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„Sie liegen weich und entspannt. Schließen Sie Ihre Augen. Sie sind ganz ruhig und können Ihren Herzschlag hören. Alles um Sie herum ist friedlich und gut. Atmen Sie tief ein und wieder aus, ein und aus. Nichts in der Welt kann Sie aus der Ruhe bringen.
Außer die Tatsache, dass du arbeitslos bist und immer bleiben wirst, wenn du hier nur rumliegst. Du faules Schwein, steh endlich auf und schreib Bewerbungen. Ja, guck nicht so blöd. Wenn du dich nicht sofort aufraffst, kürz ich dir die Leistungen und…“
Sven schaltete den CD-Player aus. So hatte er sich die Motivations-CD vom Arbeitsamt nicht vorgestellt. Er ging zum Kühlschrank, doch es war keine Schokomilch mehr darin. Er ließ sich zurück auf die Couch fallen und versuchte nachzudenken. War irgendwas passiert die letzten Tage? Er konnte es nicht sagen. Sein Kopf schmerzte und sein Magen knurrte. Einkaufen wäre eine gute Idee und vielleicht Peter besuchen. „Peter…“, sagte er leise vor sich hin. Was er wohl gerade macht?

Das Dorf war von einer Schicht frischem Puderschnee überzogen und fast menschenleer. Sven stapfte ein paar Schritte die Straße herunter, drehte dann aber um und entschied sich, doch das Fahrrad zu nehmen. Der Himmel war trüb und grau und in Dämmerung begriffen. Es hatte den Anschein, als würde jeder Tag dieses Winters genau so aussehen wie der heutige. Der Supermarkt, der früher Konsum hieß, was er immer mit Doppel-n und -m bzw. kurzem o und u aussprach, weil er sich unter dem Begriff ‘Konsum’ nichts vorzustellen vermochte, schimmerte von weitem wie ein gestrandetes Raumschiff, unbewegt und spärlich beleuchtet. Ein prüfender Blick ins Portemonnaie verriet ihm, dass sein Geld gerade so für eine Schokomilch reichte, vielleicht zwei. Er nahm eine Flasche aus dem Kühlregal und ging direkt zur Kasse. Der Kassierer kam ihm sehr bekannt vor, er sah aus wie eine Kopie Peters. Es war der dicke Mann vom Arbeitsamt und er grinste, als wäre seine Uhr vor langer Zeit beim Onanieren stehengeblieben.
“Was zur Hölle machen Sie denn hier?”, fragte Sven fassungslos.
„Ach, Herr Sven, so eine Überraschung. Minijob, Herr Sven. Ich habe viele Münder zu stopfen, wenn Sie verstehen.“, und er zwinkerte so unmissverständlich oft, dass Sven sich wegdrehte, um nicht vom Windstoß des Augenaufschlags umgeweht zu werden.
„Hier, bitte, sagte Sven und legte die Schokomilch aufs Band.“
„Soso, eine Milch Typ Schokolade. Das macht dann fünf Euro.“, sagte er, ohne das Etikett zu scannen.
„Nee…“, sagte Sven, „das kostet keine fünf Euro.“
„Fünf Euro!“ erwiderte Arbeitsamt-Konsum-Volker mit ernstem Grinsen.
„Mensch, jetzt scann die scheiß Flasche, du Psycho!“, platzte es aus Sven heraus und er zückte seinen rechten Zeigefinger, spreizte den Daumen ab und griff mit der linken Hand darunter, worauf Volker erschrocken die Hände hob. „Peng!“, sagte Sven, nahm die Flasche vom Band und verließ gereizt den Supermarkt.

Amok

Gedankenverloren bestieg er sein Fahrrad und radelte instinktiv zurück nach Hause, als er an einer kleinen Nebenstraße einem herannahenden Auto die Vorfahrt nahm. Das Auto folgte ihm langsam, der Fahrer ließ die Scheibe herunter und brummte: „Hier ist rechts vor links!“ Und nach einer Weile: „Licht könnteste auch mal anmachen.“ Sven Halsschlagader weitete sich zu einer Hass-Pipeline. „Siehst du hier irgendwo Licht an diesem scheiß Fahrrad?“ Mit gutbürgerlicher Empörtheit schaute der Mann zu seiner Frau, die nur gelangweilt auf die Straße starrte. „Hör mal zu, Jungchen…“, fing der Mann an, verstummte jedoch sofort wieder, als Sven seine Fingerpistole auf ihn richtete. „Peng!“, rief Sven leicht hysterisch und der Wagen bremste abrupt ab. Einen sich panisch duckenden Fahrer und seine weiterhin gelangweilt dreinblickende Frau hinter sich lassend, radelte Sven mit erhöhtem Tempo weiter, bis er seine alte Grundschule erreichte.

Er erinnerte sich an ein Gespräch, das er vor einiger Zeit mit Peter geführt hatte. An manch schwermütigen Tagen, an denen Peter ihn mit penetrantem Schweigen quälte, machte er sich ernste Gedanken über seine Zukunft und fantasierte darüber, wie es wäre, einmal eine Frau zu haben, zu heiraten und letztlich auch Kinder zu haben. Themen, die bei Peter überhaupt nicht gut ankamen.
„Nach Partnerschaft sehnen sich nur unvollständige Menschen, sagte er. Sicherlich haben wir alle unsere Triebe, aber Sexualität ist die teuflische Falle, in die die meisten tappen. Ich meine, ganz ehrlich, ein Mensch hat seine Hände zur Selbstbefriedigung. Sex sollte einzig und allein der Fortpflanzung dienen, es sieht ja auch albern aus. Nur jemand, der für das Alleinsein charakterlich nicht in der Lage ist, bemüht sich um einen Partner. Und die Ehe ist einfach ein veraltetes Konzept.“
Ob er dann nicht wenigstens zu Fortpflanzungszwecken Sex haben wollen würde, wandte Sven ein.
„Weißt du, was ich Eltern erwidere, die mir weismachen wollen, dass Kinder ne tolle Sache sind? Du krankes Monster!, sag ich. Hast die Spirale des Leids weitergeführt, obwohl es in deiner Macht als vernunftbegabtes Individuum lag, sie zu durchbrechen.“

Sven hauchte ein wenig Wärme in die vorgehaltenen Hände. Seine Gedanken kreisten um die Worte Peters. Es lag in seiner Macht, dem ganzen Leid ein Ende zu setzen. Mit der Fingerpistole in seiner Jackentasche auf Anschlag, ging er das Szenario durch. Reingehen – Peng! Peng! Peng! – rausgehen. Doch plötzlich holten ihn Erinnerungsfetzen der letzten Tage ein und es zerriss ihm beinahe den Kopf. Schwankend und fieberhaft fuhr er nun zu dem Ort, an dem er Antworten zu finden glaubte.

Huch, es schellt
Herrmann, lass ein
Wer, um alles in der Welt mag das wohl sein?
Scheint mir, da der Hund nicht bellt
Müssen‘s wohl deine Tochter und ‘s Peterle sein.