XII

„Die Bewegungen der weißen Menge fügten sich dem Rhythmus der Musik. Das Einzelne wurde hinweg gerissen vom Wogen der menschlichen Welle. Das Individuum zerfiel in seine Einzelteile und wurde hinein gesogen in den pulsierenden Leib des Überkörpers. Ich war viele und ich musste nicht mehr sein.“

Die große Halle hatte sich mittlerweile geleert, der Rauch war abgezogen und die Lichter, die den alten Schulz eben noch in ein auratisches Licht getaucht hatten, waren einem gelblich flackerndem Kerzenschein gewichen. Der Raum war leer und nur der Geruch von schweißgebadeten Körpern hing noch im Raum. Nach dem ersten Lied hatte die schweigende Masse begonnen sich schneller im Takt zu wiegen. Körper hatten sich entzückter aneinander gerieben, bis schließlich ein summender Choral eingesetzt hatte, der beim dritten Lied in wilde unkontrollierte Schreie übergegangen war. Die Jünger, vom Schweigegelübde befreit und dem Regelwerk der heiligen Stätte entbunden, hatten sich ihren animalischen Instinkten und Regungen ergeben. Wie Peter und Sven später von einer der Empfangsfrauen erklärt wurde, endete mit dem Aussetzten des Gelübdes eine Periode der Vernunft, von geistiger und kreativer Produktivität und schuf Raum für eine spirituelle Reinigung. Die unbedingte Hingabe an alles körperlich, an alles nicht-geistige, ungehemmte Gewalt und Sexualität, solange sie den anderen nicht nachhaltig schädigte, sollte die Jünger einmal täglich befreien von der Last des Fleisches und der Natur, die ihre Gedanken bedrückte und ihre Fähigkeiten hemmte. Es gab in dieser halben Stunde nichts was zu tun war und nur wenig was nicht getan werden durfte.

„Viele Religionen und philosophische Strömungen, hatten das Problem der Restriktion und Beschneidung bestimmter Aspekte der menschlichen Natur. Wir sind der Ansicht, dass die modernen Werte des Humanismus und des Liberalismus tatsächlich zum Wohl der Gesellschaft beigetragen haben und doch denken wir, dass eine Trennung von körperlicher und geistiger Freiheit eher dem Ideal des modernen Menschen entsprechen. Die Phase des Geistes gibt die Freiheit für eine Beschäftigung mit dem Tiefsten Inneren, für einen Ausdruck der eigenen Person ohne kultur- oder kunsthistorisches Korsett und ohne Wertung oder Ziel. Man könnte es als metaphysischen Kreislauf der Selbsterkundung bezeichnen. Was wir auch tun. In der Phase des Fleisches bieten wir Raum für eine physische Erkundung des Selbst. Wir ermutigen die Teilnehmer dazu, mit ihrer Körperlichkeit zu experimentieren, die intersubjektiven Machtstrukturen und Moralgebilde einzureißen und sich mit ihrem animalischen Kern auseinanderzusetzen. Die schrittweise Lösung von nie hinterfragten Konventionen, wird schließlich in der nächsten Phase des Geistes reflektiert und findet Eingang in die eigene Arbeit, sei sie nun künstlerischer, wissenschaftlicher oder ökonomischer Natur. Erkenntnis und Erleuchtung ist für uns kein Momentum, kein plötzliches Ereignis, das unserer Bewusstsein durchschneidet und unserer bisherige Existenz in ihren Grundstrukturen erschüttert, sondern ein andauernder Prozess, der ständiger Überprüfung erfordert, den eigenen Zweifeln und sich wandelnder Einsichten ausgesetzt ist.“

Atemlos hatte die junge Frau, die sie vor kurzem empfangen hatte, ihren Monolog beendet und begonnen ihre auf den Boden verstreuten Kleider aufzusammeln. Sven und Peter waren ihr durch Hallen und Korridore gefolgt, ihr Rücken, ein leuchtendes Mosaik aus Schweißperlen und blutigen Kratzern, wie ein abstrakter Wegweiser immer vor ihren Augen. Als sie schließlich vor einer Holztür angekommen waren, hatte sie sich vor ihnen verbeugt und begonnen sich zu bekleiden. „Der Meister duldet es nicht, wenn jemand, seine Privatgemächer betritt. Bitte betrachtet es als ausgesprochene Ehre, dass er nun bereit ist, eine Privataudienz im Allerheiligsten zu gewähren.“

„Die Bewegungen der weißen Menge fügten sich dem Rhythmus der Musik. Das Einzelne wurde hinweg gerissen vom Wogen der menschlichen Welle. Das Individuum zerfiel in seine Einzelteile…“, der alte Schulz hielt Svens Notizbuch in seinen Händen und sein und Peters Gelächter erschütterten die kleine Nische des holzvertäfelten Raums in dem sie saßen..
„Meine Fresse Sven, die Vorführung scheint dich ja tief bewegt zu haben.“, Schulz nahm einen tiefen Zug von seinem Bier, zündete sich eine Zigarette an und reichte auch Sven und Peter zwei Gläser. Er hatte seine enganliegende weiße Hose gegen einen Jogginganzug getauscht.
„Nein ehrlich, das ist groß, das ist stark, das hat Potenzial. Ich habe Jahre für den Scheiß gebraucht und du spazierst hier rein und innerhalb von ein paar Minuten schreibst du hier diesen metaphysischen Wahnsinn. Ich sollte dich als PR-Leiter einstellen. Oder noch besser, du solltest den Laden hier schmeißen. „Ich war viele und ich musste nicht mehr sein.“ Stark, wirklich stark.“
„Achso na gut, danke. Schön.“, Sven nippte irritiert an seinem Bier und dem Kurzen, der sich wie aus dem Nichts vor ihm materialisiert hatte. „ Also nun ja, eigentlich verstehe ich das hier nicht.“
„Kein Grund zur Sorge.“, Schulz lächelte verschmitzt. „Ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Jeden mal, wenn ich hier mit jemanden sitze, ist es das gleiche. Schau mal nach oben.“ Svens Blick wanderte zur Decke und was zuerst nur als flüchtiger Schatten erschien, löste sich langsam aus der Dunkelheit, schwang sich elegant zu ihrem Tisch und stellte drei neue Schnapsgläser vor sie.
„Richtig, richtig.“, Schulz strahlte. „Mein Barkeeper!“ Lautlos landete der Affe auf dem Tisch, verbeugte sich höflich und reichte erst Peter, dann Sven die Hand, bevor er seine Schürze gerade zupfte und wieder hinter der Theke verschwand. Peter applaudierte begeistert und machte anerkennende Geräusche. „Sven ein Affe als Barkeeper!“
„Nunja, das ist ja was. Aber das meinte ich eigentlich gar nicht.“
Schulz wirkte enttäuscht. „Schade.“
„Was soll denn das hier oder das da draußen oder das hier drin und da draußen.“
„Die Zeiten ändern sich.“, Schulz‘ Blick schweifte in die Ferne. „Eigentlich mach ich immer noch das, was ich früher gemacht habe, nur anders und für mehr Geld.“

XI

D: „Mo, jetzt sag schon.“
Mo, eine Kerze anzündend: „Ich glaube, ich wurde langsam verrückt. Musste weg. Hab wahrscheinlich nen Doppelgänger da unten.“
D, H und P gleichzeitig: „Doppelgänger!?“
Mo: „Ja, vielleicht ein Agent, auf mich angesetzt. Ich sag’s euch: Die Dinge laufen aus dem Ruder.“
D: „Mal langsam, Mo. Wie muss ich mir das vorstellen? Läuft da jetzt noch einer wie du rum, so…“
H: Lachend „…Mit Hinkebein und allem Drum und Dran?“
P: „Sei still. Hast deinen Auftrag schließlich auch vermasselt. Inzestuöses Halbgötter-Pack!“
D. „Haltet beide die Schnauze! Mo, was kannst du berichten?“
Und Mo erzählte von einem Mann namens Herrmann Mann, einem vom Leben bitter enttäuschten Idealisten, der aufgrund seiner perversen Neigungen ins Exil flüchten musste, wo er sich mit anderen gescheiterten Existenzen einer falschen Gottheit verschrieben hat. Seltsame Dinge gingen dort vor sich, gefährliche Dinge, die die göttliche Schöpfung durcheinanderbringen vermochten.
Betroffenes Schweigen machte sich im ‚Fragilen Säuferglück‘ breit, an dem Ort, wo es keine Zeit gab, wo alles nichts war und alles alles sein konnte.
D, finster und mit ernstem Ton an die Runde: „Das Menschenprojekt wird eingestellt.“

„Achtung, Achtung! Einleitung der Plauderphase. In zehn Minuten ist es wieder soweit: Unser Meister tritt im Saal der Verheißung auf. Alle Bewohner sind aufgefordert, sich unverzüglich auf den Weg dorthin zu begeben. Das Reden ist ab jetzt für eine Stunde erlaubt. Vielen Dank!“

Sven und Peter sahen sich verdutzt an.
„Was ist das hier nur für eine Freakshow?“, fragte Peter.
„Klingt doch toll!“, entgegnete Sven. „Lass uns schnell diesen Saal suchen.“
Plötzlich ertönte sanfte Rockmusik aus den Lautsprechern im Korridor. Peter und Sven verließen den Raum und sahen, wie weiß gekleidete Menschen wahllos aus ihren Zimmern und wie am Faden gezogen Richtung Wendeltreppe nach unten strömten.
„Mensch, Peter!“, sagte Sven aufgeregt. „Lass uns denen anschließen.“
„Ich weiß nicht! Irgendwie hab ich kein gutes Gefühl dabei, mich der Zombieparade anzuschließen.“
„Komm schon, wir wollen doch zum Meister, also zum Schulz. Komm!“
Der Weg verlief im Grunde unspektakulär, runter in die erste Etage, vorbei an den bizarren Kunstwerken und Parolen, zur Eingangshalle, wo eine Abzweigung in einen weiteren, prächtigen Korridor führte, an dessen Ende sich ein riesiges Tor befand, das mit einer weißen Schlange verziert war.
„Warum redet keiner von denen?“, bemerkte Peter, an den Hacken der übrigen Bewohner trottend. „Die hat doch gesagt, es sei erlaubt.“
„Wir genießen die Musik.“, sagte Sven. „Irgendwie kommt sie mir bekannt vor. Wunderschön!“
„Wir? Die, betonte er überdeutlich, haben uns noch nicht mal eines Blickes gewürdigt. Ich glaub, die sind nicht ganz sauber.“
„Lass dich einfach drauf ein.“, grinste Sven.

Am Schlangentor stand die Empfangsfrau und wartete auf die Bewohner. Lächelnd vergewisserte sie sich, dass auch alle anwesend waren. Dann öffnete sie die Pforte und sogartig ließen sich alle Bewohner hineinziehen. Sven und Peter trabten etwas vorsichtiger hinterher, an der Frau vorbei, die sie völlig auszublenden schien, denn sie schloss sogleich das Tor, als die beiden den Saal betreten hatten.

“I should have known better than to let you go alone.”, ertönte es auf einmal von der Bühne am Ende des komplett weißen Saales.
“It’s times like these I can’t make it on my own.”
Und zwischen den Rauchschwaden einer Nebelmaschine erschien schemenhaft der Umriss eines Mannes.
“Wasted days and sleepless nights.”
Weißes Stoffhemd und weiße Stoffhose, barfuß, lange, goldene Mähne, leicht schütter, aber geschmeidig, Bierbauch und Drei-Tage-Bart, kurzum: die Erscheinung eines sündigen Engels.
“And I can’t wait to see you again.”
Die Bewohner hatten sich derweil schon mit hochgerissenen Armen um die Bühne verteilt und bewegten diese leidenschaftlich von links nach rechts, als der Sänger zur zweiten Strophe ansetzte.
„Meister!“, stieß es aus Sven heraus, bei dem die Musik und generell das ganze Ambiente einen Nerv getroffen zu haben schien.
„Der alte Schulz!“, sagte Peter trocken und lachte lautstark gegen die Geräuschkulisse an.