VII

Koma

„Hallo, mein Name ist Sven und manchmal bin ich müde.
Wenn ich mir das menschliche Treiben auf diesem Planeten so anschaue, kommt mir alles vor wie ein riesiger Zirkus. Dresseure und Dressierte, Zuschauer auf Rängen, von der Loge bis auf die hintersten Bänke, wo man nicht mehr so gut sieht. Und draußen die große, weite Welt, von der die meisten gar nichts erahnen, es spielt sich ja scheinbar alles vor ihren Augen ab. Ich mag keinen Zirkus.
Aber nicht nur im Zirkus herrscht Zirkus. Die ganze Zwischenmenschlichkeit ist ein einziger Zirkus geworden. Du gehst zum Arbeitsamt, weil du auf die eine oder andere Weise Unterstützung brauchst und wirst erbarmungslos niedergemacht. Da sitzt dir dann irgendwer gegenüber und sagt, sie müssen dies und das tun, jenes einreichen, hierüber Rechenschaft ablegen und mit Strafen bei Nichteinhaltung rechnen. In einer Sprache, wo ich mir denke: ‚Hallo? Du da drüben, ja du, geht‘s noch? Ich bin wie du, verstehst du? Ich könnte jetzt an deiner Stelle sitzen und umgekehrt. Warum versteckst du, wer du bist, hinter einer solch komischen Sprache?‘ Und die Person ist sich dessen wahrscheinlich bewusst, tut dies aber aus Pflichterfüllung gegenüber seines Vorgesetzten. Aber wo endet die Hierarchie, will ich dann fragen. Wem gegenüber bist du wirklich verantwortlich?
Naja, aber das führt wohl zu weit. Mit solchen Fragen sollen sich Philosophen beschäftigen. In einer besseren Welt sind wir alle Philosophen, müssen uns aber nicht so nennen und voneinander abgrenzen. Es soll ja Philosophen geben, die beim Nachdenken über den Sinn des Lebens depressiv werden und Nicht-Philosophen, die einfach leben. Ist denn, wer einfach so vor sich hin lebt, gleich primitiv? Und wehe, er ist beim Vor-sich-hin-leben auch noch glücklich und zufrieden. Das macht verdächtig. Die Leute möchten halt schwarzweiß denken und fühlen und dulden keine Farbspritzer auf ihrer Fassade.

Wie soll man sich in einer multipolaren Welt klar positionieren, ohne von irgendwo auf die Fresse zu bekommen? Es gibt keine unangreifbaren Positionen mehr. Globalisierung und Internet haben uns um unseren Verstand gebracht. Ich habe Angst um mein Dorf. Ja, mir ist klar, ich klinge wie die Alten. Mein Dorf. Wenn man heute von „Früher war alles besser“ spricht, meint man die Zeit vor der großen Vernetzung. Langsam realisiert jeder, dass die Welt mal gigantisch groß und bunt war, trotz oder wegen schwarzweiß in den Köpfen. Durch globalen Wettkampf mit allen Mitteln drohen die noch verbliebenen, bunten Farbkleckse auf der Landkarte unter einer braunen Schlammlawine zu ersticken, die alles gleich macht.

Moment, habe ich jetzt die Alten verteidigt? Verdammt, ich sag‘s ja, es ist ausweglos. Wenn ich mir die Alten so anschaue, beneide ich sie manchmal für die Sorglosigkeit, die sie an den Tag legen. Montag bis Freitag arbeiten, Samstag Fußball, Bier und Bratwurst. Was daran falsch ist? Vielleicht nicht viel, es ist nur nicht meins. Und trotzdem lebe ich gerne hier. Nur scheint mir die Welt auf den Kopf zu fallen. Um uns herum brennt es doch. Hier ist ein Paradies und irgendwann werden fremde Leute ankommen, weil sie vor dem großen Brand um uns herum fliehen. Und dann wird es verdammt eng hier und das macht mir Angst. Die Alten haben konkrete Begriffe für die Fremden, wenn man sie darauf anspricht. Ich wünschte, es wäre so einfach. Ich wünschte, ich könnte wie sie noch rechtzeitig auf natürlichem Wege das Zeitliche segnen. Ich bin müde.“

„Hallo, mein Name ist Schulz. Ich bin hier der Gott oder Dorfschulz oder so. Lacht. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich hab das hier alles nicht verstanden. Nicht, dass es mich groß interessiert hätte; Rolle ist Rolle. Aber auf so einen abgefahrenen Scheiß muss man erstmal kommen. Oh Gott ja, die Szene mit den Jüngern in meinem Schloss. Wie die da alle rumgetaumelt sind zu diesem Kuschelrock und ich als großer Zampano. Lacht. Großes Kino!“

„Ich heiße Lydia und ich bin die Liebe.“ Alle lachen.

„Ich heiße Peter und ich bin Regisseur und Darsteller in diesem Film. Worum es geht? Liegt das nicht auf der Hand? Der Film handelt von dem zentralen Konflikt unserer Zeit: der Kampf gegen die Abstumpfung des Individuums und Gleichmachung der Völker. Sehen Sie, unser Hauptdarsteller steht voll im Saft der Jugend und vegetiert doch vor sich hin, gefoltert von den Auswüchsen einer betont toleranten Gesellschaft, die in ihrer institutionellen Komplexität derart starr geworden ist, dass sie ihm jegliche Tatkraft raubt. Er steht stellvertretend für eine orientierungslose Generation junger Menschen, denen durch die Globalisierung scheinbar alle Türen offen stehen und die dennoch eingeschränkt sind wie niemals zuvor. Eine Generation, die scheinbar alles besitzt außer der Macht, irgendetwas zu bewegen; die niemandem etwas Böses und allen gerecht werden will, die in ihrer Übertoleranz zu ängstlichen Untätern wird, während Millionen von Menschen zu unseren Wohlstandsverhältnissen zu strömen versuchen. Man möchte ihnen zurufen: ‚Kommt nicht, schaut euch unseren Sven an, es wird hier nicht besser. Und das, was ihr sucht, haben wir längst verbraucht, inklusive uns selbst.‘ Aber das ist vermessen angesichts des Ist-Zustandes in manchen Ländern und so ist die Verlockung stärker als das, was am Ende des Weges wartet. Nichts Gutes. Es zählen keine Taten mehr, nur noch das Geschwafel darüber, das Teilen, das Sich-Präsentieren. Mit solchen Menschen lässt sich kein Krieg gewinnen, geschweige denn ein Bekenntnis abringen, eine klare Haltung beziehen. Die Spirale schraubt sich immer schneller nach unten.“

„Ich bin Matze und mir gehört der ganze Bums hier, also dieses Lokal, meine ich. Schmiedehammer… Was für ein dämlicher Name. Darauf können nur Filmfutzis kommen. Und der sogenannte Barkeeper in diesem Film… eine Katastrophe. Da hätten Sie auch einfach mich nehmen können, ich hätte hier auch nicht so eine Sauerei veranstaltet. Schade um das ganze verschüttete Bier. Bin froh, dass der ganze Zirkus jetzt vorbei ist.“

„Uuunnnd Schnitt!“

„Peter, darf ich noch schnell einen Satz loswerden?“
„Klar! Kommt in die Outtakes.“
Sven räuspert sich und guckt verlegen in die Kamera.
„Danke, dass ich am Schauspiel Leben teilhaben durfte.“

VI

Und voila, der letzte Strich. Fini. Welch entzückend Meisterwerk. Von Gotteshand geschaffen.“ Begeistert betrachtete Peter die vor ihm sitzende Lydia. Auf dem Boden lagen unzählige Pinsel verschiedener Größen und Formen. Lydia war noch immer nackt, doch auf ihren Körper war mit Blut ein Hochzeitskleid gemalt. „Die Braut geladen zum Tanze, kommt gefahren ihr Prinz, die Liebe zu retten, erscheint der zu erlösende Erlöser.“ Akribisch prüfte Peter sein Werk, umkreiste er die stumme Muse. Plötzlich hielt er in der Bewegung inne, beugte sich über. Ohne aufzusehen, griff er nach einem Pinsel. Und übermalte mit gewagten Schwung eine unbefleckte Partie ihres rechten Schenkel. „Perfektion in einer perfekten Welt, meine liebe Lydia. Schwierige Zeiten erfordern schwierige Maßnahmen oder schwierige Zeiten erfordern einfache Maßnahmen. Wie dem auch sei. Perfektion. Ist hier auch nicht das Ziel. Und doch betrachte das Meisterwerk. In der Ecke steht ein Spiegel.“ Lydia regte sich nicht und als Peter die Erkenntnis traf, schlug er sich in einem Moment erfrischender Klarheit mit der flachen Hand gegen den Kopf. „Aber natürlich.“ Mühsam schleppte Peter den überlebensgroßen Spiegel zu Lydia. Doch deren Blick blieb leer. „Wie erwartet. Berührt von der eigenen Schönheit, geblendet von dem Schein. Das bist du und so wurdest du geschaffen.“ Zur Tür gewandt fuhr Peter fort: „Hermann, Mann, ich sehe dich, du lüsternes Tier, hinfort mit dir. Geh und hol Schulz. Dein Dienst ist verrichtet.“ Dann schließlich ging Peter zu Lydia und legte ihr ein verschlossenes Reagenzglas in die Hand. „Der schöne Schein dieser Welt, gefangen in der Geste der Vergangenheit.“ Aus weiter Entfernung drangen hohle Schläge zu ihnen. „Unser Gast ist eingetroffen.“

Mit vorgehaltener Hand stand Sven vor dem riesigen Portal zu Schulz‘ Anwesen. Getrieben schlug er im Rhythmus des fallenden Schnees auf die Tür ein. Doch eine Antwort blieb aus. „Herrmann, Mann, Schulz, Peter, Zeus, Lydia, aufmachen.“ Die Schreie verklangen in der weißen Nacht, sodass sich Sven gezwungen sah zum Äußersten zu gehen. Zitternd vor Kälte und Erregung hob er die steife Hand und zielte auf das eiserne Schloss. Und drückte ab. Doch der stumme Schuss verhallte wirkungslos in der Schwärze. Sven ließ sich auf den Boden fallen und blickte mit geschlossenen Augen nach oben. Sterne funkelten wie Schnee am Firmament der Lider. Als er eine Weile so dalag und überlegte zu erfrieren, spürte er in seiner Hose etwas Hartes und zog einen verschlossenen Umschlag aus seiner Tasche. Sven erinnerte sich, dass es der Brief war, den er vor einigen Tagen auf dem Arbeitsamt von Volker bekommen hatte. Er öffnete ihn und fand darin einen großen, an Verzierungen reichen Schlüssel. Das Gesicht verzerrt, gepeinigt von hysterischen Lachanfällen öffnete Sven das Tor. Mit Mühe streckte er die Fingerpistole in die Höhe, jederzeit bereit zum finalen Schuss. Doch in den Gängen, durch die er kam und an die er sich nicht erinnerte, waren keine Menschen zu sehen. Auch die Eingangshalle mit ihren monumentalen Perversionen war geleert. Nur manchmal vermeinte Sven Schritte zu vernehmen. Ein Tapsen, ein Klacken, hinter der nächsten Tür, doch die Wege verzweigten sich nur immer weiter, bis er schließlich wieder am Eingang angelangte. Erigierte Wut trieb unseren Helden an und immer weiter, vorwärts wieder tiefer in das Schloss der Phantasie.

Die maskierten Jünger waren dem Gebäude entschwunden und kilometerweit erstreckten sich die verwaisten Korridore. In des Wahnsinns Gefolge sah sich Sven durch die, nur von Kerzenschein erhellte, Dunkelheit getrieben. Dicht auf seinen Fersen, doch stets in sicherer Entfernung, hatte Hermann die Spur gewittert und folgte dem erwünschten Gast durch Schulz‘ Labyrinth. Plötzlich verstummten die Geräusche vor ihm und Hermann versteinerte in seiner Bewegung, um dem Echo des Gemäuers zu lauschen. In diesem Moment bemerkte Hermann seinen Fehler. Hinter ihm kam aus einer schmalen Nische in der Wand Sven hinausgetreten. Die Fingerwaffe in seinen Händen zitterte, doch war sie sicher auf Hermanns nackte Brust gerichtet. Aus Hermann’s Mund drangen klagende und mitleiderregende Geräusche, doch unnachgiebig bog Sven den Finger nach innen. Ein Knall ertönte und getroffen, sank der blutende Körper Hermanns zu Boden. Die Lider zuckten, die Glieder, der ewigen Spannung entledigt, zitterten wild, doch schließlich ermatteten die massiven Muskeln und fielen in einen friedvollen Schlaf. Ehrfürchtig besah Sven seinen Finger, ungläubig zollte er den konzentrischen Kreisen, die seinen Fingerabdruck bildeten, Bewunderung. Hermanns Blut war warm als Sven es betastete. Während er neben dem leblosen Korpus danierder hockte, öffnete sich an der gegenüberliegenden Seite des Ganges eine Tür. Es war Schulz.

Mein Lieber. Mein lieber, lieber Sven. Was hast du nur getan.“ Hastig eilte Schulz auf Sven zu. Das breiteste Lächeln zierte sein Gesicht. „Der arme Hermann, der nie die Erlösung erfahren hat, nach der er immer gestrebt hat. Vor kurzem erst zerstörte er wieder seine monströsen Statuen um einen Neuanfang zu wagen.“

Keinen Schritt weiter.“ Auch Sven lächelte. Wieder hatte er Daumen und Zeigefinger zur Pistole erhoben und zielte damit auf Schulz. Langsam ging er auf ihn zu und hielt ihm seinen Zeigefinger an die Schläfe.

Oh nein.“, in gespieltem Entsetzen riss sich Schulz die Hände vor den Mund. „Die tödlichste Waffe, welche die Menschheit je geschaffen hat, bedroht nun auch mein Leben. Also bist du der Wahrheit auf die Spur gekommen. Solch einfache Weisheit, so abstrakt verpackt. Der arme Hermann-Mann wollte dir doch nur den Weg weisen. Jetzt ist er tot, das arme, perverse Menschenkind. Aber nun komm.“

Lachend und mit weiterhin erhobener Waffe folgte Sven, dem voranschreitenden Schulz bis zu einer unscheinbaren Tür. Sven öffnete sie mit einem Tritt. Dahinter saß auf einem hölzernen Stuhl Lydia. Peter stand begeistert neben ihr und schwang den Pinsel. „Sven, das ist aber schön. Habe ich deine Braut endlich eingefangen. Das wird ein Fest!“

V

„Sie liegen weich und entspannt. Schließen Sie Ihre Augen. Sie sind ganz ruhig und können Ihren Herzschlag hören. Alles um Sie herum ist friedlich und gut. Atmen Sie tief ein und wieder aus, ein und aus. Nichts in der Welt kann Sie aus der Ruhe bringen.
Außer die Tatsache, dass du arbeitslos bist und immer bleiben wirst, wenn du hier nur rumliegst. Du faules Schwein, steh endlich auf und schreib Bewerbungen. Ja, guck nicht so blöd. Wenn du dich nicht sofort aufraffst, kürz ich dir die Leistungen und…“
Sven schaltete den CD-Player aus. So hatte er sich die Motivations-CD vom Arbeitsamt nicht vorgestellt. Er ging zum Kühlschrank, doch es war keine Schokomilch mehr darin. Er ließ sich zurück auf die Couch fallen und versuchte nachzudenken. War irgendwas passiert die letzten Tage? Er konnte es nicht sagen. Sein Kopf schmerzte und sein Magen knurrte. Einkaufen wäre eine gute Idee und vielleicht Peter besuchen. „Peter…“, sagte er leise vor sich hin. Was er wohl gerade macht?

Das Dorf war von einer Schicht frischem Puderschnee überzogen und fast menschenleer. Sven stapfte ein paar Schritte die Straße herunter, drehte dann aber um und entschied sich, doch das Fahrrad zu nehmen. Der Himmel war trüb und grau und in Dämmerung begriffen. Es hatte den Anschein, als würde jeder Tag dieses Winters genau so aussehen wie der heutige. Der Supermarkt, der früher Konsum hieß, was er immer mit Doppel-n und -m bzw. kurzem o und u aussprach, weil er sich unter dem Begriff ‘Konsum’ nichts vorzustellen vermochte, schimmerte von weitem wie ein gestrandetes Raumschiff, unbewegt und spärlich beleuchtet. Ein prüfender Blick ins Portemonnaie verriet ihm, dass sein Geld gerade so für eine Schokomilch reichte, vielleicht zwei. Er nahm eine Flasche aus dem Kühlregal und ging direkt zur Kasse. Der Kassierer kam ihm sehr bekannt vor, er sah aus wie eine Kopie Peters. Es war der dicke Mann vom Arbeitsamt und er grinste, als wäre seine Uhr vor langer Zeit beim Onanieren stehengeblieben.
“Was zur Hölle machen Sie denn hier?”, fragte Sven fassungslos.
„Ach, Herr Sven, so eine Überraschung. Minijob, Herr Sven. Ich habe viele Münder zu stopfen, wenn Sie verstehen.“, und er zwinkerte so unmissverständlich oft, dass Sven sich wegdrehte, um nicht vom Windstoß des Augenaufschlags umgeweht zu werden.
„Hier, bitte, sagte Sven und legte die Schokomilch aufs Band.“
„Soso, eine Milch Typ Schokolade. Das macht dann fünf Euro.“, sagte er, ohne das Etikett zu scannen.
„Nee…“, sagte Sven, „das kostet keine fünf Euro.“
„Fünf Euro!“ erwiderte Arbeitsamt-Konsum-Volker mit ernstem Grinsen.
„Mensch, jetzt scann die scheiß Flasche, du Psycho!“, platzte es aus Sven heraus und er zückte seinen rechten Zeigefinger, spreizte den Daumen ab und griff mit der linken Hand darunter, worauf Volker erschrocken die Hände hob. „Peng!“, sagte Sven, nahm die Flasche vom Band und verließ gereizt den Supermarkt.

Amok

Gedankenverloren bestieg er sein Fahrrad und radelte instinktiv zurück nach Hause, als er an einer kleinen Nebenstraße einem herannahenden Auto die Vorfahrt nahm. Das Auto folgte ihm langsam, der Fahrer ließ die Scheibe herunter und brummte: „Hier ist rechts vor links!“ Und nach einer Weile: „Licht könnteste auch mal anmachen.“ Sven Halsschlagader weitete sich zu einer Hass-Pipeline. „Siehst du hier irgendwo Licht an diesem scheiß Fahrrad?“ Mit gutbürgerlicher Empörtheit schaute der Mann zu seiner Frau, die nur gelangweilt auf die Straße starrte. „Hör mal zu, Jungchen…“, fing der Mann an, verstummte jedoch sofort wieder, als Sven seine Fingerpistole auf ihn richtete. „Peng!“, rief Sven leicht hysterisch und der Wagen bremste abrupt ab. Einen sich panisch duckenden Fahrer und seine weiterhin gelangweilt dreinblickende Frau hinter sich lassend, radelte Sven mit erhöhtem Tempo weiter, bis er seine alte Grundschule erreichte.

Er erinnerte sich an ein Gespräch, das er vor einiger Zeit mit Peter geführt hatte. An manch schwermütigen Tagen, an denen Peter ihn mit penetrantem Schweigen quälte, machte er sich ernste Gedanken über seine Zukunft und fantasierte darüber, wie es wäre, einmal eine Frau zu haben, zu heiraten und letztlich auch Kinder zu haben. Themen, die bei Peter überhaupt nicht gut ankamen.
„Nach Partnerschaft sehnen sich nur unvollständige Menschen, sagte er. Sicherlich haben wir alle unsere Triebe, aber Sexualität ist die teuflische Falle, in die die meisten tappen. Ich meine, ganz ehrlich, ein Mensch hat seine Hände zur Selbstbefriedigung. Sex sollte einzig und allein der Fortpflanzung dienen, es sieht ja auch albern aus. Nur jemand, der für das Alleinsein charakterlich nicht in der Lage ist, bemüht sich um einen Partner. Und die Ehe ist einfach ein veraltetes Konzept.“
Ob er dann nicht wenigstens zu Fortpflanzungszwecken Sex haben wollen würde, wandte Sven ein.
„Weißt du, was ich Eltern erwidere, die mir weismachen wollen, dass Kinder ne tolle Sache sind? Du krankes Monster!, sag ich. Hast die Spirale des Leids weitergeführt, obwohl es in deiner Macht als vernunftbegabtes Individuum lag, sie zu durchbrechen.“

Sven hauchte ein wenig Wärme in die vorgehaltenen Hände. Seine Gedanken kreisten um die Worte Peters. Es lag in seiner Macht, dem ganzen Leid ein Ende zu setzen. Mit der Fingerpistole in seiner Jackentasche auf Anschlag, ging er das Szenario durch. Reingehen – Peng! Peng! Peng! – rausgehen. Doch plötzlich holten ihn Erinnerungsfetzen der letzten Tage ein und es zerriss ihm beinahe den Kopf. Schwankend und fieberhaft fuhr er nun zu dem Ort, an dem er Antworten zu finden glaubte.

Huch, es schellt
Herrmann, lass ein
Wer, um alles in der Welt mag das wohl sein?
Scheint mir, da der Hund nicht bellt
Müssen‘s wohl deine Tochter und ‘s Peterle sein.

IV

Der Fluss war groß und dunkel und floss über durchsichtigen Grund. Umrisse von transparenten Bergen erhoben sich am Horizont. Zuerst kroch die Kälte ihr unter die nackte Haut, doch je weiter sie schritt, änderte sich die Temperatur und die Farbe des Wassers wechselte von tiefen schwarz, zu einem bläulichen weiß bis es schließlich rot war wie ihr Haar und kochend feurige Blasen warf. Die Stiche in ihrer Brust waren groß und immer noch rann das Blut unbarmherzig an ihren Armgelenken, am Bauch und den Beinen hinab. Sie konnte sich nicht erinnern je gedacht zu haben und zum ersten Mal sah sie ihre Füße, die sie tiefer in diese neue Welt trugen. Es war die einzige und schönste, die sie kannte. Lydia fragte sich, ob die Welt erst jetzt geschaffen wurde, da sie den Dingen Namen gab. In einer unbekannten Sprache, die keine Übersetzung kennt und daher keine Welt ist. Eine sinnlose Welt, die nur für ein Geschöpf existiert und nie wieder belebt wird.

Immer breiter wurde der Fluss, der sich wollüstig mit dem Blut an ihren Armen vereinte und dessen anderes Ende sie nun nicht mehr erblicken konnte. Einige Tage musste sie durch die Weiten dieser neuen Welt geschritten sein, denn regelmäßig veränderte sich die Schattierung, die das Wasser auf den weit entfernten Horizont und die nicht näher kommenden Berge warf. Neugierig beobachtete Lydia alles, was sie sah und gab dem Wasser einen Namen, der nicht Wasser war, den dunklen, in Schatten gehüllten Bäumen, einen Namen der nicht Baum oder Schatten war und allen Gegenständen einen neuen Namen. Lydias Sprache unterschied nicht zwischen den Dingen, kategorisierte und katalogisierte nicht, beschrieb und analysierte nicht und kannte nur ein Wort.

Nach einer langen, langen Reise erblickte sie am Rand des Flusses etwas, das wir als Boot kennen und dem Lydia nach einiger Zeit den gleichen Namen gab, wie den anderen Dingen auch. Als sie sich daran machte, das Boot zu besteigen, trat ein alter Mann an ihre Seite, blickte sie grimmig an und streckte ihr die offene Hand entgegen. Lydia kannte jedoch keinen Ausdruck und keine Gesten und so verstand der Mann und stieß das Boot vom Ufer ab, während er zurückblieb und sich der Sinnlosigkeit des Grußes bewusst, seine Hand zum Abschied hob. Lichter kamen und gingen, die Dunkelheit brach auf dem riesigen Gewässer über sie herein und Sonne und Mond spiegelten sich auf der mal ruhigen, mal tief zerfurchten Oberfläche des nun wieder völlig schwarzen Wassers. Während das rote Blut weiter an ihr herab floss, erreichte das Boot festen Untergrund und mit einem heftigen Ruck fiel sie in das undurchdringbare Wasser. Alles war nun schwarz und das gefiel ihr, denn auch die Dunkelheit macht keine Unterschiede.

Als sie wieder zu sich kam, lag sie auf einer großen Wiese, auf der kleine Büsche wuchsen, die an einem langen Stiel rosafarbene Blüten trugen. Ein zartes gelblich goldenes Rinnsal schlängelte sich zwischen den Pflanzen einen sich leicht wölbenden Hügel hinab. Lydia erhob sich und je weiter sie sich der Spitze des Hügels näherte, um so deutlicher wurde, dass dort eine Gestalt stand und in ihre Richtung blickte. Zwei weitere Schemen saßen zu ihren Füßen und hatten Lydia den Rücken zugewandt.

H: Man gut, dass Mo immer noch nichts checkt. Zapft einfach immer weiter, ohne Rücksicht auf Verluste.
D (griesgrämig): Nichts hält für die Ewigkeit.
H: Das wir den Pan verloren haben, ist da halb so schlimm. Verloren im Nirwana. Warum eigentlich?
D (schweigend)
H (sein Glas zu Mo gebend): Dann haben wir wenigstens noch uns. Zwei allein. Oder drei, zumindest.
Lydia zu ihnen tretend, schweigend.
D: Na endlich passiert hier mal was. Name? Alter? Geschlecht, wobei…
H: Na und wenn was passiert, dann passiert es richtig. Hallo Schönheit, nicht so schüchtern.
Lydia schweigend.
D erkennend.
H: Ich zeige dir die Schönheit dieser Welt, zeige dir schwarze Fluten und blaue Nächte, hohe Täler und tiefe Klippen. Mo ein Glas für die blutende Dame.
Mo (mit erhobener Hand in eine unbestimmte Richtung zeigend): Peter.
D. (mit blassem Gesicht): Es ist soweit, es geht zu Ende.

Stille. Nach einer Weile leises Summen, das sich wiederholt. Bald sind die Worte zu erkennen: Und in donnernder Wut, am Felsen zerschellt, von Wasser umspült, zum Mahl verspeist, wurde sein Herz geborgen und neu gestaltet, in Chaos geboren, die Welt zu retten, kann es nur einen geben.

Peter (auf Lydia zu gehend und den Arm um sie legend): Du musst noch einmal mit mir kommen. Bald ist es geschafft.
Lydia ergreift weiterhin schweigend Peters Hand.
Peter (an die anderen gewandt): So ihr Knalltüten, Schluss mit lustig. Oder wer weiß, vielleicht auch nicht. (kichert) Tschüsschen mit Küsschen.
Peter und Lydia gehen schweigend davon.

III

“Ihr ewigen Lichter da droben,
ihr strahlenden Augen, die mir
schwermütig ins gebrochene Herz
schauen, seid ihr auch bevölkert,
mit Kindern des Grams wie
dieser taumelnde Ball?”
A. E. Brachvogel

„Guck mal, Herrmann, was für dich!“ Schulz zeigte auf das aufleuchtende Zitat an der Wand, während die Kaffeetafel gerade von seinen Jüngern schweigend abgeräumt wurde. „Aus dem Trauerspiel Narziß, du alter Trauerkloß. Müsste dir doch gefallen. Aber was sag ich! Dir ist doch nicht beizukommen, nicht mal der langsam einsetzenden Tod deiner Tochter. Abgeschlachtet von, ja, ach, was soll’s.“
Herrmann schaute mit einem Blick tiefster Deprimiertheit zu Schulz auf. „Aber mein Zeus…“
„Zeus, Zeus, hör mir doch auf mit Zeus. Seh ich aus wie dieser allzerfickende Lude? Ja, okay, ich hab es in der Vergangenheit hin und wieder wild getrieben, aber ich war nie rachsüchtig. Weißt du, wie man Zeus auf Englisch sagt? Zeus!“
„Suß?“, flüsterte Herrmann.
„Ja, Suß! Stell dir das doch mal vor! Klingt doch wie die Seuche. Einfach keine Kultur, diese angelsächsischen Kackbratzen. Ich schweife ab. Herrmann! Jetzt schau mich an, ich sag es dir noch einmal. Deine Tochter, Lydia, meine Nichte, verblutet gerade jämmerlich in der verdammten Kirche dieses Schweinepriesters. „Herrmanns Augen funkelten ein wenig bei der Erwähnung ihres Namens.“ Und rate mal, wer sie abgestochen hat? Dein Sohn Sven, Herrmann!“ Herrmanns Augen rissen auf, ein Anblick, den Schulz seit Jahrzehnten nicht mehr bei ihm gesehen hatte. „Na, klingelt’s? Dann können wir den ganzen Bums ja jetzt mal auflösen, ich hab dich schließlich lange genug in Schutz genommen, du feiges Fossil.“

Und Schulz erzählte, wie Herrmann eines Tages vor seiner Tür stand, in Tränen aufgelöst, hilflos. Was denn um alles in der Welt passiert sei, wollte er damals wissen. Aber von Herrmann kam nur Schluchzen und ein kümmerliches: Ich kann das nicht mehr. Er erfuhr später, dass sein Schwager durch seine Ehe psychisch zermürbt war. Zu früh geheiratet, zu früh Kinder bekommen, die weitreichenden Konsequenzen ausblendend, bis es immer öfter krachte. Lieber früher als zu spät die Notbremse ziehen, bevor man zu sehr an den Kindern hängt oder umgekehrt. Warum er seiner Schwester in den Rücken fallen sollte und Herrmann Unterschlupf gewähren? Nun ja, seine Schwester hatte, seiner Meinung nach, eh einen leichten Dachschaden und überhaupt, was kümmerten ihn die Geschicke der Menschen?

„Sieh, was aus dir geworden ist, Herrmann. Bequem hastes dir bei mir gemacht. Völlig verblödet bist du, könnte man meinen, antriebs- und instinktlos, ein niederes Tier, das man ohne Skrupel zertreten könnte. Weißt du: Mit dem Gehirn verhält es sich wie mit der viel zu oft zitierten Katze Schrödingers. Sobald man über das Denken nachdenkt, ist das Ergebnis verfälscht. Daher ist der Instinkt umso wichtiger. Herrmann!“

Da sprang Herrmann auf und stürzte wie besessen aus dem Saal heraus.

„So ist’s recht, mein treuer Freund. Schau nach, ob die verschissene Katze, pardon, deine Tochter noch lebt oder schon gestorben ist. Dein Eingreifen verfälscht auf jeden Fall das Ergebnis!“, schrie Schulz, aber Herrmann war schon über alle Berge.

II

„Nun geh schon Sven, wenn Papa dich ruft“, auffordernd schwenkte Peter die Arme.

„Ach, und meine Kleine habt ihr auch gefunden.“ Die Augen des Priesters glänzten beim Anblick der roten Haare. „Mein süßes Püppchen will uns vielleicht Gesellschaft leisten. Was meinst du Sven? Wie zu guten alten Zeiten als die Liebe noch rein war und ungebunden?“ Erst jetzt bemerkte der Geistliche, das zwischen seinen Füßen hervorquellende Blut. Sein Blick erstarrte und er kniete sich zu der auf dem Boden liegenden Lydia. „Meine Liebste, was hast du? Geht es dir nicht gut? All die Schnitte und Wunden… Wer war es… Wer hat dir dies Leid getan?“ Und aus tränenden Augen erstarrt, wuchs der Hass. „Ihr beide, Teufel, Dämonen, Abschaum mit dem ich mein Bett geteilt. Hinfort aus meinem Haus. Unerhörte Kinder vergangener Jugend, missratene Brut, die sich an der Brust des Teufels nährt.“ Mit letzter Kraft umklammerte der Priester das Kreuz, das an einer Kette um seinen Hals hing. „Verschwindet aus dem Tempel der Barmherzigkeit, aus dem Haus des Einen. Hinfort.“

Das Messer in Svens Hand hatte sich inzwischen von Peter abgewandt und zeigte nun direkt auf den Priester. Svens Lachen hatte das bizarre Schauspiel als Hintergrundrauschen begleitet und erklang jetzt in voller Lautstärke: „Ihr beiden. Du und dein Monster haben mich zu dem gemacht, was ihr jetzt vor euch seht. Alles was ich wollte war ein ruhiges Leben. Unwissend und belästigt, ohne Erfahrung und ohne Sinn. Doch dann taucht deine Dienerin in immer neuen Verkleidungen auf, sucht mich heim, lässt mich zweifeln und führt mich in den Abgrund. Denn dort stehe ich, am Abgrund. Und alles was ich habe, ist die Hoffnung, dass ein Opfer uns retten wird.“ Mit diesen Worten machte sich Sven daran auf den Priester zu zustürzen. Das Messer weit über seinen Kopf erhoben, schlug Peter ihm mit der Faust auf den Hinterkopf. Ein metallenes Klirren auf dem Steinfußboden und der in sich zusammenfallende Körper Svens, der endlich seine vorübergehende Ruhe gefunden hatte.

„Nun gut, Alter, dann gehen wir mal.“ Peter warf sich den ohnmächtigen Sven über die Schulter. Mit einem angedeutetem Nicken in Lydias Richtung sagt er: „Lad mir die mal auf. Die kommt mit.“ Unfähig zu widersprechen, hob der Priester Lydia in die Höhe. „So, na dann mal los. War schön Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Sehr erhellend. Aber diese Beziehung zwischen Ihnen und dieser Rothaarigen. Sehr ungesund, sehr unanständig. Herrmann’s Tocher in solch einem Haus.“

Der Priester umklammerte Peters Beine. „Was ist passiert, was war das? Was tust du mir an, oh Herr? Wessen Worte waren das aus meinem Mund, in welchen Zungen habe ich gesprochen, mir bisher unbekannt? Gewähre mir Erlösung. Nur dieser einzige Wunsch nach Erlösung.“ Die Stimme des Priesters erklang im Haus und durch die offenen Fenster in der Nachbarschaft und es war ungewiss zu welchem Gott er mit geschlossenen Augen betete. „Allmächtiger, ich flehe dich an.“

Kichernd schüttelte Peter den Kopf, schleifte den Priester noch ein Stück hinter sich her und verließ das Haus mit einem munteren „Horido“.

I

„Das beste am Kaffee ist doch ein schönes Stück Kuchen. Oder Kekse.“ Schulz tauchte einen länglichen Keks in seine Kaffeetasse. 2Immer schön ditschen, Herrmann. Ja, so macht man das.“ Herrmann grunzte vergnügt. „Weißt du, so eitel Kaffee schmeckt mir eigentlich gar nicht, diese heißbittere Plörre oder bitterheiße. Ich weiß nicht, wie sich die Leute heutzutage das Zeug so hastig reinkippen können, am besten noch im Laufschritt. Da verbrennste dir doch die Labbe oder kriegst gleich n Magengeschwür. Aber mit was Süßem, ja som anständigen Stück Kuchen oder notfalls Keksen, das ist Kultur. Hochkultur und Hochgenuss.“ Herrmanns Keks brach ab und versank in der Tasse. Schulz schien es nicht bemerkt zu haben. Er fuhr fort: „Mir scheint gar, dass Kaffee und Kuchen eine Art heilige Allianz bilden, einzeln betrachtet sind beide jedoch Teufelswerk. Kuchen mit seinen ekligen Kalorien und Kaffee mit seiner elendigen Bitterkeit. Wie kann man nur solche Genussmittel gehend verzehren?“ Schulz machte eine ausufernde Geste und blickte mit feuchten Augen zur Zimmerdecke und wieder zu Herrmann, der seine Tasse von sich schob, weil deren Inhalt voll aufgelöster Kekskrümel war. Verzweifelt sah er zu Schulz rüber. „Ach Herrmann, schade ist es schon. Er nahm noch einen Keks und ditschte ihn tief in den Kaffee. Arme Lydia, armes Mädchen.“

„Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Jesus Christus und Casanova?“ Peter stand in der kleinen Küche und schaute Sven nichtssagend an. „Der Gesichtsausdruck beim Nageln.“ Sven brach in schallendes Gelächter aus. Peter bemerkte die drastische Veränderung, die sein Freund vollzogen haben muss. Der besonnene, liebenswerte Sven war nur noch eine Hülle, aus der der Wahn hervorquoll. Lydias regloser Körper am Boden bezeugte den Zerfall seinen Freundes symbolträchtig. „Guck, wie hässlich sie aussieht.“, sagte Sven wutschnaufend und nach einer bedrohlichen Kicherpause bemerkenswert klar: „Alles, was mir an schlechtem widerfahren ist, hat seinen Ursprung in dir. Du sollst bekommen, wonach dir seit jeher der Sinn stand. Abstechen werde ich dich, so wie du es wolltest. Die Genugtuung gebe ich dir, auf dass sich danach alles zum Guten wendet.“

Peter schloss für eine Weile Mund und Augen. „Du überraschst mich sehr, das alles geht jetzt doch ein bisschen schnell. Du weißt, dass sich gar nichts ändern wird. Und was hatte sie eigentlich mit der Sache zu tun?“
„Halt die Klappe, Peter! Sie ist nur eine Puppe, sie hat nichts mit irgendwas zu tun. Völlig belanglos.“
„Sven, jetzt bist du tatsächlich durchgeknallt. Schau dir das Puppenblut an, riech daran. Sieh, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen und selbst ihr rotes Haar an Glanz verloren.“
„Halt’s Maul!“, schrie Sven. „Brauchst gar nicht so scheinheilig zu tun. Ich werde diesem ganzen Treiben hier und jetzt ein Ende setzen, indem ich dich töte.“

In jenem Moment flog die Tür auf und der Priester trat vor, sich die Augen reibend. „Was ist denn das für ein Lärm hier? Komm wieder ins Bett, Sven. Komm zu Papa.“

VI

Ach Sven nichts ist so wie es mal war und weiter geht hier schon gar nichts mehr. Das weißt du selbst am besten.“, der Mund des gekreuzigten Peters verzog sich unnatürlich und bei jedem Wort schienen die Bewegungen der Stimme einen Augenblick zu spät zu folgen. „Die einstigen Winter sind vergangen und was jetzt folgt sind trübe Gedanken und eine zerbrochene Welt.“ Die Umrisse des an der Wand hängenden Körpers waren nur undeutlich zu erkennen und schienen sich im Takt der Sekunden zu verändern. Die Holzfigur hatte seine Materialität verloren und der runde Kopf Peters war jetzt kahl rasiert und lachte Sven aus zusammengekniffenen Augen fröhlich an. „Aber was jetzt zerbrochen scheint, hat sich nie verändert und war schon immer verloren. Mo hat das begriffen.“ Stetig verschwamm das Gesicht vor Svens Augen und kaum hatte es eine Gestalt gefunden, zerschmolz es in einer fortdauernden Suche nach seiner finalen Gestalt. Der Efeukranz, der sich auf dem unbehaarten Schädel manifestiert hatte verschwand und die Züge des blassen Antlitz wurden animalischer. In einer fließenden Bewegung wuchs die Nase in den Raum hinein. Unbeteiligt verfolgte Sven das Schauspiel, setzte sich auf den Boden und kicherte leise, während sich der gekreuzigte Ganesha in Lydia verwandelte. Ihre roten Haare fielen auf ihre Schultern. Nackt hing sie vor ihm und lächelte ihn an. Er hatte die Hände auf den Boden gestützt und machte Anstalten aufzustehen, doch nur kurz darauf ließ er sich lachend zu Boden fallen. Hilfesuchend blickte Lydia zu Sven und versuchte sich von den Pflöcken in ihren Handgelenken zu lösen. Blut lief an ihr hinab und bald darauf vermischte es sich mit dem rot ihrer Haare, bis nur noch das Gesicht weiß war.

Sven lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden, hörte von weitem, gedämpft durch sein eigenes Lachen, das leise Wimmern Lydias. Das verklingende Leid, dass hinter der Schwärze von Svens Lidern undeutlich hindurch schimmerte, trug ihn hinüber in eine andere Zeit. Wieder ein Geruch, denn ohne ihn existiert keine Erinnerung. Ein altes Haus. Etwas im Holz. Moder. Und dann auch wieder nicht. Die Unmöglichkeit einer Beschreibung und die Erkenntnis, dass es aus diesem Grund Sinne gibt und nur Menschen die Sprache brauchen, um etwas zu beschreiben, das nur in Gedanken existiert. Ein fortwährender Kampf der Analyse des Gelebten und wie wir es erleben und warum wir leben. Das ewig menschliche Mysterium: Dekonstruktion der Sinne zur missratenen Rekonstruktion der Welt. Und das Scheitern ist unausweichlich. Etwas fehlt oder ist zu viel. Ich analysierte den Moder und er ging dahin und roch Verwesung und wusste nicht, was es war und er war glücklich. „Der Gedanke. Ein gescheiterter Versuch.“, dachte Sven und hoffte zu verstehen, während sich Lydia zuckend vor ihm bewegte und schließlich erstarrte. Er fühlte eine tiefe Müdigkeit in sich aufsteigen und sank wieder auf den Boden. „Es ist Zeit für ein Opfer“, dachte Sven und fragte sich wo er war und was Peter mit ihm machte.

V

Der Himmel erwachte in perfektem dunkelblau. Wie spät es wohl war, dachte Sven und rieb sich die Augen. Er war vor dem Fernseher eingeschlafen. Er trat ans Fenster und sah dicke, weiße Flocken vom Himmel fallen. Auf irgendeine Art fühlte er sich in diesem Moment sehr geborgen und schwelgte ein wenig in melancholischer Erinnerung an winterliche Morgengrauen aus unbeschwerten Kindheitstagen.

Von irgendwo roch er gebratene Zwiebeln und Knoblauch. Dem Geruch folgend, schritt er durch einen schmalen Gang bis zu einer Tür, hinter der er Stimmen vernahm. Er öffnete sie einen Spalt und fand sich in einer recht weiträumigen, spartanisch eingerichteten Küche wieder, wo Peter und der Pfarrer angeregt an einem alten Gasherd etwas in einer Pfanne zubereiteten. “So, mein Libber, eins zwei Schalöttschen musste aber noch dazutun.”, sagte Peter und der Pfarrer leistete seiner Anleitung Folge. “Hach, riescht dat nisch herrlisch. In die Pfanne könnt isch misch glatt reinlejen, so fantastisch riescht dat.” Sven fühlte sich unweigerlich an einen Fernsehkoch erinnert, dessen Name ihm aber nicht einfiel. Vielmehr wunderte ihn Peters Verhalten. “Morgen! Ihr seid aber schon früh auf den Beinen. Was kocht ihr denn Schönes?”, fragte Sven. Doch die beiden schienen ihn nicht zu bemerken und würdigten ihn keines Blickes. “Schätzelein, jetzt noch schön die Kartoffeln dazu un ein bissken Speck. Genau so – ein Träumchen!” Die beiden schienen so vertraut miteinander. Sven beobachtete die Szene eine Weile, sah, wie Peter den Pfarrer mehrmals mit einem wonnigen Lächeln am Arm tätschelte, bemerkte das lockere Mienenspiel, die neckischen Andeutungen, kurzum: Es wirkte auf ihn, als stünden da zwei beste Freunde und trieben Schabernack am Herd. Von der homoerotischen Komponente mal abgesehen und der Tatsache, dass Peter Schwule, Dialekte und Kochen hasste, und dass er für die beiden nicht anwesend zu sein schien, blieb Sven gelassen und sogar das vorherige Wohlgefühl aus Kindheitstagen kehrte in ihn zurück. Es erfüllte ihn regelrecht mit Glück, dass er den Zustand zumindest im Ansatz wiederherstellen konnte, denn das gelingt nur ganz selten im Leben.

Seine Nase tropfte, ohne dass er es merkte. Zu seinen Füßen hatte sich eine kleine Pfütze gebildet. Die Küche war leer, nur der Geruch von Bratkartoffeln und Speck lag noch in der Luft. Er wünschte sich in diesem Moment, wenn künstliche Intelligenzen irgendwann einmal in der Lage sein sollten, sich in das Gehirn eines Menschen einzuhacken beziehungsweise einzufühlen, genauer und wertfreier als ein Mitmensch es je könnte – ist er doch in erster Linie auf seinen eigenen Vorteil aus – von einer solchen Maschine entdeckt zu werden, dass sie sein wahres Potential zum Vorschein brächte. Aus feuchter Nase wurden feuchte Augen. Der gekreuzigte Jesus an der Wand trug Peters Antlitz. „Sag mal, Peter“, flüsterte er mit brüchiger Stimme, „Glaubst du, dass es im Leben irgendwann mal nicht mehr so weitergeht wie bisher?“

IV

Der Priester saß Peter schweigend gegenüber. Sie hatten sich in einen kleinen Raum des Turmes zurückgezogen. Von Sven unbemerkt war Peter bestimmt und ohne Zögern durch die Gänge geschritten. Der Geistliche hatte sich nicht getraut zu widersprechen und war von der Situation sichtlich berührt und erschrocken. Etwas in ihm hatte ihm gewahrt nicht zu widersprechen, der imposanten Gestalt und dem zügellosen Wesen Peters keinen Widerstand zu leisten. Viele Zweifel hatte er durchlebt, Menschen hatten sich von ihm und seinem Haus abgewandt. Er war der stumme Verwalter eines versinkenden Glaubens, der unter der Last der Moderne und immer neuen Schichten digitaler Relikte erdrückt wurde. Die Mystik und die Hoffnung, die ihn zu seiner Religion getrieben hatten, waren auch ihm immer schneller aus den Händen geglitten. Zwei Zahlen, die Bilder erschufen, auch das Bild des Einen manifestierten, und das Chaos ordneten, die Symmetrien schufen, wo das Paradies in unzählbare Fragmente zerfallen war, hatten ihn innerlich aufgerieben. Nachdem die Leute, seine Schäflein, zuerst zu ihm kamen um Rat zu suchen, später um ihm ihre Fragen anzuvertrauen, zitierten sie nun selbstbewusst die Antworten, der neuen Propheten, die ihre Lehren in den Foren der neuen Welt verkündeten. Mühelos sprangen sie dabei durch die Zeiten, überwanden Zeitalter und Kontinente, verbanden Kulturen und Weltsichten und gelangten dabei zu Einsichten, die so simpel und tiefgreifend waren, dass er immer tiefer in sich versank.

Die Welt ist komplex, dachte er, doch es gibt immer mehr zu tun, also muss die Welt einfacher werden. Wie kann ich etwas einfaches sagen?Er verstand seine eigene Begrenztheit, war frustriert über seine Hilflosigkeit und glücklich über seine Nutzlosigkeit. Und letztendlich, als auch die Alten gestorben waren und die Anderen eingesehen hatten, dass von ihm kein Trost und keine Hilfe zu erwarten war, hatte er sich immer weiter in seinen Turm zurückgezogen. Die Tür war verschlossen. Und doch hatte er seine Berufung nicht aufgegeben. In stummer Resignation hatte er sich seiner Religion ergeben und gehofft, dass all seine Gewissheiten nicht durch die Gewissheiten der vielen Anderen erstickt würden. Und doch kamen die Zweifel, kam das Andere, kam die Sünde und die Zerstreuung. War erst der Turm ein Bild seines einsamen Kampfes, wurde er mehr und mehr zur einer Kammer der Schrecken, die ihn heimsuchten. Die Zeit brach über ihn hinein und ließ ihn jeden Abend zitternd zurück, im Angesicht seiner eigenen Schwäche. Oft hatte der Priester Peter gesehen, wie er starr in sein Fenster blickte und dabei alles zu durchschauen schien. Die Mauern waren eine gläserne Fassade und auch er war nur eine seidene Hülle, die sein unbekannter Nachbar mit jedem Augenaufschlag durchschnitt.

Als der Priester nun die Tür öffnete und Peter erblickte, wusste er, dass der Moment der Büße gekommen war und er sich willenlos dem größeren Willen ergeben würde. Er war glücklich, dass die ziellose Suche beendet war und begriff, dass sein Streben nicht vergebens war. Es gab keine Religion und der Erlöser stand vor ihm.

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