XV

„Grimmig ging der alte Barkeeper zurück zu seinem Tresen und stieß dabei leise, längst vergessene Flüche aus. Das Gesicht zuckte rhythmisch im Takt seines Ganges und im Takt der abscheulichen Musik die den Raum für sich einnahm und die ohnehin belanglosen Gespräche übertönte und schließlich erstickte. Seit vielen Jahren arbeitete Mo nun schon in der schäbigen Dorfkneipe und seit vielen Jahren schon vegetierten seine Träume und Hoffnungen zum Klang der immer gleichen Partyhits. Niemand hier erinnerte sich an seine Vergangenheit oder den Tag an dem er plötzlich, wie aus dem Nichts an diesem Ort aufgetaucht war. Seine Gestalt hatte sich, in der schwülen Hitze eines vergessenen Sommertags manifestiert und existierte seitdem in der unbeschwerten Belanglosigkeit der immer gleichen Tage und Nächte.“

„Zuckend schleppte der alte Mann seinen Körper, der ihm schon lange nicht mehr gehorchte, zum Tresen. Es blieb den meisten, der wenigen Gäste verborgen, doch wirkte sein Gang wie ein unmöglicher, gottloser Tanz. Die Schritte waren lautlos, es schien als schwebe ein heiliger Bettler in göttlichem Wahnsinn, währenddessen der Chor der Engel, lieblich singend „10 nackte Friseusen“ intonierte.“

„Mo wollte sich wieder an die Arbeit machen, doch verharrte er im Anblick des großen Spiegels, der an der Stirnseite der Bar hing und den Raum größer erschienen ließ, als er eigentlich war. Betrunkene Gäste mochten es, ihre eigenen, im Suff verzerrten Gesichter, zu betrachten, an denen sie sahen, wie gut oder schlecht es ihnen morgen gehen würde und an denen sie einschätzen konnten, ob es Sinn machte, auf die nächste Runde zu verzichten und nach Hause zu gehen oder sich doch erst richtig zu betrinken.“

„Mo jedoch sah in diesem Spiegel nicht nur die immer gleichen Gesichter, sondern einen Schimmer von Wahrheit. In ihm zeigte sich ein Bruchstück der Wirklichkeit und in diesem Moment, erkannte Mo sich selbst, jung und voller Träume. Seine erste und zweite Ehe waren noch in unerreichbarer Ferne und ein Gefühl nahender Vollkommenheit breitete sich als physisch greifbares Phänomen im Raum aus. Pulsierende, psychedelische Lichter, blau und grün und rot flackernd, schwebten in der Luft und sanken durch die Schwere ihres Glücks zu Boden. Sie bedeckten Stühle, Bar und Fußboden und auch die Gäste wurden von ihnen eingehüllt.“

„Einen Augenblick lang war alles still, doch schließlich zerbrachen die gefallenen Lichter und ein rot-schwarzer Schein hüllte den Raum in Zwielicht. Flammen schossen aus der Wand und unter mühevollen Qualen krochen die Gäste unter der nun dunklen Decke aus Licht hervor. Ihre Gesichter waren verändert, die Haut rot und nackt und aus ihren Köpfen wuchsen Hörner und aus ihren Rücken Schwänze. Mo jedoch war immer noch in weißes Licht gehüllt und er sah sich, wie er wirklich war, jung und schön, der weiße Barkeeper des Lichts, der für und gegen die Kreaturen der Hölle anschenkt.“

„Im Wissen um eine endgültige, unumstößliche Wahrheit, wandte sich Mo mit einem Seufzer vom Spiegel ab. „Was für Kurze sollen’s denn für euch sein?“, rief er resigniert. „Dein Spezialgetränk mit Stroh 80.“, nuschelten die beiden Teufel friedvoll zurück.“

Sven und Peter hatten Mo mittlerweile völlig aus den Augen verloren und waren gleichermaßen überrascht und erschrocken, ihn nun dabei zu beobachten, wie er Bier- und Schnapsgläser auf ihren Tisch abstellte.

„Hier ihr Knallköpfe. Zwei Bier und zwei Kurze.“, sagte Mo leicht gereizt. „Und jetzt ex und raus. Euer Gelaber kann sich ja keiner anhören. Das ist ja ganz großer Scheiß. Und was redet ihr eigentlich wieder für nen Dreck über mich. Ihr zwei denkt wohl ihr seid ganz toll. Pseudo-Intelektuellen-Scheiß nenn ich das. Seid froh, das ich nicht alles mit angehört habe. Was glaubt ihr eigentlich wer ihr seid?“

„Ach Mo nun hab dich nicht so, wir kennen uns jetzt schon so lange. Ist doch nicht so gemeint.“, versuchte Sven die Situation zu bereinigen.

„Ach Mo“, fügte Peter laut lachend hinzu „wir sind halt freigeistige Künstler und so. Das musst du doch verstehen, auch wenn du es nicht verstehen willst. Was ist das eigentlich für Schnaps?“

„Mein Spezialgetränk. Stroh 80, Kirschsaft und der Rest ist geheim. Eigentlich zünde ich ihn an aber ihr zwei vergesst doch bestimmt das Zeug auszupusten und verbrennt euch. Auf sowas hab ich heute echt keinen Bock mehr. Krankenwagen, vielleicht noch Polizei. Nene lass ma…“

„Also hast du unser Gespräch doch belauscht!“, sagte Peter vorwurfsvoll.

„Belauscht!? Belauscht?! Was soll das denn jetzt wieder. So einen Scheiß belauscht doch keiner freiwillig. Künstler, ja?! Arschkünstler.“

Peter und Sven brachen in lautes Gelächter aus und konnten sich lange Zeit nicht beruhigen „Arschkünstler!?“, riefen sie immer wieder freudig erregt. Mo’s Gesicht und Bein begannen langsam auszuschlagen.

„Na wegen dem Schnaps. Da musst du uns doch belauscht haben.“, erklärte Sven schließlich.

Mo’s Gesicht zuckte immer wilder. Seine Augen waren glasig, wie immer wenn er wütend war. „Wird’s jetzt bald, aus und raus!“

Sven wollte Einspruch erheben, doch Peter hielt ihn zurück und deutete stumm auf ihre Gläser. Schweigend tranken sie erst Schnaps, dann Bier, bezahlten und verließen mit einem prägnanten „Tschüss, dann“ die Kneipe. Auf der Straße schauten sie sich an und begannen laut zu lachen. „Aus und raus!“, rief Sven. „Ich laufe also bin ich!“, antwortete Peter. Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten, sagte Sven schließlich „Na irgendwas sollte man jetzt schon noch machen!“. „Auf jeden Fall.“, stimmte ihm Peter zu „ heute und morgen sind eh verloren, da sollte man die Zeit jetzt schon nutzen!“

Inzwischen hatte Mo die Gläser der beiden abgeräumt. Ihr Lachen und ihre Rufe hatten sich noch eine ganze Weile, mit dem Lärm der Musik vermischt bevor beides letztendlich verklungen war. Mo war allein. Skat-Rentner und der einsame Trinker waren kurz nach Sven und Peter aufgebrochen und so wischte Mo die Tische ab und spülte die von Händen und Lippen fettigen Gläser. Als er mit allem fertig war, streckte er sich und gähnte laut. Er betrachtete sich im Spiegel und sah die unförmigen und tiefen Falten, die grau-blonden Haare und den vom Zigarettenrauch gelben Bart. Keine Lichter und keine Jugend. Keine Teufel und keine Engel. Er schloss die Tür hinter sich und machte sich auf den Heimweg. Die Luft war kalt und nass und roch nach etwas Vergangenem. Langsam hinkte Mo nach Hause und sprach dabei zu sich selbst. „Zwei trunkene Gestalten gingen durch die Nacht. Die Lichter der Straßenlaternen flackerten und in den Schatten verbargen sich Engel und Teufel. Die Zukunft war für die beiden nächtlichen Wanderer ungewiss und unausweichlich. An der nächsten Straßenecke angelangt, bestellten sie sich ein Taxi und fuhren in die Dunkelheit. Die Nacht war noch nicht vorbei und würde Überraschungen bereithalten, an die sie sich am nächsten Tag kaum erinnern könnten. Auch sie würden versuchen das Puzzle aus Wirklichkeit und Phantasie zusammenzusetzen, bis sie schließlich merkten, dass nicht einmal die Puzzleteile existierten.“

XIV

Es war eine dieser Spätherbstnächte: dunkel, feucht, mucksmäuschenstill. Durch sie hindurch torkelten zwei angeheiterte Gestalten ihres Weges zur einzig passablen Kneipe des Ortes, euphorisiert schwatzend, kichernd und mit hochroten Köpfen.

„Ich laufe, also bin ich.“, hören wir Sven sagen. „Ich laufe, also bin ich.“, so als wäre es eine Eingebung. Seine Stimme überschlug sich leicht bei der Wiederholung des Satzes, was wohl auf eine Reaktion der Frischluftzufuhr in seinen absinthgeschwängerten Blutbahnen zurückzuführen ist.

„Bescheuert bis du!“, entgegnete Peter intuitiv.

Sie betreten den ‚Schmiedehammer’, die Kneipe mit dem überzogen urigen Namen, der trotz oder eher aufgrund seines Namens kaum Besucher anlockt.

„Na, was läuft, ihr Turteltäubchen?“, rief ihnen der Aushilfsbarkeeper beim Eintreten entgegen. Sven schaute Peter an, unterdrückte einen Lachanfall und prustete heraus: „Ich laufe!“ Johlend setzten sie sich an einen Tisch und gackerten Unverständliches vor sich hin, als Mo, wie alle den Aushilfsbarkeeper nannten, nach ihrem Getränkewunsch fragte.

„Zwei Bier und zwei Tequila, bitte. Aber eisgekühlt, ja?“

Mo nahm die Bestellung schweigend entgegen. Die Kneipe war fast leer. Nur ein weiterer Tisch war besetzt von Skat-Rentnern und an der Bar saß ein einsamer Mann, der gelegentlich an seinem Bier nippte und rauchte. Sven und Peter kannten ihn vom Sehen, wahrscheinlich war er jeden Tag hier. Im CD-Spieler lief irgendeine Uralt-Partyrock-Compilation auf Zimmerlautstärke. Man hörte, wie Mo die Biere und Tequilas auf ein Tablett stellte und damit langsam zu Sven und Peter schlurfte. Er zog das linke Bein ein bisschen nach und machte immer ein grimmiges Gesicht beim Gehen. Sven vermutete, dass bei ihm linkes Bein und linke Gesichtshälfte direkt miteinander verbunden seien und er deshalb beim Gehen Grimassen zöge.

„Dankeschön!“, sagten Sven und Peter unisono, während Mo wortlos von dannen zog.
“Hast du gesehen, wie der schon wieder drauf ist?”, fragte Sven.
“Wie immer halt.”, erwiderte Peter gleichgültig.
“Irgendwie muss ich bei seinem Anblick an diesen auto-, äh, autkro-, na diesen asozialen Erzähler denken.”
“Auktorial!”, warf Peter ein. “Du bist asozial.”
“Mo, der asoziale Barkeeper. Die ganze Zeit kein Bock und immer voll schlecht drauf.” Sven lachte laut auf.

Peter, der noch nicht betrunken genug war, um auf derartige Albernheiten einzugehen, wendete den Blick Richtung Bar, wo Mo sich gerade am Hintern kratzte. Er spuckte reflexartig das Bier aus seinem Mund zurück ins Glas, woraufhin beide in schallendes Gelächter ausbrachen.

Mo und die Skat-Rentner blickten nun argwöhnisch auf.

“Hast du Murmeln da?”, rief Sven Mo zu, als beide sich kurzzeitig beruhigt hatten. “Wir wollen murmeln!”.

Mo war die Sache sichtlich unangenehm, aber er war verantwortlich für den Kneipenfrieden, wenn auch nur zur Aushilfe. “Reißt euch mal ein bisschen zusammen hier.”, sagte er und sah seine Aufforderung im Winde verwehen, da die beiden, mit einer Hand auf den Tisch klopfend und mit der anderen den Bauch vor Lachen haltend, diese nicht vernommen haben.

“Jetzt passt mal auf, ihr Kasperköppe. Hier sind auch noch andere Gäste. Seid ihr auf Drogen oder was?”

“No, Mo!”, brach es aus Sven heraus. “Wir haben Durst. Mach mal noch zwei Bier und zwei Kurze.”

XIII

„Arbeitsamt…“, murmelte Sven und sagte schließlich „Murmelte ist auch schon ein seltsames Wort. Weißt du manchmal beobachte ich mich als allwissender Erzähler selbst und sehe mich in der…“

„Auktorial,“, unterbrach ihn Peter „du meinst wohl auktorialer Erzähler. Wenn du mir hier schon mit so nem trivialen Scheiß kommst dann aber richtig.“

„Ach.“, verstummte Sven für einen Moment, nur um schließlich einen weiteren verzweifelten Versuch zu unternehmen, sich wenigstens einer Person verständlich zu machen. „Also murmeln, meinst du nicht. Das ist doch seltsam, das sagt man so, also in meinem Fall dieser allwi… also sagen wir ruhig auktoriale oder noch besser autoritäre Erzähler. So als Redewendung. Aber sobald du dann darüber nachdenkst, kommt dir das Wort komisch und unsinnig vor. Was heißt das schon „er murmelte.“ und wie grenzt sich dieses murmeln von dem anderen murmeln ab. Also dem mit den kleinen Kugeln. Murmeln oder murmeln, darauf scheint es letztendlich hinauszulaufen. Manchmal weiß ich echt nicht wer hier eigentlich denkt, ich oder der Erzähler, als der ich mich sehe. Aber am Ende bin ich ja dann doch wieder derjenige, der denkt, nur maskiert als fiktiver allwissender…“

„Geschichtennazi“, sagte Peter bestimmt und machte so klar, dass er keinen Widerspruch duldete. Er ging zum Kühlschrank, holte zwei neue Bier und beäugte erst misstrauisch, dann aber mit einer gewissen Gier die Schokomilch. „Mann, kein Wunder, dass du bei so nem Scheiß durchdrehst. Das ist ja ganz furchtbares Gestammel, was du da von dir gibst. Zum Teil ganz interessant aber wirr. Klingt nach so ner lauen, weichgespülten Metaphysikscheiße von nem Vollzeithipster, jetzt noch Bart und so ne enge Jeans und Sonnenbrille und… Ach ne zum Hipster taugst du auch nicht. Vielleicht erstmal nen Schnaps.“

„Aber selbst..“ brachte Sven resigniert hervor und hoffte es möge vorwurfsvoll klingen. „Erst kommt du mir mit Abwärtsspiralen und badenden Affen und damit, dass du mich umbringen willst und dann auch noch Soldaten, die als Saurier verkleidet sind.“

„Saurier-Soldaten. Das ist ja wohl ein Unterschied.“, warf Peter ein, während er zwei kleine Gläser mit einer grünen Flüssigkeit vollgoss.

„Ja jedenfalls mit all diesem Zeug und dann bin ich plötzlich wirr.“

„Na wenigstens weiß ich, was ich da eigentlich erzähle und bin mir klar darüber was mit mir passiert. Ich will ja nicht sagen, dass alles oder einiges oder überhaupt etwas von dem was ich sage Sinn macht. Aber zumindest bin ich davon überzeugt und kann einigermaßen zwischen Realität und Fiktion unterscheiden. Also angenommen, dass es hier eine Trennung gibt und angenommen Figuren in einer Geschichte können zwischen Fiktion und Realität unterscheiden, wenn vielleicht gerade der Erzählnazi an dieser Frage verzweifelt. Und das mit den Saurier-Soldaten ist eben eine lustige, und nebenbei bemerkt, längst veraltete Anekdote und hat nichts mit deiner abgedroschenen Metaphysik zu tun. Und jetzt trink das.“

Sven starrte Peter lange Zeit angsterfüllt an. Seine Augen wurden kleiner, er begann zu schwitzen und das Glas in seiner Hand bebte leicht. „Was soll denn das jetzt wieder heißen? Welche Figuren und welche Geschichte? Bis du verrückt?“

Peter erwiderte Svens Blick lange Zeit schweigend. Einige Male öffnete er den Mund leicht, als wollte er etwas sagen, blieb dann aber stumm. Schließlich zeigte sich ein entschlossener Ausdruck in seinem Gesicht. Die Ankündigung einer unbequemen und endgültigen Wahrheit. Dann lachte er lauthals und sein Gesicht wurde immer roter. Sein Kopf, eigentlich sein ganzer Körper sah aus wie ein zum bersten gefüllter Ballon im Todeskampf, dessen Umrisse sich immer weiter ausdehnten und nur im Knall endlich verstummen konnten. „Mensch Sven, was ist denn mit dir los. Früher hast du auch mal Spaß verstanden. Du hast doch mit dem ganzen Scheiß von allwissendem Erzähler und so angefangen. Betrink dich heute erst mal, wenn du morgen den Kater spürst, weiß du auch wieder wer du bist und was um dich herum passiert.“

Sven schaute skeptisch aber etwas beruhigt. Mit einem Zug trank er das Glas in seiner Hand aus und schnappte wütend nach Luft. „Verdammt! Wirklich… Absinth???!! Was besseres fällt dir nicht ein, wenn ich schon nicht weiß, was hier läuft und was ich träume und was nicht.“

„Reg dich nicht auf. Das ist auch wieder die Logik der Abwärtsspirale. Wenn du jetzt schon nicht weißt was Fiktion ist und was nicht, dann kann Absinth auf jeden Fall nicht mehr schaden. Und was nicht schaden kann, das hilft dann auch. Lass uns mal an die frische Luft und in irgend ne Bar gehen. Und nimm dieses Schreiben vom Arbeitsamt mit. Ich will wissen wie es mit deiner Geschichte weitergeht.“ Schnell leerte Peter sein Glas und füllte sich und Sven nach. Schweigend tranken sie.

„Ich weiß nicht.“, sagte Sven und kippte apathisch seinen Absinth hinunter. „Eigentlich wollte ich morgen Laufen gehen. Heute habe ich es nicht geschafft.“

„Nana.“, erwiderte Sven aufmunternd und sah Sven mit einem vieldeutigen Ausdruck an.

XII

Sven schaute aus dem Fenster. Der graue Dunst hatte sich zu einem Schleier ausgebreitet, der das Dorf eingehüllt hielt. Wenn heute irgendetwas Schreckliches hier passierte, keiner würde es bemerken, dachte Sven und wehrte in Gedanken Peters Verlangen ab, von ihm umgebracht zu werden. Es war genau dieses Wetter, das ihn eigentlich aufmunterte, solange er keine Verpflichtungen hatte. Und solche waren nicht in Sicht. Darum nahm er sich vor, den ganzen Tag über die Wohnung nicht zu verlassen, die Welt draußen ihrem Schicksal zu überlassen und erwartete sehnsuchtsvoll den Anbruch der Nacht.

Zehn nach Acht klingelte es an seiner Tür. Sven kam gerade aus der Dusche und wollte sich eigentlich was zu essen machen, als ihm klar wurde, dass Peter vor der Tür stehen musste. Er hatte so ziemlich den ganzen Tag Playstation gespielt und einige schwierige, zeitintensive Missionen geschafft, daher störte ihn der verdrängte Besuch nicht sonderlich.

„Hallo Peter!“
„Hallo Sven! Deine Haare sind nass.“
„Ja, ich war gerade duschen. Komm doch rein. Deine Haare sind aber auch nass.“
„Regnet.“
„Ach so, ja, komisches Wetter heute. Aber ich mag das.“
„Ja, super Zockwetter.“
„Genau.“

Sie gingen ins Wohnzimmer, wo noch die Spuren des durchspielten Nachmittags zu sehen waren.

„Ein ganz schöner Saustall hier!“, sagte Peter.
„Das musst ausgerechnet du sagen!“, entgegnete Sven. „Ich hatte auch eigentlich nicht mit dir gerechnet. Mal ehrlich, was schickst du mir für bekloppte SMS?“
„Welche SMS? Hab ich doch gar nicht. Du hast geschrieben, ich soll um 8 bei dir sein.“
„Ja, stimmt, deine Nachricht war vor 5 Jahren. Irgendwas mit Dinosauriern auf dem Weihnachtsmarkt in Dubrovnik. Und das heute ein guter Tag zum Trinken wäre. Ich denke, davon bist du wohl nach wie vor überzeugt, oder?“
„Ja klar, ist ja auch scheißegal, ich wäre wahrscheinlich eh vorbeigekommen. Hast du ein Bier?“

Sven ging an den Kühlschrank und entnahm zwei Bier. Überrascht erblickte er die Schokomilch und freute sich, dass er morgen keine kaufen brauchte.

„Und? Was lag an heute?“, fragte Sven.
„Nichts, wie immer eigentlich.“
„Hast du auch gezockt, ja?“
„Ja, ein bisschen. Bei dem Wetter.“
„Bei so einem Wetter bin ich froh, jetzt und hier zu leben.“
„Jetzt und hier?“
„Ja, ich meine in der heutigen Zeit. Mit einem Dach überm Kopf und allen Annehmlichkeiten. Weder Kälte, noch Hunger, noch Durst oder sonst irgendwas können mir was anhaben. Da hatten die Leute früher in ihren feuchten Höhlen bestimmt nichts zu lachen.“
„Feuchthöhlenspastis!“, entgegnete Peter ernst.
„Nun sei nicht gleich wieder so negativ.“, erwiderte Sven mit einem Hauch Ironie in der Stimme, von der er glaubte, dass Peter sie heraushören könnte, waren sie doch so ziemlich auf einer Wellenlänge, was gegenseitige Kommunikation betraf.
„Die Geschichte mit dem Arbeitsamt lässt mich nicht los, fuhr Sven fort, nachdem beide an ihrer Flasche genippt hatten. „Gestern hatte ich im Traum Sex mit der Rothaarigen vom Arbeitsamt. Wir hatten tiefgründige Gespräche geführt und so, und dann ist es einfach passiert. Dabei weiß ich nicht mal, ob es diese Frau gibt, mir ist immer noch nicht klar, ob ich überhaupt auf dem Amt war und diese Frau dort arbeitet, oder ob all das ein Produkt meiner Fantasie ist.“
„Traumsexnutte!“, sagte Peter in einem Anflug von Resignation.
„Weißt du, ich mache mir schon Sorgen wegen dieser Geschichte. Mein Leben verläuft in einigermaßen geordneten Bahnen, da sollte so was nicht passieren. Nicht, dass ich nicht Herr der Lage wäre, aber irgendwie ist das alles komisch.“
Nach einer kurzen Pause sagte Peter plötzlich: „Vielleicht hilft dir das ja auf die Sprünge. Habe ich unten aus dem Briefkasten gezogen.“
Verdutzt blickte Sven auf den Brief mit dem Absender: Arbeitsamt.

XI

Alles in seinem Kopf war klar und die Bilder und Erinnerungen waren deutlich, gestochene Standbilder einer geträumten Nacht, die sich aneinanderreihen wollten, doch in diesen Momenten unsinnig zusammenstießen und zerbrachen. Was blieb war eine berauschende Leere, die jegliche Rationalität verloren hatte, und in deren Vollkommenheit sich Sven für den Moment geborgen fühlte. Geborgen und euphorisiert, wie an dem Tag nach einer durchzechten Nacht, stinkend und erschöpft, in der Gewissheit, dass sich im verkaterten Anblick die ganze Absurdität und Nichtigkeit menschlichen Lebens und Strebens widerspiegelt. Sven war alt genug, um zu wissen, dass diese Phase für gewöhnlich nicht lange andauerte, spätestens nachdem die letzten Glückshormone verschwunden waren, käme die Müdigkeit und auf sie würde die Nervosität folgen, Zittern der Finger, Bewusstseinstrübung, Nervenschwäche. Doch das wäre dann ein richtiger Kater und kein Gefühlskater, überlegte Sven, und konnte sich nicht erinnern, gestern überhaupt etwas getrunken zu haben, bis auf die zwei Bier bei Peter.

Zurück in seiner Wohnung legte Sven die Brötchen auf den Tisch und stellte die Milch in den Kühlschrank. Er spürte, wie sich die Leere langsam aber stetig mit einer abstoßenden Mischung aus Verwirrung und Alltag füllte. Gern hätte er jeglicher Art von Kater Vorsorge geleistet und sich ein Bier aufgemacht, doch mehr noch als unbestimmte Gefühle, für die es keine Heilmittel gab, hasste er Klischees. Arbeitslos und unorganisiert und dann noch Bier zum Frühstück, was nützt es da noch, wenn ich laufe, dachte Sven. Aber vielleicht sollte ich mich von sozialen, oder besser asozialen Verhaltensregeln emanzipieren. Bier zum Frühstück, nach dem Mittagessen laufen und dann Mittagsschlaf, überlegte er, so müsste es doch gehen. Mit einem Zischen öffnete er das Bier und wurde sich bewusste, dass er früher oder später über die letzte Nacht nachdenken sollte. Doch wozu eigentlich. Wahrscheinlich hatte er Sex mit einer Frau aus einem früheren Traum oder einer Erinnerung, definitiv Sex mit einer Fiktion. Wenn ich mich im echten Leben mit meiner Phantasie paare, muss das doch irgendwas großes für mein Leben bedeuten, dachte Sven. Peters Negativspirale als Positivspirale für das Schöpferische Genie. Wahrscheinlich, sollte man sich Zeit nehmen, eine Weile ganz genau selbst beobachten, und alle Veränderungen gründlich katalogisieren. So saß Sven geraume Zeit vor dem Spiegel und sah sich aufmerksam dabei zu, wie er sein Bier trank, als schließlich sein Handy klingelte und er erschrocken und überstürzt antwortete. „Hallo, hallo, hallo, hallo?“ Die Stille war vollkommen und erst da bemerkte Sven, dass er eine neue Nachricht von Peter hatte:

„Muss dir was Wichtiges erzählen, treffen uns heute bei mir oder bei dir. Lass uns danach mal was trinken gehen. Ist glaub ich ein guter Tag zum Trinken.“

Und darunter:

„Heute Nacht war ich Bruce Willis und hatte schon zwei oder dreimal die Welt bzw. eine Schule in der ich Hausmeister war gerettet. Diesmal die versuchte Flucht in meinem Auto. Die Finger zitterten und schließlich, bevor ich den Schlüssel herumdrehen konnte, war ein Panzer mit Dinosauriersoldaten eingetroffen. Hauptsächlich Flugsaurier. Warum überhaupt Saurier? Unser Dorf war schnell gefallen, doch der Weihnachtsmarkt im Nachbarort hielt den Widerstand aufrecht. Überall bewaffnete (menschliche) Soldaten, die patroullierten. Der Ort hatte auf einmal riesige weiße Stadtmauern und sah aus wie Dubrovnik.“

Sven war etwas überrascht, wollte aber auch nicht zu sehr ins Detail gehen. Er kannte die Tücken und Risiken von Kurznachrichten. Lange überlegte er nach einer passenden Antwort, schrieb schließlich: „Ok, heute um 8 bei mir. Bis dann“ und übersah in seiner Genugtuung, dass Peter ihm die Nachricht vor 5 Jahren geschickt hatte.

X

„Körperlicher Schmerz macht dir also Angst, ja? Na, wie gefällt dir das?“
Er lag mit offenen Augen im Bett und halluzinierte im Halbschlaf vor sich hin. Die Frau krümmte sich vor Schmerzen, denn er drosch nur so auf sie ein. Dann erwachte er kurz, war aber zu müde, um aufzustehen, und schloss die Augen wieder. Im Flur des Arbeitsamtes flimmerte eine LED-Lampe. Niemand dort, nur ein grässliches Summen, das sein Hirn marterte. Spiegel an jeder Wand, darin die Umrisse der Frau, rotstichig, nebulös. Er fühlte sich unwohl, soweit das im Traum möglich war, ein rothaariges Mädchen klettert aus dem Spiegel und kriecht auf hin zu. Moment mal, dachte Sven und riss die Augen auf. Das ist doch jetzt albern. Schwungvoll stemmte er seinen Körper in eine aufrechte Position, rieb sich die Lider, streckte seine Glieder und lief so der Versuchung des Wiedereinschlafens zuwider.

Er reimte wirklich sehr gerne, zumeist behielt er es aber für sich, schrieb es auch nur selten auf und vergaß daher die meisten seiner kleinen Poeme, von denen einige enormes Potential hätten, wie er fand, und so bedauerte er seine Vergesslichkeit oder vielmehr die lästige Angewohnheit, sich keine Notizen zu machen und auch aus dem tausendsten gescheiterten Versuch, den Gedanken bis zum rettenden Notizbuch im Gedächtnis zu behalten, nicht schlauer zu werden. Abgelenktheit und Müßiggang, das waren seine Schwächen. Ihn interessierte immer alles auf einmal, doch gleichzeitig war er zu faul, einer Sache konsequent hinterherzugehen. Um Geistesblitze besser aufzeichnen zu können, hatte er sich ein Tonbandgerät gekauft, welches er aber so gut wie nie mit sich führte. Irgendwie unwohl war ihm bei dem Gedanken, so etwas ständig am Körper zu haben. Und wie sollte er es auch an sich tragen? Er hasste unnötigen Ballast und leider auch seine eigene Stimme. Je mehr man an sich trägt, desto eingeschränkter ist man. Es war ihm ein großes Rätsel, wie vor allem Leute in Großstädten mit allerlei Zeug und Behang, Frauen in unbequemen Schuhen und Riesenabsätzen und dem ganzen Klimbim herumlaufen konnten. Man müsste doch jederzeit bereit sein, um sein Leben zu rennen, glaubte er.

Sven beschloss, zum Bäcker zu gehen. Das tat er fast jeden Morgen, um dem Vorwurf seiner Mutter zuvorzukommen, dass er nicht oft genug vor die Tür gehen würde. Manchmal rief sie ihn besorgt an, ob er schon an der frischen Luft gewesen sei und warum er sie nicht einmal besuchen würde, obwohl sie ja nur knapp einen Kilometer voneinander entfernt wohnten. An diesem Morgen nieselte es leicht und das Dorf lag im kargen Grau miesepetrigen Dunstes eingemummt und unscheinbar am Fuße des Mittelgebirges, dessen Name außerhalb des Dorfes niemand kannte oder auch nur im entferntesten interessierte. Würde die Dunstglocke das Dorf heute einfach verschlingen, würde wohl niemand etwas davon bemerken, geschweige denn bedauern. Die Straße war menschenleer, als ein Jogger mit Kopfhörern und Trinkgürtel schnaufend an Sven vorbeilief. Angewidert schaute er ihm nach, denn er verachtete Jogger. Dabei lief er selbst sehr gerne, unterschied aber strikt zwischen Laufen und Joggen. Man läuft erst ab einer gewissen Geschwindigkeit. Jogger hingegen sind Schnecken, Kriechtiere, die eine heuchlerische Schleimspur nach sich ziehen. Ob, dieser Logik folgend, nicht jeder einmal als Jogger angefangen hätte? Nein, entweder man meint es ernst, oder man joggt. So einfach war das für ihn.

Beim Bäcker dann das übliche: zwei Brötchen, eins hell, eins dunkel, und eine Glasflasche Kakaodrink, seiner Meinung nach ein Relikt aus einer anderen Zeit. Drei Cent Trinkgeld, was da wohl über die Jahre zusammengekommen ist? Die Bäckersfrau bedankte sich schon gar nicht mehr dafür. Er seufzte und ging wieder nach Hause. Schelmisch grinsend realisierte er die Ereignisse der letzten Nacht. Oh, ihr Gedanken! Wo treibt ihr euch nur rum?

IX

Alles sah aus wie immer, nicht besonders ordentlich oder sauber aber immerhin. Auf dem Boden im Flur lag noch die Jacke, die er vorhin, als er sich gehetzt und übereilt auf den Weg zu Peter machte, runter geschmissen hatte. Eigentlich gab es keinen Grund dazu da es völlig egal war ob und wann er Peter besuchte aber doch hatte er immer das Gefühl zu spät zu sein. Meist saß er untätig und abwesend in seiner Wohnung, hing verworrenen Tagträumen nach und tat nichts Bestimmtes. Doch wenn es dann schließlich soweit war, dass er zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein sollte, kam er zu spät. Die Zeit die auf diese Weise verging, wog doppelt so schwer in seinen Gedanken. Er wusste, sie war verloren und sagte sich, dass die Zeit für das meiste im Leben sowieso nicht genügte. Und so fühlte er sich ständig gehetzt und gejagt weil die Zeit nicht reichte und dieser Mangel dazu führte, dass er erst gar nichts anfing und sich nur immer einredete, etwas anfangen zu müssen. Dieses etwas war nebulös und hing wie Rauch über ihm und er fragte sich, ob er es eines Tages wohl erkennen könnte.

Als er in die Küche kam, war auch hier das Licht eingeschaltet und er konnte sich nicht erinnern, die Wände und den Küchentisch, das Waschbecken und die auf dem Boden verstreuten Krümel je in der kühlen Klarheit dieses künstlichen Lichts gesehen zu haben. Doch auch hier schien alles unverändert und normal. Die ungewaschenen Teller, die leicht schief hängenden Fotos, die nicht ganz frischen Geschirrtücher. Erleichtert aber immer noch verwirrt betrat er das Wohnzimmer, dass zu seinem Erstaunen völlig dunkel war. Dunkel und still. Er schaltete das Licht ein und sah die Frau aus dem Arbeitsamt, die nur in Unterwäsche bekleidet auf seiner Couch saß und wusste nicht, was er sagen oder denken konnte. Sie saß da mit roten Haaren und geschlossenen Augen. Die Tattoos zogen sich ihre Arme hinauf, bedeckten den Teil ihrer Brüste, den er sehen konnte und ließen nur eine winzige, völlig weiße Stelle auf ihrem Bauch unbedeckt. Sven stand da und wusste nicht so recht, wie er mit der Situation umgehen konnte. Unbeholfen ging er im Kreis, musterte sie eingehend und brach schließlich in Gelächter aus. Er hatte eine Schwäche für Absurditäten und unsinnige Situationen und in diesem Moment hatte er das Gefühl, dass nicht nur eine halbnackte, attraktive und unbekannte Frau auf seiner Couch saß und in einer seltsam steifen Haltung schlief, sondern dass sich hier das Leben vor ihm offenbarte. So stand er lachend in seinem Wohnzimmer und wusste nicht, was er sonst tun konnte. Schließlich öffnete die Frau ihre Augen, stand auf und lächelte ihn an.

„Hey, schön, dass du endlich da bist, ich dachte du kommst gar nicht mehr.“
„Ach…“ erwiderte Sven.
„Sag nicht, dass du mich vergessen hast“, die Frau vollführte einen kleinen Tanz, sodass Sven sie von allen Seiten mustern konnte. Ihre Brüste sprangen auf und ab.
„Ach…“ wiederholte Sven und spürte, wie die Wut die er gestern oder in seinem Traum auf die Frau verspürt hatte, wieder in ihm hochstieg. Er hasste sie und hasste es, dass er sich nicht besser artikulieren konnte. Dass er alles mögliche dachte aber nichts davon klar ausdrücken konnte. Erst recht nicht in einer Situation wie dieser. Die Frau kam auf ihn zu, drückte sich an ihn und küsste ihn auf die Wange. Als Sven nach unten schaute, sah er nichts als ihr Dekolleté und merkte, dass er einen Ständer hatte.
„Du hast mich also nicht vergessen.“, sagte die Frau, lächelte wieder und drückte sich fester an ihn.
Sven wusste, dass es an der Zeit war etwas zu tun oder zu sagen. Nach einiger Zeit öffnete er ihren BH und legte seine linke Hand auf ihre rechte Brust. Das Weiß ihrer Haut schimmerte durch das grün-rote Muster des Tattoos. Ihre Brüste waren bunt und kalt. Die Kälte erinnerte Sven an das Bier in seinem Kühlschrank, sodass er die Frau schließlich sanft beiseite schob, und sich ein Bier aus der Küche holte. Mit Bedauern dachte er daran, dass es nun wohl zu spät war, sie zu fragen, warum sie tagsüber im Arbeitsamt arbeitete und Nachts im BH auf seinem Sofa saß. Konnte er sie jetzt noch nach ihrem Namen fragen? Sven musste Zeit gewinnen und die Lage konkret analysieren. Er ging zur Balkontür, öffnete sie und zündete sich eine Zigarette an. Die Frau erschien als Spiegelung in der Glasscheibe der Tür. Oder besser gesagt nicht als Spiegelung in der Tür, sondern als Spiegelung in der Nacht, korrigierte sich Sven. Eine halbtransparente unbekannte Person, die jetzt etwas unsicher in der kühlen Nachtluft vor meiner Wohnung schwebt. Obwohl sie eher steht, dachte Sven. Schweben hat immer etwas leichtes aber die Frau steht einfach da wie angewurzelt. Und das ist albern, denn niemand der halb durchsichtig in der Luft steht, ist angewurzelt. Als Sven einen Schritt zur Seite ging, immer noch aus dem Fenster starrend, bemerkte er dass nicht nur eine Frau vor seinem Fenster stand. Die Umrisse der Frau überlagerten sich und ließen ein unklares trübes Bild zurück. Die verschwommene Idee einer Frau vor seinem Fenster, die schließlich verschwand als er den Kopf bewegte und sie sich mit dem Fenster auf der anderen Straßenseite überlagerte.

Sven wusste, wie seltsam die Situation war und er wusste auch um das Unsinnige seiner Reaktion. Eine unbekannte nackte Frau in seiner Wohnung und er, der sich eine Bier holte, eine Kippe ansteckte und aus dem Fenster starrte. Erst jetzt bemerkte er, dass die Frau, sich wieder gesetzt hatte und ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Ärger anschaute. Wieder musste er lachen.

„Sag mal, glaubst du das Menschen die das gleiche Alter haben, unterschiedlich alt sein können?“, fragte er. „Also zum Beispiel ein 80-jähriger, der vielleicht nur 30 ist und dann ein 80-jähriger der schon 150 ist? Ich meine, man sagt doch, dass Menschen die Zeit unterschiedlich wahrnehmen und die Zeit generell subjektiv ist. Wenn die Zeit also für einen Menschen schneller vergeht als für einen anderen, denkst du dann nicht auch, dass er älter ist, als ein Mensch der im gleichen Jahr geboren ist, für den aber die Zeit viel langsamer vergeht. Als ich neulich mit dem Bus in die Stadt gefahren bin, hatte ich alle möglichen Gedanken und hab alles um mich herum vergessen. Und dann war ich auch schon da. Aber auf dem Rückweg da hab ich mich ganz genau auf die Straße konzentriert, auf die Gärten am Straßenrand, die Felder und auch auf die Leute, die im Bus neben mir saßen und die ein- und ausgestiegen sind. Der Weg kam mir unglaublich lang vor. Weil ich so konzentriert war, hab ich dann auch meine Haltestelle verpasst und es erst bemerkt, als ich schon viel zu weit gefahren bin aber trotzdem glaube ich, dass auch wenn ich am richtigen Punkt ausgestiegen wäre, viel mehr Zeit vergangen ist.“

Die Frau schwieg erst, fing dann aber an zu lachen. „Du bist seltsam.“, sagte sie, stand auf und ging auf Sven zu. „Deshalb mag ich dich.“
Sven der noch immer aus dem Fenster schaute, jetzt aber nichts bestimmtes mehr sah, ärgerte sich über das schrille Lachen und die Vertrautheit der Frau.

„Was soll denn das, was gibt es denn da zu lachen?“, wollte Sven, der nun sehr wütend war, wissen. „Wenn man nicht über die Zeit nachdenkt, worüber denn dann? Das muss man doch ernst nehmen, auch wenn es keinen Sinn macht. In gewisser Weise endet doch die Zeit mit dem Tod und wenn man nicht den ganzen Tag über den Tod nachdenken will, dann doch wohl über die Zeit. Als Kind habe ich manchmal daran gedacht, wie es wohl ist Tod zu sein. Und dann sah ich Skelette und Schwärze aber irgendwann wurde mir bewusst, dass dieses Bild völliger Quatsch ist. Schließlich hört man einfach auf zu sein. Als ich mir dann versucht habe vorzustellen, wie es ist nicht mehr zu sein, habe ich unfassbare Angst bekommen. So etwas wie die totale Angst. Die Urangst. Ich mag es zu sein, und wenn ich nicht mehr bin, hört dann doch alles auf und nichts ist mehr. Für immer. Für immer nicht sein, das macht mir heute noch Angst aber wenn ich den Gedanken einmal hatte, dann ist er weg und die Angst kommt nicht wieder weil ich es mir einfach nicht mehr vorstellen kann. Es ist als ob mein Gehirn diesen Gedanken blockiert weil er mich wahnsinnig machen würde. Für immer nicht sein, das heißt doch ewige Schwärze. Manchmal habe ich Angst vor der Dunkelheit.“ Sven saß mittlerweile auf dem Boden und hatte sich eine neue Zigarette angesteckt. Die Frau kam näher und setzte sich zu ihm. Sie strich ihm durchs Haar und sagte: „Wenn man nicht mehr ist, dann hat man doch auch keine Gedanken mehr. Dann siehst du nichts von der Leere und Dunkelheit und weißt nicht, dass du einmal warst. Ich habe Angst vor dem Schmerz. Körperlicher Schmerz. Der ist immer real.“
Sven wusste nicht warum aber irgendwie fühlte er sich erleichtert. Er sah der Frau in die Augen. Dadurch, dass sie ihm nun so nah war, konnte er sie nicht klar erkennen. Sie war verschwommen. Er küsste sie und schob seine Hand zwischen ihre Beine. Ihre Schenkel waren kalt, wie ihre Brüste und das Bier im Kühlschrank. Als Sven am Morgen aufwachte, war er ganz allein.

VIII

Die kleine Stadt lag schwarz und lautlos zu seinen Füßen, als er die schmalen Straßen entlangging, die in nahezu unsichtbare Feldwege übergingen; Abkürzungen, die man kennt, wenn man sein ganzes Leben am selben Ort verbracht hat. Seit frühester Kindheit war er mit Peter befreundet, doch an Tagen wie diesem konnte ihm dieser nicht fremder sein. Obgleich er wusste, dass Peters Ausflüge ins Metaphorische nur Gedankenexperimente waren, hinterließen sie doch meistens einen bitteren Nachgeschmack bei ihm.

Was wusste er eigentlich über die Welt? Die nächtliche Stille der Kleinstadt drehte die Lautstärke in seinem Gehirn auf. Gedanken schweiften darin und wurden an den knochigen Gefängniswänden brutal abgeschmettert, um wieder in dem dunklen Verlies zu verschwinden, aus dem sie kamen. Manchmal wähnte er von seinen Gedanken wie von Findlingen in einem Teich, in dem aus unerfindlichen Gründen stetig schwerer Wellengang herrscht. Einige große Findlinge stechen aus der Wasseroberfläche hervor – Erinnerungen, die sich tief in seinem Gedächtnis manifestiert haben – andere sind aufgrund des Wellenganges nur ab und zu sichtbar – Erinnerungen, die hin und wieder an die Oberfläche des Bewusstseins reichen, und wieder andere liegen so tief versunken, dass kein noch so starker Wellengang sie aufzudecken vermag. Oder gleichen diese nicht viel eher Truhen voll eingesperrter Erinnerungen, unliebsam, verdrängt – verdammt, ihr unerwünschtes Dasein unentdeckt auf dem Teichesgrund zu fristen? Sven dachte in dörflichen Maßstäben, sein Meer war ein Teich und dieser war bereits zu groß für ihn.

Sven hatte ungefähr die Hälfte des Weges bis zu seiner Wohnung zurückgelegt, als er sich unbedarft seines Alters bewusst wurde. 25 Jahre alt war er jetzt. Angst vor dem Altern erfasste ihn plötzlich, so sehr, dass er sich ausmalte, wie er später an Demenz erkranken und einsam, ohne jegliche Erinnerung an sein früheres Leben zugrunde gehen würde. Denn der Wellengang in seinem Gehirn wird Jahr für Jahr stärker. Globale Erwärmung des Bregens. Die großen Findlinge, sozusagen seine Premium-Erinnerungen, sind nämlich auch der Witterung ausgesetzt und erodieren durch konstante Umspülung, werden glatt und flach, verlieren an Wert. Unten am Grund rappelt es in den Truhen, denn die eingesperrten Gedanken wollen sich befreien und so muss er doch ständig an sie denken, obgleich er sich ihr Bild nicht vor Augen rufen will. Und in diesem konstanten Wettkampf der Gedanken, dieser flüchtigen, unwillkürlich aufflackernden Brut einst gemachter Erfahrungen, deren Geburt und Auslöschung er nicht vollends Herr sein kann, spiegelt sich seine ganze widersprüchliche Existenz zwischen Realität und Erwartungshaltung. Hinzu kommen die ständigen Eindrücke von außen, Peters wilde Theorien, traurige Nachrichten aus aller Welt, ein Katzenvideo im Internet, das er gar nicht gesucht hat; tausend wirre, sich widersprechende Informationen.

Just macht sich Erleichterung in ihm breit, darüber, dass er hier in dieser kleinen Stadt des Nachts in absoluter Einsamkeit, begleitet nur von den Geräuschen der unschuldigen Natur, seines Weges geht und ihm zumindest für den Moment die Informationsflut erspart bleibt. Eigentlich will ich gar nicht weg von hier, dachte Sven. Und überhaupt geht es mir doch alleine ganz gut. Von unten sah er die Wohnung zu seiner Überraschung in hellem Licht stehen. Er zögerte, ging dann aber doch vorsichtig in den zweiten Stock und schloss langsam die Tür auf.

VII

„Freiwilligkeit hin oder her, ich dachte die Frage wäre wann, wobei mich das Wie dann doch irgendwie mehr beschäftigt. Eigentlich hab ich mit diesen gesellschaftlichen und sozialen Überlegungen nicht so viel am Hut. Also wirklich, als Held sterben, Fortschritt der Menschheit, Märtyrer, das ist doch dann auch wieder albern. Dann sind wir wieder bei diesem verdammten Idealismus. Wenn ich bereit bin für etwas zu sterben, muss ich davon überzeugt sein. Und wenn ich so überzeugt davon bin, dass ich dafür sterben würde, bin ich mir ziemlich sicher, dass ich Recht habe und die Anderen Unrecht. Und das ist doch wieder das menschliche Dilemma schlechthin: Überzeugung, Wahrheit, Glauben. Also wenn ich mich schon umbringen lasse, dann bestimmt nicht um die Welt zu retten. Und überhaupt drehst du dir das Ganze hin, wie du es brauchst. Das Ergebnis bestünde doch nicht in einer geretteten Menschheit sondern aus wütenden Mobs, die glücklichen Menschen nach dem Leben trachten, um die eigene Erlösung zu finden.“

Peter lachte laut auf: „Glücklichen Menschen nach dem Leben trachten? Ich hoffe, du meinst damit nicht dich. Es geht doch hier nicht um Glück oder Unglück oder Erlösung. Und um Überzeugung und Glauben schon gar nicht. Sondern um Sinn. Nicht diesen belanglosen Scheiß, den jeder in seinem Leben sucht, sondern den ultimativen Sinn der Existenz. Vielleicht erschließt sich das alles mit dem Tod, vielleicht wenn man bewusst alle sozialen und gesellschaftlichen Brücken einreißt, und das für immer und endgültig.“

„Ich weiß nicht.“, sagte Sven zweifelnd. „Um ehrlich zu sein, ist mir das alles zu doof, also dieser metaphysische Unsinn und das philosophische Gelaber. Grundsätzlich macht ja manches Sinn und klar sind das Gedanken, die man sich so macht und machen kann, aber für mich klingt das auch nach Gejammer. Alles muss einen tieferen Sinn haben und wegen der unfassbaren Angst vor dem Nichts und dem Unsinn, versuchen wir die Welt zu erklären. Ist das nicht zu banal?“ Sven schüttelte nur den Kopf, nahm lächelnd seine noch halbvolle Bierflasche und erhob sich vom Stuhl. “Wenn du schon an deine morphogenetischen Felder glauben willst und dass sich irgendetwas für einen von uns beiden oder die gesamte Menschheit erfüllt, wenn du mich mit 99 Anderen umbringst, dann gebt mir wenigstens 100 Gründe, warum es keinen Sinn macht mich umzubringen. Oder noch besser, warum es völlig bedeutungslos ist, ob ihr mich umbringt oder nicht. Aber egal, wir sehen uns.“ Sven verließ das Zimmer und ging schnell die Treppen hinunter, ehe Peter noch etwas sagen konnte. Im Flur wartete er einen Moment, bis er sicher war, dass Peter ihm nicht folgte und rief schließlich: „Machs gut, und überleg dir, wo du mich umbringen willst. Bloß nicht hier, in unserem Kaff. Das wäre zwar schön aber kompliziert. Und geh mal raus, dann kommst du vielleicht auf andere Gedanken.“ Peter antwortete nicht und als Sven das Haus verließ, war er überrascht, dass es bereits dunkel war. Der Kirchturm schirmte Peters Haus fast vollständig vom Sonnenlicht ab und nur das Braun der Feldsteine änderte seine Schattierung, je nachdem ob sie von der Sonne oder von einer Mischung aus Mond und der Straßenlaterne an der Ecke angestrahlt wurden. Kein Wunder dachte Sven: Dunkles Haus, dunkle Gedanken. Aber wahrscheinlich ist das relativ und irgendwie macht ja auch alles Sinn. Also nichts von dem was Peter sagt, aber irgendetwas Generelles.

VI

Peter starrte leeren Blickes auf den Fußboden, ehe er sich erhob, ans Fenster schritt, es einen Spalt öffnete und sich eine Zigarette anzündete. Nach einigen kräftigen Zügen fragte er: „Kennst du die Legende vom 100. Affen?“ Sven schüttelte verlegen den Kopf, doch Peter beachtete ihn gar nicht und fuhr fort. „Im Prinzip ist es eine Geschichte über sogenannte morphogenetische Felder. Das sind unsichtbare Energiefelder, über die Lebewesen Energie und Informationen austauschen können. Ende der 50er Jahre hat man auf irgendeiner japanischen Insel einem Makaken gezeigt, dass er sein Essen vor dem Verzehr waschen muss. Andere Affen folgten seinem Verhalten, bis beim 100. Exemplar plötzlich ein Bewusstseinssprung stattfand und die ganze Population, ja sogar Affen der anderen Inseln dieses Verhalten nachahmten.“

„Meinst du die japanischen Badeaffen?, warf Sven ein. „Ja!“, schnaufte Peter leicht enttäuscht, dass dies die Hauptinformation zu sein scheint, die sein Freund aus der Geschichte gezogen hat. „Schöne Geschichte, aber was hat das mit der Art und Weise zu tun, wie du mich umbringen würdest?“

„Die Frage ist nicht wie, sondern wann.“ Svens Blick verfinsterte sich etwas. „Wenn die Zeit reif dafür ist. Wenn ein kollektives Bewusstsein für deine Ermordung entstanden ist. Wenn 100 Leute dir nach dem Leben trachten. Vielleicht sogar dann, wenn du es wagen solltest, mit japanischen Makaken zu baden.“

„Jetzt wirst du aber albern. Davon hättest du ja nichts. Ich dachte, wir reden hier über dein verkorkstes Leben und dass du einen Auslöser brauchst, um die Negativspirale zu durchbrechen. Wie kannst du dann davon reden, mich im Kollektiv umbringen zu wollen? Klingt wie so ein perverser Killer-Klub. Ich hoffe, du verkehrst nicht heimlich mit zwielichtigen Gestalten.“

„Nein, nur mit dir, keine Sorge. Aber du verstehst nicht. Angenommen, es gäbe diese morphogenetischen Felder; dann wäre der Mord an dir vielleicht eine Möglichkeit, weltweit Gleichgesinnte aus der Negativspirale zu katapultieren.“

„100 Typen, die genauso krank drauf sind wie du? Und danach alle geläutert? Und dann Weltfrieden oder was?“ Sven hielt sich den Bauch vor Lachen.

„Du kennst doch die uralte medizinische Diskussion, ob man zum Wohle der Menschheit das Recht besäße, nur einem einzelnen Menschen Leid anzutun oder ihn sogar umzubringen. Findest du es nicht ungemein egozentrisch von einem Individuum, sich dieser Aufgabe zu verschließen? Der einmaligen Chance, sich in den Dienst zum Fortschritt der Menschheit zu stellen, inklusive der namentlichen Überlieferung und Überdauerung irdischer Lebenszeit als Held?“

Nun ja, manche Menschen hängen vielleicht an ihrem Leben. Ich fände es im Übrigen sehr schön, wenn du mich vor einem solchen Vorhaben fragen würdest, ob ich überhaupt Lust habe, für dich oder irgendjemanden den Märtyrer zu spielen. Außerdem glaube ich, dass es zum Wohle der Menschheit auch immer freiwillige Probanden geben wird, die ihr Leben dem höheren Zweck opfern würden, weil sie den höheren Zweck in ihrem eigenen Leben nicht mehr erkennen.

Gut gesprochen, mein Freund. Da du aber es warst, der das Thema seiner Ermordung überhaupt erst angeregt hat, sollten wir anfangen, an deiner Freiwilligkeit zu arbeiten.

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