VI

Und voila, der letzte Strich. Fini. Welch entzückend Meisterwerk. Von Gotteshand geschaffen.“ Begeistert betrachtete Peter die vor ihm sitzende Lydia. Auf dem Boden lagen unzählige Pinsel verschiedener Größen und Formen. Lydia war noch immer nackt, doch auf ihren Körper war mit Blut ein Hochzeitskleid gemalt. „Die Braut geladen zum Tanze, kommt gefahren ihr Prinz, die Liebe zu retten, erscheint der zu erlösende Erlöser.“ Akribisch prüfte Peter sein Werk, umkreiste er die stumme Muse. Plötzlich hielt er in der Bewegung inne, beugte sich über. Ohne aufzusehen, griff er nach einem Pinsel. Und übermalte mit gewagten Schwung eine unbefleckte Partie ihres rechten Schenkel. „Perfektion in einer perfekten Welt, meine liebe Lydia. Schwierige Zeiten erfordern schwierige Maßnahmen oder schwierige Zeiten erfordern einfache Maßnahmen. Wie dem auch sei. Perfektion. Ist hier auch nicht das Ziel. Und doch betrachte das Meisterwerk. In der Ecke steht ein Spiegel.“ Lydia regte sich nicht und als Peter die Erkenntnis traf, schlug er sich in einem Moment erfrischender Klarheit mit der flachen Hand gegen den Kopf. „Aber natürlich.“ Mühsam schleppte Peter den überlebensgroßen Spiegel zu Lydia. Doch deren Blick blieb leer. „Wie erwartet. Berührt von der eigenen Schönheit, geblendet von dem Schein. Das bist du und so wurdest du geschaffen.“ Zur Tür gewandt fuhr Peter fort: „Hermann, Mann, ich sehe dich, du lüsternes Tier, hinfort mit dir. Geh und hol Schulz. Dein Dienst ist verrichtet.“ Dann schließlich ging Peter zu Lydia und legte ihr ein verschlossenes Reagenzglas in die Hand. „Der schöne Schein dieser Welt, gefangen in der Geste der Vergangenheit.“ Aus weiter Entfernung drangen hohle Schläge zu ihnen. „Unser Gast ist eingetroffen.“

Mit vorgehaltener Hand stand Sven vor dem riesigen Portal zu Schulz‘ Anwesen. Getrieben schlug er im Rhythmus des fallenden Schnees auf die Tür ein. Doch eine Antwort blieb aus. „Herrmann, Mann, Schulz, Peter, Zeus, Lydia, aufmachen.“ Die Schreie verklangen in der weißen Nacht, sodass sich Sven gezwungen sah zum Äußersten zu gehen. Zitternd vor Kälte und Erregung hob er die steife Hand und zielte auf das eiserne Schloss. Und drückte ab. Doch der stumme Schuss verhallte wirkungslos in der Schwärze. Sven ließ sich auf den Boden fallen und blickte mit geschlossenen Augen nach oben. Sterne funkelten wie Schnee am Firmament der Lider. Als er eine Weile so dalag und überlegte zu erfrieren, spürte er in seiner Hose etwas Hartes und zog einen verschlossenen Umschlag aus seiner Tasche. Sven erinnerte sich, dass es der Brief war, den er vor einigen Tagen auf dem Arbeitsamt von Volker bekommen hatte. Er öffnete ihn und fand darin einen großen, an Verzierungen reichen Schlüssel. Das Gesicht verzerrt, gepeinigt von hysterischen Lachanfällen öffnete Sven das Tor. Mit Mühe streckte er die Fingerpistole in die Höhe, jederzeit bereit zum finalen Schuss. Doch in den Gängen, durch die er kam und an die er sich nicht erinnerte, waren keine Menschen zu sehen. Auch die Eingangshalle mit ihren monumentalen Perversionen war geleert. Nur manchmal vermeinte Sven Schritte zu vernehmen. Ein Tapsen, ein Klacken, hinter der nächsten Tür, doch die Wege verzweigten sich nur immer weiter, bis er schließlich wieder am Eingang angelangte. Erigierte Wut trieb unseren Helden an und immer weiter, vorwärts wieder tiefer in das Schloss der Phantasie.

Die maskierten Jünger waren dem Gebäude entschwunden und kilometerweit erstreckten sich die verwaisten Korridore. In des Wahnsinns Gefolge sah sich Sven durch die, nur von Kerzenschein erhellte, Dunkelheit getrieben. Dicht auf seinen Fersen, doch stets in sicherer Entfernung, hatte Hermann die Spur gewittert und folgte dem erwünschten Gast durch Schulz‘ Labyrinth. Plötzlich verstummten die Geräusche vor ihm und Hermann versteinerte in seiner Bewegung, um dem Echo des Gemäuers zu lauschen. In diesem Moment bemerkte Hermann seinen Fehler. Hinter ihm kam aus einer schmalen Nische in der Wand Sven hinausgetreten. Die Fingerwaffe in seinen Händen zitterte, doch war sie sicher auf Hermanns nackte Brust gerichtet. Aus Hermann’s Mund drangen klagende und mitleiderregende Geräusche, doch unnachgiebig bog Sven den Finger nach innen. Ein Knall ertönte und getroffen, sank der blutende Körper Hermanns zu Boden. Die Lider zuckten, die Glieder, der ewigen Spannung entledigt, zitterten wild, doch schließlich ermatteten die massiven Muskeln und fielen in einen friedvollen Schlaf. Ehrfürchtig besah Sven seinen Finger, ungläubig zollte er den konzentrischen Kreisen, die seinen Fingerabdruck bildeten, Bewunderung. Hermanns Blut war warm als Sven es betastete. Während er neben dem leblosen Korpus danierder hockte, öffnete sich an der gegenüberliegenden Seite des Ganges eine Tür. Es war Schulz.

Mein Lieber. Mein lieber, lieber Sven. Was hast du nur getan.“ Hastig eilte Schulz auf Sven zu. Das breiteste Lächeln zierte sein Gesicht. „Der arme Hermann, der nie die Erlösung erfahren hat, nach der er immer gestrebt hat. Vor kurzem erst zerstörte er wieder seine monströsen Statuen um einen Neuanfang zu wagen.“

Keinen Schritt weiter.“ Auch Sven lächelte. Wieder hatte er Daumen und Zeigefinger zur Pistole erhoben und zielte damit auf Schulz. Langsam ging er auf ihn zu und hielt ihm seinen Zeigefinger an die Schläfe.

Oh nein.“, in gespieltem Entsetzen riss sich Schulz die Hände vor den Mund. „Die tödlichste Waffe, welche die Menschheit je geschaffen hat, bedroht nun auch mein Leben. Also bist du der Wahrheit auf die Spur gekommen. Solch einfache Weisheit, so abstrakt verpackt. Der arme Hermann-Mann wollte dir doch nur den Weg weisen. Jetzt ist er tot, das arme, perverse Menschenkind. Aber nun komm.“

Lachend und mit weiterhin erhobener Waffe folgte Sven, dem voranschreitenden Schulz bis zu einer unscheinbaren Tür. Sven öffnete sie mit einem Tritt. Dahinter saß auf einem hölzernen Stuhl Lydia. Peter stand begeistert neben ihr und schwang den Pinsel. „Sven, das ist aber schön. Habe ich deine Braut endlich eingefangen. Das wird ein Fest!“

IV

Der Fluss war groß und dunkel und floss über durchsichtigen Grund. Umrisse von transparenten Bergen erhoben sich am Horizont. Zuerst kroch die Kälte ihr unter die nackte Haut, doch je weiter sie schritt, änderte sich die Temperatur und die Farbe des Wassers wechselte von tiefen schwarz, zu einem bläulichen weiß bis es schließlich rot war wie ihr Haar und kochend feurige Blasen warf. Die Stiche in ihrer Brust waren groß und immer noch rann das Blut unbarmherzig an ihren Armgelenken, am Bauch und den Beinen hinab. Sie konnte sich nicht erinnern je gedacht zu haben und zum ersten Mal sah sie ihre Füße, die sie tiefer in diese neue Welt trugen. Es war die einzige und schönste, die sie kannte. Lydia fragte sich, ob die Welt erst jetzt geschaffen wurde, da sie den Dingen Namen gab. In einer unbekannten Sprache, die keine Übersetzung kennt und daher keine Welt ist. Eine sinnlose Welt, die nur für ein Geschöpf existiert und nie wieder belebt wird.

Immer breiter wurde der Fluss, der sich wollüstig mit dem Blut an ihren Armen vereinte und dessen anderes Ende sie nun nicht mehr erblicken konnte. Einige Tage musste sie durch die Weiten dieser neuen Welt geschritten sein, denn regelmäßig veränderte sich die Schattierung, die das Wasser auf den weit entfernten Horizont und die nicht näher kommenden Berge warf. Neugierig beobachtete Lydia alles, was sie sah und gab dem Wasser einen Namen, der nicht Wasser war, den dunklen, in Schatten gehüllten Bäumen, einen Namen der nicht Baum oder Schatten war und allen Gegenständen einen neuen Namen. Lydias Sprache unterschied nicht zwischen den Dingen, kategorisierte und katalogisierte nicht, beschrieb und analysierte nicht und kannte nur ein Wort.

Nach einer langen, langen Reise erblickte sie am Rand des Flusses etwas, das wir als Boot kennen und dem Lydia nach einiger Zeit den gleichen Namen gab, wie den anderen Dingen auch. Als sie sich daran machte, das Boot zu besteigen, trat ein alter Mann an ihre Seite, blickte sie grimmig an und streckte ihr die offene Hand entgegen. Lydia kannte jedoch keinen Ausdruck und keine Gesten und so verstand der Mann und stieß das Boot vom Ufer ab, während er zurückblieb und sich der Sinnlosigkeit des Grußes bewusst, seine Hand zum Abschied hob. Lichter kamen und gingen, die Dunkelheit brach auf dem riesigen Gewässer über sie herein und Sonne und Mond spiegelten sich auf der mal ruhigen, mal tief zerfurchten Oberfläche des nun wieder völlig schwarzen Wassers. Während das rote Blut weiter an ihr herab floss, erreichte das Boot festen Untergrund und mit einem heftigen Ruck fiel sie in das undurchdringbare Wasser. Alles war nun schwarz und das gefiel ihr, denn auch die Dunkelheit macht keine Unterschiede.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf einer großen Wiese, auf der kleine Büsche wuchsen, die an einem langen Stiel rosafarbene Blüten trugen. Ein zartes gelblich goldenes Rinnsal schlängelte sich zwischen den Pflanzen einen sich leicht wölbenden Hügel hinab. Lydia erhob sich und je weiter sie sich der Spitze des Hügels näherte, um so deutlicher wurde, dass dort eine Gestalt stand und in ihre Richtung blickte. Zwei weitere Schemen saßen zu ihren Füßen und hatten Lydia den Rücken zugewandt.

H: Man gut, dass Mo immer noch nichts checkt. Zapft einfach immer weiter, ohne Rücksicht auf Verluste.
D (griesgrämig): Nichts hält für die Ewigkeit.
H: Das wir den Pan verloren haben, ist da halb so schlimm. Verloren im Nirwana. Warum eigentlich?
D (schweigend)
H (sein Glas zu Mo gebend): Dann haben wir wenigstens noch uns. Zwei allein. Oder drei, zumindest.
Lydia zu ihnen tretend, schweigend.
D: Na endlich passiert hier mal was. Name? Alter? Geschlecht, wobei…
H: Na und wenn was passiert, dann passiert es richtig. Hallo Schönheit, nicht so schüchtern.
Lydia schweigend.
D erkennend.
H: Ich zeige dir die Schönheit dieser Welt, zeige dir schwarze Fluten und blaue Nächte, hohe Täler und tiefe Klippen. Mo ein Glas für die blutende Dame.
Mo (mit erhobener Hand in eine unbestimmte Richtung zeigend): Peter.
D. (mit blassem Gesicht): Es ist soweit, es geht zu Ende.

Stille. Nach einer Weile leises Summen, das sich wiederholt. Bald sind die Worte zu erkennen: Und in donnernder Wut, am Felsen zerschellt, von Wasser umspült, zum Mahl verspeist, wurde sein Herz geborgen und neu gestaltet, in Chaos geboren, die Welt zu retten, kann es nur einen geben.

Peter (auf Lydia zu gehend und den Arm um sie legend): Du musst noch einmal mit mir kommen. Bald ist es geschafft.
Lydia ergreift weiterhin schweigend Peters Hand.
Peter (an die anderen gewandt): So ihr Knalltüten, Schluss mit lustig. Oder wer weiß, vielleicht auch nicht. (kichert) Tschüsschen mit Küsschen.
Peter und Lydia gehen schweigend davon.

II

„Nun geh schon Sven, wenn Papa dich ruft“, auffordernd schwenkte Peter die Arme.

„Ach, und meine Kleine habt ihr auch gefunden.“ Die Augen des Priesters glänzten beim Anblick der roten Haare. „Mein süßes Püppchen will uns vielleicht Gesellschaft leisten. Was meinst du Sven? Wie zu guten alten Zeiten als die Liebe noch rein war und ungebunden?“ Erst jetzt bemerkte der Geistliche, das zwischen seinen Füßen hervorquellende Blut. Sein Blick erstarrte und er kniete sich zu der auf dem Boden liegenden Lydia. „Meine Liebste, was hast du? Geht es dir nicht gut? All die Schnitte und Wunden… Wer war es… Wer hat dir dies Leid getan?“ Und aus tränenden Augen erstarrt, wuchs der Hass. „Ihr beide, Teufel, Dämonen, Abschaum mit dem ich mein Bett geteilt. Hinfort aus meinem Haus. Unerhörte Kinder vergangener Jugend, missratene Brut, die sich an der Brust des Teufels nährt.“ Mit letzter Kraft umklammerte der Priester das Kreuz, das an einer Kette um seinen Hals hing. „Verschwindet aus dem Tempel der Barmherzigkeit, aus dem Haus des Einen. Hinfort.“

Das Messer in Svens Hand hatte sich inzwischen von Peter abgewandt und zeigte nun direkt auf den Priester. Svens Lachen hatte das bizarre Schauspiel als Hintergrundrauschen begleitet und erklang jetzt in voller Lautstärke: „Ihr beiden. Du und dein Monster haben mich zu dem gemacht, was ihr jetzt vor euch seht. Alles was ich wollte war ein ruhiges Leben. Unwissend und belästigt, ohne Erfahrung und ohne Sinn. Doch dann taucht deine Dienerin in immer neuen Verkleidungen auf, sucht mich heim, lässt mich zweifeln und führt mich in den Abgrund. Denn dort stehe ich, am Abgrund. Und alles was ich habe, ist die Hoffnung, dass ein Opfer uns retten wird.“ Mit diesen Worten machte sich Sven daran auf den Priester zu zustürzen. Das Messer weit über seinen Kopf erhoben, schlug Peter ihm mit der Faust auf den Hinterkopf. Ein metallenes Klirren auf dem Steinfußboden und der in sich zusammenfallende Körper Svens, der endlich seine vorübergehende Ruhe gefunden hatte.

„Nun gut, Alter, dann gehen wir mal.“ Peter warf sich den ohnmächtigen Sven über die Schulter. Mit einem angedeutetem Nicken in Lydias Richtung sagt er: „Lad mir die mal auf. Die kommt mit.“ Unfähig zu widersprechen, hob der Priester Lydia in die Höhe. „So, na dann mal los. War schön Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Sehr erhellend. Aber diese Beziehung zwischen Ihnen und dieser Rothaarigen. Sehr ungesund, sehr unanständig. Herrmann’s Tocher in solch einem Haus.“

Der Priester umklammerte Peters Beine. „Was ist passiert, was war das? Was tust du mir an, oh Herr? Wessen Worte waren das aus meinem Mund, in welchen Zungen habe ich gesprochen, mir bisher unbekannt? Gewähre mir Erlösung. Nur dieser einzige Wunsch nach Erlösung.“ Die Stimme des Priesters erklang im Haus und durch die offenen Fenster in der Nachbarschaft und es war ungewiss zu welchem Gott er mit geschlossenen Augen betete. „Allmächtiger, ich flehe dich an.“

Kichernd schüttelte Peter den Kopf, schleifte den Priester noch ein Stück hinter sich her und verließ das Haus mit einem munteren „Horido“.

VI

Ach Sven nichts ist so wie es mal war und weiter geht hier schon gar nichts mehr. Das weißt du selbst am besten.“, der Mund des gekreuzigten Peters verzog sich unnatürlich und bei jedem Wort schienen die Bewegungen der Stimme einen Augenblick zu spät zu folgen. „Die einstigen Winter sind vergangen und was jetzt folgt sind trübe Gedanken und eine zerbrochene Welt.“ Die Umrisse des an der Wand hängenden Körpers waren nur undeutlich zu erkennen und schienen sich im Takt der Sekunden zu verändern. Die Holzfigur hatte seine Materialität verloren und der runde Kopf Peters war jetzt kahl rasiert und lachte Sven aus zusammengekniffenen Augen fröhlich an. „Aber was jetzt zerbrochen scheint, hat sich nie verändert und war schon immer verloren. Mo hat das begriffen.“ Stetig verschwamm das Gesicht vor Svens Augen und kaum hatte es eine Gestalt gefunden, zerschmolz es in einer fortdauernden Suche nach seiner finalen Gestalt. Der Efeukranz, der sich auf dem unbehaarten Schädel manifestiert hatte verschwand und die Züge des blassen Antlitz wurden animalischer. In einer fließenden Bewegung wuchs die Nase in den Raum hinein. Unbeteiligt verfolgte Sven das Schauspiel, setzte sich auf den Boden und kicherte leise, während sich der gekreuzigte Ganesha in Lydia verwandelte. Ihre roten Haare fielen auf ihre Schultern. Nackt hing sie vor ihm und lächelte ihn an. Er hatte die Hände auf den Boden gestützt und machte Anstalten aufzustehen, doch nur kurz darauf ließ er sich lachend zu Boden fallen. Hilfesuchend blickte Lydia zu Sven und versuchte sich von den Pflöcken in ihren Handgelenken zu lösen. Blut lief an ihr hinab und bald darauf vermischte es sich mit dem rot ihrer Haare, bis nur noch das Gesicht weiß war.

Sven lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden, hörte von weitem, gedämpft durch sein eigenes Lachen, das leise Wimmern Lydias. Das verklingende Leid, dass hinter der Schwärze von Svens Lidern undeutlich hindurch schimmerte, trug ihn hinüber in eine andere Zeit. Wieder ein Geruch, denn ohne ihn existiert keine Erinnerung. Ein altes Haus. Etwas im Holz. Moder. Und dann auch wieder nicht. Die Unmöglichkeit einer Beschreibung und die Erkenntnis, dass es aus diesem Grund Sinne gibt und nur Menschen die Sprache brauchen, um etwas zu beschreiben, das nur in Gedanken existiert. Ein fortwährender Kampf der Analyse des Gelebten und wie wir es erleben und warum wir leben. Das ewig menschliche Mysterium: Dekonstruktion der Sinne zur missratenen Rekonstruktion der Welt. Und das Scheitern ist unausweichlich. Etwas fehlt oder ist zu viel. Ich analysierte den Moder und er ging dahin und roch Verwesung und wusste nicht, was es war und er war glücklich. „Der Gedanke. Ein gescheiterter Versuch.“, dachte Sven und hoffte zu verstehen, während sich Lydia zuckend vor ihm bewegte und schließlich erstarrte. Er fühlte eine tiefe Müdigkeit in sich aufsteigen und sank wieder auf den Boden. „Es ist Zeit für ein Opfer“, dachte Sven und fragte sich wo er war und was Peter mit ihm machte.

IV

Der Priester saß Peter schweigend gegenüber. Sie hatten sich in einen kleinen Raum des Turmes zurückgezogen. Von Sven unbemerkt war Peter bestimmt und ohne Zögern durch die Gänge geschritten. Der Geistliche hatte sich nicht getraut zu widersprechen und war von der Situation sichtlich berührt und erschrocken. Etwas in ihm hatte ihm gewahrt nicht zu widersprechen, der imposanten Gestalt und dem zügellosen Wesen Peters keinen Widerstand zu leisten. Viele Zweifel hatte er durchlebt, Menschen hatten sich von ihm und seinem Haus abgewandt. Er war der stumme Verwalter eines versinkenden Glaubens, der unter der Last der Moderne und immer neuen Schichten digitaler Relikte erdrückt wurde. Die Mystik und die Hoffnung, die ihn zu seiner Religion getrieben hatten, waren auch ihm immer schneller aus den Händen geglitten. Zwei Zahlen, die Bilder erschufen, auch das Bild des Einen manifestierten, und das Chaos ordneten, die Symmetrien schufen, wo das Paradies in unzählbare Fragmente zerfallen war, hatten ihn innerlich aufgerieben. Nachdem die Leute, seine Schäflein, zuerst zu ihm kamen um Rat zu suchen, später um ihm ihre Fragen anzuvertrauen, zitierten sie nun selbstbewusst die Antworten, der neuen Propheten, die ihre Lehren in den Foren der neuen Welt verkündeten. Mühelos sprangen sie dabei durch die Zeiten, überwanden Zeitalter und Kontinente, verbanden Kulturen und Weltsichten und gelangten dabei zu Einsichten, die so simpel und tiefgreifend waren, dass er immer tiefer in sich versank.

Die Welt ist komplex, dachte er, doch es gibt immer mehr zu tun, also muss die Welt einfacher werden. Wie kann ich etwas einfaches sagen?Er verstand seine eigene Begrenztheit, war frustriert über seine Hilflosigkeit und glücklich über seine Nutzlosigkeit. Und letztendlich, als auch die Alten gestorben waren und die Anderen eingesehen hatten, dass von ihm kein Trost und keine Hilfe zu erwarten war, hatte er sich immer weiter in seinen Turm zurückgezogen. Die Tür war verschlossen. Und doch hatte er seine Berufung nicht aufgegeben. In stummer Resignation hatte er sich seiner Religion ergeben und gehofft, dass all seine Gewissheiten nicht durch die Gewissheiten der vielen Anderen erstickt würden. Und doch kamen die Zweifel, kam das Andere, kam die Sünde und die Zerstreuung. War erst der Turm ein Bild seines einsamen Kampfes, wurde er mehr und mehr zur einer Kammer der Schrecken, die ihn heimsuchten. Die Zeit brach über ihn hinein und ließ ihn jeden Abend zitternd zurück, im Angesicht seiner eigenen Schwäche. Oft hatte der Priester Peter gesehen, wie er starr in sein Fenster blickte und dabei alles zu durchschauen schien. Die Mauern waren eine gläserne Fassade und auch er war nur eine seidene Hülle, die sein unbekannter Nachbar mit jedem Augenaufschlag durchschnitt.

Als der Priester nun die Tür öffnete und Peter erblickte, wusste er, dass der Moment der Büße gekommen war und er sich willenlos dem größeren Willen ergeben würde. Er war glücklich, dass die ziellose Suche beendet war und begriff, dass sein Streben nicht vergebens war. Es gab keine Religion und der Erlöser stand vor ihm.

II

Manchmal war die graue Wand braun, manchmal schön und manchmal trostlos, doch nie hatte Sven sie als etwas zweckmäßiges betrachtet. In seiner Vorstellung war sie vieles gewesen: das einzige Gemälde, dass sich Peter jemals würde leisten können, eine Metapher für sein Leben, dass manchmal bedrohlich bröckelte, doch dessen Fundament auf seine eigene Weise unantastbar war, ein Makrokosmos, den es lohnte bei verschiedensten Tätigkeiten anzustarren und dann wieder zu hinterfragen. Doch als Sven jetzt vor ihr stand, musste er sich eingestehen, dass sie auch und vor allem eine Wand war. Etwas, dass das Außen von dem Innen trennte. Ein Gebrauchsgegenstand, der von ihm, von Sven, rücksichtslos und ohne Reue mit Bedeutung geschwängert worden war, doch der sich nun an diesem wolkenverhangenen Wintertag, die Deutungshoheit über die eigene Sinnhaftigkeit zurückerkämpfte. „Der wird sich aber wundern!“ Peter, der jetzt aus unerfindlichen Gründen eine braune Perücke trug, lausche den nahenden Schritten des Pfarrers voller Vorfreude, doch nach einer Weile verklangen die Geräusche. Ungeduldig hämmerte Peter mit den Fäusten gegen die schwere Holztür. „Herr… Pfarrer. Dies ist ein dringender Notfall.“ Kommen Sie sofort vor die Tür, wir müssen mit Ihnen reden.“ Sven meinte ein tiefes Atmen hinter der Tür zu vernehmen.

„Wer ist da?“ Die Stimme des Pfarrers klang brüchig.
„Herr Pfarrer. Wir wissen was Sie tun und fordern Sie auf uns umgehend Zutritt zu Ihren Gemächern zu gewähren.“
„Wer ist da, was wollen Sie?“
„Wir sind die, die alles wissen und was wir wollen, habe ich Ihnen gerade erklärt.“
„Ich werde jetzt gehen.“, sagte der Pfarrer, der scheinbar keine Anstalten machte zu gehen.
„Herr Pfarrer, es geht um ein Opfer, von dem Sie schon lange wissen, dass es irgendwann gebracht werden muss.“ Sven schaute Peter verängstigt an. Doch Peter lächelte nur und schüttelte den Kopf, was Sven noch mehr irritierte.

Mit einem Ächzen wurde die schwere Tür geöffnet und Peter und Sven standen einer kleinen Gestalt mit kahlem Kopf gegenüber. Verängstigt schaute das Männchen auf den über ihm aufragenden Peter, der den ganzen Türrahmen ausfüllte. Wild und panisch flackerte sein Blick.

„Sind Sie ein guter Christ?“, dröhnte Peters Stimme und bevor der Pfarrer etwas erwidern konnte, wurde seine Stimme sanfter „Seien Sie ehrlich mein Freund. Auch wenn Sie es nicht ahnen, so weiß ich vieles und sehe, was nicht viele sehen.“ Die Stirn des Pfarrers war von Schweiß bedeckt. Erst jetzt bemerkte Sven, den schon vergehenden Geruch von Rauch und Bier, der ihn unwillkürlich an eine fast vergessene Freiheit und kalte Winterabende erinnerte. Die aufsteigende Erinnerung stand im Gegensatz zum Anblick des zitternden Männchens, doch drängten sich die Bilder immer stärker in den Vordergrund. Eine weiße Landschaft, Wiesen und Bäche und Flüsse. Und in dieser weißen Welt zwei Gestalten, die sich mühsam durch den Schnee kämpfen. Stechende Luft und eine Klarheit, die Lungen und Bronchien und Kapillaren zu zerreißen droht. Ein wohltuender Schmerz, eisige Kälte, keine Zukunft und keine Gedanken. Die flehende Stimme des Pfarrers überlagerte die Bilder in Svens Kopf. „Vergib mir Herr, ich war kein guter Christ, denn ich habe gesündigt und ich habe gezweifelt. Ich habe mich von Trugbildern leiten lassen und die flüchtigen Erscheinungen der Welt für deine Offenbarungen gehalten. Die Seele ist groß und die Liebe ist groß, doch dieser Größe zu huldigen, war ich nicht im Stande. Falschen Götzen haben ich gelauscht und falsche Gebete habe ich gesprochen. Der Körper war mir näher als der Geist und heilige Offenbarungen habe ich mit Ekstase verwechselt. Vergib mir.“ Verzweifelt umklammerte der Pfarrer Peters Beine und flehte um Vergebung, bis dieser sich zum ihm beuget, ihm über den Kopf strich und etwas ins Ohr flüsterte. Anschließend warf Peter den Pfarrer über seine Schultern und ging mit ihm die Treppen des Turms hinauf.

VII

Der formlose Boden erzitterte und die transparente Stabilität des Untergrunds löste sich im umgebenden Vakuum auf. Sven sah auf seine Füße und auch wenn die Lichter den Raum unverändert durchbrachen und es keinen Anhaltspunkt für eine Ortsbestimmung gab, wusste er, dass er fiel. Mo‘s apathisches Gesicht, dass auf eine unbestimmt Tiefe gerichtet war, erhellte sich und verschwand in der sich über ihm schließenden Schwärze. Alles war stumm und kein Licht schien in dieser gegenstandslosen Welt.

Mitleidig schaute Peter auf den vor ihm sitzenden Sven. Mit einem zaghaften Lächeln drehte er sich zum Fenster, musterte den Kirchturm und wandte sich wieder Sven zu. „Ey Sven, alles klar mit dir?“
„Peter, ich sehe nichts, alles ist dunkel. Bin ich tot? Wo bist du?“
Das nur zu gut bekannte Kichern drang an Svens Ohren. „Na na, tot ist ein großes Wort und wer weiß schon, was nach dem Leben kommt.“
„Ich erinnere mich nur, dass ich gefallen bin und dann kam das Nichts.“
„Und wie war dieser Fall und was war dieses Nichts?“ fragte Peter jetzt sehr interessiert.
„Schnell und dann langsam und dann schwerelos aber gespürt habe ich nichts.“
„Soso, schnell und langsam, schwerelos und ohne Gefühl, eine leere Welt in Dunkelheit gehüllt, ohne Licht, ohne Menschen und ohne Geräusche.“
„Ja sagte Sven. Alles, was ich höre bist du.“
„Ach Sven. Verkopfte Klischees. Du hörst, was du hören willst, zu hören gedenkst oder hören sollst. Mach dich frei von deinen Zwängen.“ Peter lachte jetzt lauter. „Aber im ernst, mach erst mal die Augen auf.“
Einen Moment noch ergab Sven sich der friedvollen Ruhe, bevor er sich langsam betastete.
„Augen auf, du Schuft! Und keine Fummelei!“
Sven folgte Peters Befehl. Das Licht war grau und abgestanden. Die Kirchturmwand spendete wohltuenden Schatten. Trotz der Eintönigkeit der Farben und Formen, musste Sven sich eingestehen, dass er vermutlich und scheinbar zweifellos lebendig war. Die Gefühllosigkeit seines Körpers und die schweigenden Sinne, eine vergangene Illusion waren.
„Wie bin ich hierhergekommen? Wie bist du hierhergekommen?“ Sven erhob sich von dem Stuhl auf dem er zusammengesunken gesessen hatte.
Peter sagte nichts.
„Wo sind die Anderen? Wo ist Mo und wo ist Schulz? Wo waren wir?“
Mitleidig schaute Peter auf den aufgeregt im Raum umherirrenden Sven und wandte sich schließlich der grauen Wand vor seinem Fenster zu.
„Peter, nun sag schon, was der ganze Scheiß hier soll! Was war das gerade? Wer waren die anderen beiden Gestalten? Wer bist du?“
Peters ständiges Kichern verstummte. Traurig sah er auf die graubraune Monotonie eines Universums aus Rissen und Einkerbungen, aus winzigen und großen Steinen, aus einer unendlich vielgestaltigen Masse unterschiedlicher Atome.
Nach einer Weile sagte er sanft: „Na na Sven. Was sind das denn wieder für Fragen. Manchmal ist es besser nichts zu wissen.“
„Was soll ich tun?“
„Nichts. Manchmal muss man nichts wissen und nichts tun.“
Erschöpft ließ sich Sven in eine Ecke des Zimmers fallen. Nichts tun und nichts wissen, dachte er und fragte sich, ob Peter eine allwissende Maschine aus unbekannten Welten war, die sich frei durch Raum und Zeit bewegen konnte und deren Energiereserven nun nach unzähligen Reisen und unzähligen aufreibenden Gespräche über den Sinn des Lebens erschöpft waren. Erschöpfte Energien oder durchgebrannte Schaltkreise, kam es Sven in den Sinn, denn so tiefgründig die Gespräche auch waren, so sehr drehten sie sich auch im Kreis und so sehr erschöpften sie sich in ihrer eigenen Banalität. Gefangen in einer Endlosschleife erschöpft sich die Energie in sich selbst.
„Gefangen in einer Endlosschleife erschöpft sich das Leben in seiner eigenen Banalität.“ rief Sven laut aus, doch keine Blitze zuckten durch den Raum und Schulz‘ in Staub gehüllte Gestalt blieb abwesend.
Nur Peter wandte sich wieder lachend und mit Stolz in seinem Blick Sven zu. Sven schämte sich für den Gedanken an einen Machinenpeter, aber konnte diesen auch nicht gänzlich verwerfen.
„Ich glaube es ist an der Zeit ein Opfer zu bringen.“, sagte er schließlich mit zu Boden gesenktem Blick.

V

Mitleidig schaute Peter auf den vor ihm sitzenden Sven, der den Kopf auf die Knie gelegt hatte. Mit einem zaghaften Lächeln drehte er sich zum Fenster, musterte den schwankenden Kirchturm und wandte sich wieder Sven zu.

„Peter, bitte!“, fleht Sven und seine Stimme klang gedämpft durch den Stoff seiner Hose. Alles in ihm und um ihn herum zog Kreise und er sah sich als Fixpunkt eines unendlich schweren, endlich sichtbar gewordenen morphogenetischen Feldes, das weit über ihn hinaus und tief in ihn hinein reichte. Er fragte sich, seit wann Peter so war, wie er war. Eine unheimlich und vorbestimme Entwicklung hatte ihn der Sphäre des Irdischen entrissen, eine ungeahnte Erkenntnis ihm alle Zweifel genommen und das Geschenk des bedingungslos Skurrilen war ihm plötzlich und einem Wunder gleich anheimgefallen. Und so lange er auch zurückdachte, sah Sven nur ein zuckendes und sich windendes Licht und die verschwommene Wand, der unwahrscheinlich nah an Peters Haus, gebauten Kirche. Die Vergangehit löste sich auf und begann in einem Flur, reicht bis in Peters Wohnzimmer und drehte sich nur immer mehr in den Bahnen eines endlos enger werdenen Kreislaufs, bis sich schließlich alle Momente überlagerten und gleichzeitig über und nebeneinander ausgebreitet waren.

„Na na Sven, nun aber. Kopf hoch. Wird schon wieder.“ Das Echo einer Stimme in unbestimmter Ferne. „War alles etwas viel heute, was? “ Sven hörte das metallene Klicken eines Feuerzeugs. Endlose Stille. Ein tiefes paffendes Einatmen. Sven sah den Rauch durch seine geschlossenen Lider. Die grauweißen, sich langsam ausdehnenden Ringe, die allmählich in der Luft verblassten, durchbrachen die Bahnen der stillstehenden Zeit.

„In Schulz‘ Haus oder Tempel oder was auch immer das jetzt ist, warst du auf einmal verschwunden.“, Peters Stimme klang überraschend ernst und sanft. „Durch die abgelegensten Winkel und Gänge bin ich gelaufen und habe dich gesucht aber nichts gefunden. Und egal wie lange ich die Etagen auch abgegangen bin, stand ich am Ende immer wieder vor der Tür zu Schulz Zimmer. Nach dem 4. oder 5. mal hatte ich die Schnauze voll und wollte mich einfach nur irgendwo hinsetzen und etwas trinken und zu meiner Überraschung kam der olle Schulz, gerade in dem Moment mit zwei Bier in der Hand aus seinem Raum. Lächelnd reichte er mir eins und bat mich oder befal mir, ihm Gesellschaft zu leisten. So saß ich also in seinem Tempel der Freiheit und Lust, wie er es selbst nannte und hörte mir an, was er zu sagen hatte. Und so sprach Schulz: Es gibt vier Möglichkeiten die Realität zu sehen. Erstens: ich existiere und du existierst und Sven existiert und die Welt um uns herum und alle Objekte in ihr existieren. Das ist wahrscheinlich die einfachste, wenn vielleicht auch nicht die beruhigendste Art, die Welt zu sehen. Und so sprach Schulz: Zweitens: Ich und du und Sven und alle Menschen, und alles Bewusstsein um uns herum existiert, nur die Welt an sich, mit all ihren Objekten und Formen und Gegenständen, entspringt unserer Einbildung. So wären wir rein geistige Wesen, die miteinander kommunizieren und eine kollektive Phantasie kreieren, die wir gemeinsam befüllen und ausschmücken, und in der sich nur der Blickwinkel auf das Geschaffene unterscheidet. Unser aller objektiver Geist schafft die Welt und das Individuum verleiht ihr Perspektive. Das ist die zweite Möglichkeit. Und so sprach Schulz: Drittens: Nichts außer dir oder mir oder Sven oder dem Denkenden existiert. Vielleicht erscheint es uns unwahrscheinlich, doch genauso unwahrscheinlich ist es, das ich beweisen kann, dass irgendjemand außer mir denkt. Eindeutig kann ich immer nur meine eigene Existenz bestätigen. Ich denke, also bin ich. Und dieses ich ist eben kein wir. Aber wie weit reicht dieser schöpferische Geist, der doch auch ein lebloses Vakuum wie die Schwärze der Nacht mit seinen Visionen zu beleben vermag? Und so Sprach Schulz: Und viertens: Ich und du und Sven und alle Menschen und alle Tiere und alle Gegenstände und Atome dieser Welt sind nur flüchtige Ideen eines unbekannten Schöpfers. Und mit dem Gedanken vergeht die Welt. Und natürlich weigern wir uns dies als Möglichkeit in Betracht zu ziehen, denn unser Denken gehört uns und niemand vermag uns zu steuern, denn der Mensch ist heilig und die Individualität ist heilig, doch oh wie flüchtig sind auch unsere Gedanken und oh wie absurd ist diese Welt. Es wäre ein brutaler und perverser, allmächtiger Geist, der diese unsere Welt erschafft, denn oh wie brutal und pervers ist diese Zeit und sind auch unsere Gedanken. Und so sprach Schulz zu mir.“ Peter hielt inne und Sven hörte wie er vorsichtig die Zigarette auf dem Boden austrat und dabei leise kicherte.

„Ich saß also dem Schulz gegenüber und hörte seinen Ausführungen schweigend zu. Nippte hin und wieder an meinem Bier und riß mir schließlich auch das zweite unter den Nagel. Schulz sprach mit tiefer Stimme, lümmelte auf seinem Sofa und blickte auf mich herab, wie auf seine Jünger. In seinem Jogginganzug glich er einem streunenden Heiligen und als er schließlich verstummte, blickte er mich aus glänzenden Augen an. Ich erwiderte seinen Blick. Stand auf und sagte: Schulz, ich weiß. Und wenn nur wir in diesem Raum sind, und nur wir beide existieren und beide an die gleiche Möglichkeit glauben, dann ist sie wahr.“

Sven saß noch immer schweigend da und starrte in die tiefe Dunkelheit seiner Lider. Zwar verstand er nicht was Peter sagte, doch beruhigte ihn die vertraute Stimme. Als er die Augen öffnete, zuckten Blitze durch eine bunt wabernde Atmosphäre. Der Untergrund auf dem er und Peter nun standen, war durchsichtig und nicht identifizierbar. Ein monotones Grollen und Donnern drang von allen Seiten auf sie ein und verlieh dem formlosen Raum eine hörbare Gestalt.
„Ach, Mensch. Sven, Nun komm.“, aufmunternd hielt Peter ihm ein Glas unter die Nase.
„Peter, was soll denn das?“ Wenige Meter von ihnen entfernt, erkannte Sven die Schatten einiger Gestalten. Peter misachtend, ging er auf sie zu.

Dionysos, Pan und Hannes sich langsam aufrichtend, nicht vorhandenen Staub von ihren Körpern klopfend. Mo weiter druch den unsichtbaren Boden in die Tiefe des Raumes zapfend, apathisch lächelnd.
D mit weit aufgereissenen Augen: Wir müssen weg. Das Grollen und die himmlischen Worte. Die Zeichen seiner Ankunft. Alles ist verloren.
P: Zu spät. In Svens Richtung deutend. Er kommt.

III

Schwärze. Stille. Dann, nach einer Weile, ein Lichtkegel, eine Silhouette. „Der Gang schlängelt sich schnurgerade, in endlosen Windungen, zielgerichtet und verloren durch den Tempel, der jetzt dunkler wird. Die Wände verlieren sich in der Höhe der Decken. Die weiße Reinheit der obzönen Figuren, der brutalen Gemälde und plagierten Weisheiten flackert sporadisch durch die ruhigen Schatten der großen Wandleuchter, die elektisch summen, wo LED’s nur tonlos schweigen. Das ehemalige Tollhaus der ausgestorbenen Dorfkultur mittlerweile zu einer unbleckten Stätte erleuchtungssuchender Nihilisten befördert, wandelt, vor in sich selbst blickenden Augen, Richtung unsicherer Zeiten. Je tiefer sich ein Mensch in den von Menschen gemachten Korridoren Schulzes Phantasie verliert, umso tiefer wird auch das Schweigen. Tip, Tap, Tip, Tap, tip, tap, tip. tap, ti, ta, ti, ta. Auf unsichtbaren Schwingen fliegen die Töne davon. Vom Erklingen und Verstummen erzählt das Leben und von diesen Lasterm befreit, bewahrt das Nichts vor Tod und Geburt. Das letzte Licht der Welt, der Glanz in Svens Augen, um das auferlegte Schweigen bemüht, erlischt hinter der nächsten und nächsten Biegung. So irrt ein stummer und unsichtbarer Schatten durch die Dunkelheit der Katakomben, ahnungslos von der Welt und dem Leben, gerüstet nur mit dem, was wir ihm geben.“ Abgang Peter.

„Die Beine vertreten und bloß nichts sagen. Endlich den Kopf frei kriegen. Sowas Albernes, also wirklich. Da wird man verarscht und niemand scheint mehr bei Verstand zu sein. Wobei das natürlich auch so ein Ausspruch ist, der nach Diskusionen, nach einer eingehenden Auseinandersetzung verlangt. Aber mit wem? Auseinandersetzung mit wem? Wo ist Peter?“ Sven war mittlerweile in einen leichten Laufschritt verfallen. Das Licht wurde spärlicher aber die Bewegung half. „Bewegung hilft. Aber wobei? Wobei hilft Bewegung? Den Kopf freikriegen, natürlich, aber wozu den Kopf freikriegen? Eine Welt des Irrsinns, der sich seit einiger Zeit entlädt. Und diese Zeit ist natürlich auch definiert. Denn wer weiß, was davor kam. Der Urknall und plötzlich war alles da. Doch selbst wenn ich mich an eine Vergangenheit erinnere, muss das nichts heißen. Mit dem großem Knall kam das große Chaos. Eigentlich fing alles mit dem Arbeitsamt an. Arbeitsamt und summende Lichter“, dachte Sven. Doch wie war es davor? Gab es eine Zeit ohne Unsinn und Chaos? „Das ist doch die Frage, was war vor dem Chaos und was ist das Nichts.“ Treppen auf und Treppen ab, lief Sven, und verstrickte sich immer tiefer in seinem klaren Kopf. „Treppen auf und Treppen ab und dann bin ich am Ziel.“ Als Sven um den nächsten Abzweig bog, bemerkte er zu spät, dass ihm eine Wand den Weg versperrte. Mühsam versuchte er seinen Lauf zu bremsen, ruderte verzweifelt mit den Armen und fluchte bereits vor dem Aufprall, doch die Tiraden halfen nichts und erstickten, als die Wand mit Sven kollidierte. Ein weiteres Mal an diesem Tag schlug unser Held auf dem Boden auf und durch ein fahles Zwielicht sich langsam lichtenden Schmerzes sah er das Gemälde, das vor ihm auf dem Boden lag. Durch den Zusammenstoß zu Boden gefallen, war der Rahmen gebrochen und Farbe war bröckelte in großen Stücken von dem bräunlichen Papier. Sven öffnete und schloss die Augen, von dem Bild angezogen und abgestoßen, wusste er nicht, wie er in diese Sackgasse geraten war und wie er jemals wieder aus den Abgründen von Schulzes Finsternis hinausfinden sollte. Immer noch unschlüssig, wie er sich dem Bild gegenüber positionieren sollte, blieb Sven dabei im schnellen Wechsel seine Augen zu öffnen und zu schließen. Es schien ihm die sinnvollste Reaktion auf eine ausweglose Lage und eine absurde Welt. An- und Absage in einer fließenden Bewegung, Leugnung und Akzeptanz in einem Wimpernschlag. Alles um ihn herum zeigte sich doppelt und zeigte sich nicht und die Leere der Zwischenräume wurde gefüllt mit Spekulation. Das Kunstwerk zu Sven Füßen bildete so eine grobe Skizze der Wirklichkeit, die von ihm gewüllt werden wollte. Die Figuren bewegten sich, irrsinnig wandten sie ihre Blicke. Die Körperhaltung völlig entspannt wurde zu einem spastischen Zucken entspannter Körper. Haare wirbelten, bewegungslos und als einförmige Masse. Ein erschrockenes Gesicht, ein lüsterner Blick, ein Lachen und das unerschöpfliche Auslaufen eines Gefäßes, waren zu ewiger Bewegungslosigkeit erstarrt und alles davor und danach war phantastische Spekulation. Alles was war, war hier. Doch auch wenn die Zeit nicht existierte, wurde das Bild von Svens wildem Blick in Bewegung gesetzt, und die panischen Krämpfe der Figuren, die aus ihrer ewigen Haltung ausbrechen wollten, betonten nur ihre Hilflosigkeit und die Unvergänglichkeit des Augenblicks. Sven kam ein Gedanke. Abrupt hielt er in der Bewegung seiner Lider inne. Den austeigenden Schwindel und der obligatorischen Übelkeit die Stirn bietend sprang er auf und tastete die Wand neben ihm ab. Über seine Zwinkergeschwindigkeit überrascht, hatte Sven erst nicht bemerkt, dass sich in der Wand neben ihm eine unscheinbare Tür befand, die sich kaum von der sie umgebenden Wand abhob. Jetzt stemmt er sie ächzend auf, kroch hindurch und erblickte steil nach oben führende Treppen. Stockwerk und Stockwerk bahnte er sich seinen Weg nach oben, ging zuerst, lief dann und rannte schließlich, bis er von weit oben ein Licht sah, dass sich beim näherkommen als Tür enttarnte.

I

Für endlose Zeit herrschte Stille in dem opulenten Saal. Keine Regung und kein Atmen. Keine Bewegungen. Nur die in ihrer Verbeugung erstarrten Jünger und die von Schulz angeführte Gruppe, die auf einem Podest stand, dass sich langsam aus dem Boden erhob. Schulz hatte seinen Jogginganzug gegen ein weißes Gewand eingetauscht, dessen Ende noch eben weit hinter ihm auf dem Beton zu seinen Füßen gelegen hatten das sich jetzt aber wallend mit ihm erhob und den Blick auf das Bild eines mit Rebensprossen gekrönten Löwenkopfes freigab, der in der Mitte von einem Holzstab durchstochen war. Mit geschlossenen Augen fuhr Schulz dem Himmel entgegen und seine Arme streckten sich langsam, bis er sie schließlich, kurz unter der Decke angelangt, entkräftet fallen ließ und sich ein vielstimmiges Summen erhob, dass zu einem dunklen Grollen anschwoll.

„Ach du Scheiße, Peter. Das ist doch Lydia.“ Svens Stimme verklang in der düsteren Tonalität des Chors der Jünger, doch von einem Moment auf den anderen verstummte der Saal und schuf Platz für ein entsetztes Flüstern. Schulz Augen waren weit aufgerissen und mit zitterndem Arm zeigte er auf Sven. „Du wagst es in meinen Tempel zu kommen und die heilige Ruhe zu stören, wagst es, mich bloßzustellen und diese Stätte der Erleuchtung mit deinem Frevel zu beschmutzen. Wer bist du mich herauszufordern und mich in meinem Haus zu betrügen. Einen Platz der Einsicht mit Geschwafel zu entweihen. Haltet ihn. Fasst ihn und bringt ihn zu mir.“

Einige Männer und Frauen lösten sich aus der Masse und kamen aus allen Richtungen auf Sven zu. Hilfe suchend blickte er sich nach Peter um, doch der stand einige Meter entfernt und nickte ihm nur aufmunternd zu. Mit dem Achseln zuckend ergab sich Sven seinem Schicksal, streckte die Arme aus und ließ sich gleichgültig durch die Menschenmenge führen, die sich, wie durch unsichtbare Hand geleitet, vor ihnen öffnete und eine schmale Gasse bildete. In den Gesichtern der Jünger erkannte Sven die unterschiedlichsten Emotionen, die sich im Widerstreit miteinander befanden und die er nur schwer einordnen konnte. Ein junger Mann sah ihn hasserfüllt und mit zusammengekniffenen Zähnen an, während ihn eine ältere Frau voller Liebe zulächelte. Auf dem kurzen Weg wurde Sven angebellt, bespuckt, gestreichelt und geküsst und als er schließlich direkt vor Schulz stand, meinte er zu erkennen, dass auch Schulz ihn anlächelte, bevor er Sven kurz darauf ins Gesicht schlug.

„Unsere heutige allabendliche Andacht ist bis auf weiteres vertagt. Es tut mir leid. Ich habe keine Worte dafür, wie sehr ich diesen Vorfall bedauere. Es wäre ein ganz besonderer Abend geworden. Kunst und Liebe. Und noch einmal: Es tut mir leid. Man sollte die Demut besitzen sich die eigenen Fehler und die Fehler anderer einzugestehen.“ Bei diesen Worten musterte er den zu seinen Füßen liegenden Sven für alle sichtbar. „Vielleicht ist es die Empathie, die mich anfällig gemacht hat für Sentimentalität, doch ich bereue diese Schwäche und werde auch unseren Neuankömmling hier mit strenger Hand erziehen, wie auch ihr von mir erzogen wurdet. Und nun geht bitte und denkt über meine Worte nach.“

Bedächtig löste sich die Versammlung auf und die noch eben von Liebe und Hass entstellten Gesichter waren von jeglichem Gefühl befreit und fixierten nun wieder einen Bereich außerhalb des äußeren Scheins. Fasziniert beobachtete Sven das Schauspiel während er von einem Mann und einer Frau am Arm gepackt und durch die Gänge geschoben wurde. Er vergaß dabei den Schmerz in seinem Gesicht und das Blut, das nun aufs Neue aus seiner Nase lief. Als er über den alten Schulz nachdachte, fing er an zu lachen und der Anfall steigerte sich in absurde Höhen, bis er nicht mehr gehen konnte und Angst bekam, das dies sein Ende sei. Tod durch Ersticken kurz vor der Exekution durch einen alten Dorfkneiper, der durch Geschick und Leberzirrhose zum diktatorischen Führer einer aufstrebenden Sekte wirtschaftlicher Eliten in einem winzigen Dorf am östlichen Arsch Deutschlands aufgestiegen ist. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt sich Sven seinen Magenund rang verzweifelt nach Luft. Das Blut floß stoßweise auf den Boden und spritzte übermütig auf die Kunstwerke und die Psalmen an den Wänden. Die neben Sven einhergehende Frau sah sich erschrocken um, erkannte den in einem Seitengang stehenden Schulz und wechselte hastig einige Worte mit ihm.
„Sehr gut, sehr gut. Sein Aufstieg hat begonnen.“
„Meister wollen sie sagen, dass dies von Anfang an ihr Plan war?“
In Gedanken versunken stand Schulz vor Ihnen, bis er schließlich lächelnd erwiderte
„Aber natürlich. Bringt ihn sofort auf mein Zimmer.“

Wortlos wurde der immer noch lachende, kreischende und japsende Sven an den Schultern gepackt und vor Schulz‘ Zimmer abgesetzt. Als er die Tür mit hochrotem Kopf öffnete, erwarteten ihn bereits Schulz, Herrmann und Lydia.

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