III

“Ihr ewigen Lichter da droben,
ihr strahlenden Augen, die mir
schwermütig ins gebrochene Herz
schauen, seid ihr auch bevölkert,
mit Kindern des Grams wie
dieser taumelnde Ball?”
A. E. Brachvogel

„Guck mal, Herrmann, was für dich!“ Schulz zeigte auf das aufleuchtende Zitat an der Wand, während die Kaffeetafel gerade von seinen Jüngern schweigend abgeräumt wurde. „Aus dem Trauerspiel Narziß, du alter Trauerkloß. Müsste dir doch gefallen. Aber was sag ich! Dir ist doch nicht beizukommen, nicht mal der langsam einsetzenden Tod deiner Tochter. Abgeschlachtet von, ja, ach, was soll’s.“
Herrmann schaute mit einem Blick tiefster Deprimiertheit zu Schulz auf. „Aber mein Zeus…“
„Zeus, Zeus, hör mir doch auf mit Zeus. Seh ich aus wie dieser allzerfickende Lude? Ja, okay, ich hab es in der Vergangenheit hin und wieder wild getrieben, aber ich war nie rachsüchtig. Weißt du, wie man Zeus auf Englisch sagt? Zeus!“
„Suß?“, flüsterte Herrmann.
„Ja, Suß! Stell dir das doch mal vor! Klingt doch wie die Seuche. Einfach keine Kultur, diese angelsächsischen Kackbratzen. Ich schweife ab. Herrmann! Jetzt schau mich an, ich sag es dir noch einmal. Deine Tochter, Lydia, meine Nichte, verblutet gerade jämmerlich in der verdammten Kirche dieses Schweinepriesters. „Herrmanns Augen funkelten ein wenig bei der Erwähnung ihres Namens.“ Und rate mal, wer sie abgestochen hat? Dein Sohn Sven, Herrmann!“ Herrmanns Augen rissen auf, ein Anblick, den Schulz seit Jahrzehnten nicht mehr bei ihm gesehen hatte. „Na, klingelt’s? Dann können wir den ganzen Bums ja jetzt mal auflösen, ich hab dich schließlich lange genug in Schutz genommen, du feiges Fossil.“

Und Schulz erzählte, wie Herrmann eines Tages vor seiner Tür stand, in Tränen aufgelöst, hilflos. Was denn um alles in der Welt passiert sei, wollte er damals wissen. Aber von Herrmann kam nur Schluchzen und ein kümmerliches: Ich kann das nicht mehr. Er erfuhr später, dass sein Schwager durch seine Ehe psychisch zermürbt war. Zu früh geheiratet, zu früh Kinder bekommen, die weitreichenden Konsequenzen ausblendend, bis es immer öfter krachte. Lieber früher als zu spät die Notbremse ziehen, bevor man zu sehr an den Kindern hängt oder umgekehrt. Warum er seiner Schwester in den Rücken fallen sollte und Herrmann Unterschlupf gewähren? Nun ja, seine Schwester hatte, seiner Meinung nach, eh einen leichten Dachschaden und überhaupt, was kümmerten ihn die Geschicke der Menschen?

„Sieh, was aus dir geworden ist, Herrmann. Bequem hastes dir bei mir gemacht. Völlig verblödet bist du, könnte man meinen, antriebs- und instinktlos, ein niederes Tier, das man ohne Skrupel zertreten könnte. Weißt du: Mit dem Gehirn verhält es sich wie mit der viel zu oft zitierten Katze Schrödingers. Sobald man über das Denken nachdenkt, ist das Ergebnis verfälscht. Daher ist der Instinkt umso wichtiger. Herrmann!“

Da sprang Herrmann auf und stürzte wie besessen aus dem Saal heraus.

„So ist’s recht, mein treuer Freund. Schau nach, ob die verschissene Katze, pardon, deine Tochter noch lebt oder schon gestorben ist. Dein Eingreifen verfälscht auf jeden Fall das Ergebnis!“, schrie Schulz, aber Herrmann war schon über alle Berge.