäre Semantik der Tonalität. „Ach Sven, nun guck nicht so schockiert. Wird schon. Du solltest wieder mehr schreiben. Oder mehr schlafen. Oder mehr trinken. Oder irgendwas. Lass uns mal hier reingehen, vielleicht finden wir ja wen mit grünen Haaren. Manchmal glaube ich, dass es besser für dich wäre, wenn wir mehr soziale Kompetenz hätten.“

„Soziale Kompetenz?“ wiederholte Sven fragend „Eigentlich mag ich Menschen nicht so sehr…“

An der Tür angelangt warf der Türsteher einen langen Blick auf Peters Hose und musterte die beiden skeptisch, winkte sie schließlich aber mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung hinein. Dreckig und angetrunken aber harmlos, die bestzahlende Kundschaft. „So, Bier?“, versuchte Peter gegen die Musik anzukämpfen und ging schließlich zielstrebig zur Bar. Erleichtert ließen die beiden sich auf die letzten freien Hocker sinken und leerten ihr erstes Bier und den Vodka-E und bestellten schnell eine zweite Runde. Die Musik war laut und bewahrte vor unnötigen Gesprächen. Unsinnige Popmusik und unsinnige Menschen, die sich unsinnig bewegten. Das Licht flackerte und Peter und Sven genossen es gedankenlos auf die Tanzfläche zu starren und wortlos zu trinken und zu rauchen. Vielleicht sollte man das öfter machen, dachte Sven insgeheim und war froh, dass er nicht allein war und dass sich die Lichter langsam zu drehen begannen und er endlich laut über die unfreiwillige Komik der Tänzer lachen konnte. Doch am meisten amüsierte ihn der unbedingte Wille zum Spaß. Vor ihm bildete sich eine eintönige Traube von Teilzeithedonisten, die ihren Tanz auf Grund der Kürze der ihnen gegebenen Ekstase mit größtem Ernst verfolgten. Lachend bestellte sich Sven ein neues Bier und sagt zu Peter: „Ich geh mal tanzen.“ Mit schwingenden Armen und wild wirbelndem Kopf sprang Sven in die Menschenmenge, verkippte die Hälfte seines Bieres und hoffte laut lachend, dass Mo ein Einsehen hätte und irgendetwas passierte.

I

Im Taxi herrschte weitgehend Stille. Nur Sven unterbrach diese hin und wieder mit harmlosen Floskeln, die sich dem Berufsstand des Taxifahrers widmeten. Beide waren zwar betrunken, wahrten aber anstandshalber den nicht festgeschriebenen Kodex, dem Taxifahrer nicht mit dümmlichen Fragen das Leben unnötig schwer zu machen. Überhaupt wirkten sie sehr gefasst und auch ernst. Im Nachbarort gab es eine Disco, der Fahrer hatte schon vermutet, wo es hingehen sollte.

Es war Freitagabend und die Chance, dass etwas Partyähnliches stattfinden könnte, bei der vorwiegend jüngere Leute, sich auf der Tanzfläche bewegend, statt an der Bar klebend, vorzufinden seien, die sichtlich Spaß haben und die Atmosphäre mit Leben füllen, war groß und verunsicherte unsere beiden Helden ausnahmsweise mal nicht im Geringsten.

Peter, der aufgrund seines Gewichtskomplexes kaum aus dem Haus zu motivieren war, frohlockte laut furzend auf der Hinterbank des Wagens. Sven war dies sichtlich peinlich und er schrieb in Gedanken den Taxifahrer-Kodex um das Kapitel ‘Furzen’ fort. “Na, na, na!”, rief der Taxifahrer, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. “Wenn ich Blasmusik hören wollte, hätte ich das Radio angemacht.” Peter furzte verächtlich.

Kurz vor Erreichen der Disco stieg in Sven ein starker Drang nach Gerechtigkeit auf, wie so oft in Situationen, in denen er das Gefühl hatte, dass seine Taten von fundamentaler Bedeutung für die Welt wären und ihm bestimmte Berufsgruppen ermöglichen müssten, diese reibungslos umsetzen zu können. Dazu gehörten einfach Freifahrten mit Bahn und Bus und natürlich auch Taxen. Wie soll man schließlich die Welt verändern, wenn man nirgendwo hinkommt oder Zeit fürs Bezahlen verschwendet? Er versuchte es mit dem vieldeutigen Blick, den Peter ihm vor dem letzten Absinth in seiner Wohnung zuwarf, aber der Taxifahrer machte keine Anstalten, diesen zu erwidern. “So, macht dann 15,60 €!” “Bitte.”, sagte Sven in ruhigem Ton, ohne sein Portemonnaie zu zücken. Der Fahrer sah ihn verwirrt an. “Fünfzehn sechzig bekomm’ ich!”, sagte er etwas gereizter. “Bitte heißt das, du Vogel!”, antwortete Sven in aller Ruhe. Peter öffnete indes die Tür und hievte sich aus dem Auto. Dabei knickte er unglücklich mit dem linken Fuß um und rollte einen kleinen Abhang herunter. Sven starrte unentwegt den Taxifahrer an, als wäre es ein Duell, wer als erster blinzelt. “Hier bitte!”, gab Sven schließlich nach. “Vollidiot!”, sagte der Fahrer und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Sven winkte ihm provokant hinterher.

Aus dem Graben ertönte Peters lallende Stimme: “Du hast dich von dem scheiß Taxifahrer ficken lassen, du Schwuchtel!” Er lag kichernd auf dem Rücken. “Ach, halt doch die Fresse, du adipöse Missgeburt!”, rief Sven, nach dem Rechten schauend.

Die Euphorie der Partynacht hätte nicht betrübter sein können, als Sven im Augenwinkel einen fiebrigen Schimmer der Hoffnung wahrnahm. Rotes, wallendes Haar erstrahlte in einer Gruppe Frauen, die soeben den Klub betraten. “Da ist sie.”, stieß Sven leise hervor, während Peter im Kicherrausch die Kontrolle über seinen Schließmuskel endgültig verlor und wild furzend auf der Wiese umherkullerte.

XV

„Grimmig ging der alte Barkeeper zurück zu seinem Tresen und stieß dabei leise, längst vergessene Flüche aus. Das Gesicht zuckte rhythmisch im Takt seines Ganges und im Takt der abscheulichen Musik die den Raum für sich einnahm und die ohnehin belanglosen Gespräche übertönte und schließlich erstickte. Seit vielen Jahren arbeitete Mo nun schon in der schäbigen Dorfkneipe und seit vielen Jahren schon vegetierten seine Träume und Hoffnungen zum Klang der immer gleichen Partyhits. Niemand hier erinnerte sich an seine Vergangenheit oder den Tag an dem er plötzlich, wie aus dem Nichts an diesem Ort aufgetaucht war. Seine Gestalt hatte sich, in der schwülen Hitze eines vergessenen Sommertags manifestiert und existierte seitdem in der unbeschwerten Belanglosigkeit der immer gleichen Tage und Nächte.“

„Zuckend schleppte der alte Mann seinen Körper, der ihm schon lange nicht mehr gehorchte, zum Tresen. Es blieb den meisten, der wenigen Gäste verborgen, doch wirkte sein Gang wie ein unmöglicher, gottloser Tanz. Die Schritte waren lautlos, es schien als schwebe ein heiliger Bettler in göttlichem Wahnsinn, währenddessen der Chor der Engel, lieblich singend „10 nackte Friseusen“ intonierte.“

„Mo wollte sich wieder an die Arbeit machen, doch verharrte er im Anblick des großen Spiegels, der an der Stirnseite der Bar hing und den Raum größer erschienen ließ, als er eigentlich war. Betrunkene Gäste mochten es, ihre eigenen, im Suff verzerrten Gesichter, zu betrachten, an denen sie sahen, wie gut oder schlecht es ihnen morgen gehen würde und an denen sie einschätzen konnten, ob es Sinn machte, auf die nächste Runde zu verzichten und nach Hause zu gehen oder sich doch erst richtig zu betrinken.“

„Mo jedoch sah in diesem Spiegel nicht nur die immer gleichen Gesichter, sondern einen Schimmer von Wahrheit. In ihm zeigte sich ein Bruchstück der Wirklichkeit und in diesem Moment, erkannte Mo sich selbst, jung und voller Träume. Seine erste und zweite Ehe waren noch in unerreichbarer Ferne und ein Gefühl nahender Vollkommenheit breitete sich als physisch greifbares Phänomen im Raum aus. Pulsierende, psychedelische Lichter, blau und grün und rot flackernd, schwebten in der Luft und sanken durch die Schwere ihres Glücks zu Boden. Sie bedeckten Stühle, Bar und Fußboden und auch die Gäste wurden von ihnen eingehüllt.“

„Einen Augenblick lang war alles still, doch schließlich zerbrachen die gefallenen Lichter und ein rot-schwarzer Schein hüllte den Raum in Zwielicht. Flammen schossen aus der Wand und unter mühevollen Qualen krochen die Gäste unter der nun dunklen Decke aus Licht hervor. Ihre Gesichter waren verändert, die Haut rot und nackt und aus ihren Köpfen wuchsen Hörner und aus ihren Rücken Schwänze. Mo jedoch war immer noch in weißes Licht gehüllt und er sah sich, wie er wirklich war, jung und schön, der weiße Barkeeper des Lichts, der für und gegen die Kreaturen der Hölle anschenkt.“

„Im Wissen um eine endgültige, unumstößliche Wahrheit, wandte sich Mo mit einem Seufzer vom Spiegel ab. „Was für Kurze sollen’s denn für euch sein?“, rief er resigniert. „Dein Spezialgetränk mit Stroh 80.“, nuschelten die beiden Teufel friedvoll zurück.“

Sven und Peter hatten Mo mittlerweile völlig aus den Augen verloren und waren gleichermaßen überrascht und erschrocken, ihn nun dabei zu beobachten, wie er Bier- und Schnapsgläser auf ihren Tisch abstellte.

„Hier ihr Knallköpfe. Zwei Bier und zwei Kurze.“, sagte Mo leicht gereizt. „Und jetzt ex und raus. Euer Gelaber kann sich ja keiner anhören. Das ist ja ganz großer Scheiß. Und was redet ihr eigentlich wieder für nen Dreck über mich. Ihr zwei denkt wohl ihr seid ganz toll. Pseudo-Intelektuellen-Scheiß nenn ich das. Seid froh, das ich nicht alles mit angehört habe. Was glaubt ihr eigentlich wer ihr seid?“

„Ach Mo nun hab dich nicht so, wir kennen uns jetzt schon so lange. Ist doch nicht so gemeint.“, versuchte Sven die Situation zu bereinigen.

„Ach Mo“, fügte Peter laut lachend hinzu „wir sind halt freigeistige Künstler und so. Das musst du doch verstehen, auch wenn du es nicht verstehen willst. Was ist das eigentlich für Schnaps?“

„Mein Spezialgetränk. Stroh 80, Kirschsaft und der Rest ist geheim. Eigentlich zünde ich ihn an aber ihr zwei vergesst doch bestimmt das Zeug auszupusten und verbrennt euch. Auf sowas hab ich heute echt keinen Bock mehr. Krankenwagen, vielleicht noch Polizei. Nene lass ma…“

„Also hast du unser Gespräch doch belauscht!“, sagte Peter vorwurfsvoll.

„Belauscht!? Belauscht?! Was soll das denn jetzt wieder. So einen Scheiß belauscht doch keiner freiwillig. Künstler, ja?! Arschkünstler.“

Peter und Sven brachen in lautes Gelächter aus und konnten sich lange Zeit nicht beruhigen „Arschkünstler!?“, riefen sie immer wieder freudig erregt. Mo’s Gesicht und Bein begannen langsam auszuschlagen.

„Na wegen dem Schnaps. Da musst du uns doch belauscht haben.“, erklärte Sven schließlich.

Mo’s Gesicht zuckte immer wilder. Seine Augen waren glasig, wie immer wenn er wütend war. „Wird’s jetzt bald, aus und raus!“

Sven wollte Einspruch erheben, doch Peter hielt ihn zurück und deutete stumm auf ihre Gläser. Schweigend tranken sie erst Schnaps, dann Bier, bezahlten und verließen mit einem prägnanten „Tschüss, dann“ die Kneipe. Auf der Straße schauten sie sich an und begannen laut zu lachen. „Aus und raus!“, rief Sven. „Ich laufe also bin ich!“, antwortete Peter. Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten, sagte Sven schließlich „Na irgendwas sollte man jetzt schon noch machen!“. „Auf jeden Fall.“, stimmte ihm Peter zu „ heute und morgen sind eh verloren, da sollte man die Zeit jetzt schon nutzen!“

Inzwischen hatte Mo die Gläser der beiden abgeräumt. Ihr Lachen und ihre Rufe hatten sich noch eine ganze Weile, mit dem Lärm der Musik vermischt bevor beides letztendlich verklungen war. Mo war allein. Skat-Rentner und der einsame Trinker waren kurz nach Sven und Peter aufgebrochen und so wischte Mo die Tische ab und spülte die von Händen und Lippen fettigen Gläser. Als er mit allem fertig war, streckte er sich und gähnte laut. Er betrachtete sich im Spiegel und sah die unförmigen und tiefen Falten, die grau-blonden Haare und den vom Zigarettenrauch gelben Bart. Keine Lichter und keine Jugend. Keine Teufel und keine Engel. Er schloss die Tür hinter sich und machte sich auf den Heimweg. Die Luft war kalt und nass und roch nach etwas Vergangenem. Langsam hinkte Mo nach Hause und sprach dabei zu sich selbst. „Zwei trunkene Gestalten gingen durch die Nacht. Die Lichter der Straßenlaternen flackerten und in den Schatten verbargen sich Engel und Teufel. Die Zukunft war für die beiden nächtlichen Wanderer ungewiss und unausweichlich. An der nächsten Straßenecke angelangt, bestellten sie sich ein Taxi und fuhren in die Dunkelheit. Die Nacht war noch nicht vorbei und würde Überraschungen bereithalten, an die sie sich am nächsten Tag kaum erinnern könnten. Auch sie würden versuchen das Puzzle aus Wirklichkeit und Phantasie zusammenzusetzen, bis sie schließlich merkten, dass nicht einmal die Puzzleteile existierten.“

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