VI

„Nur noch eine Sekunde, ich bin hier mit Herrn… mit Herrn Sven in einem äußerst wichtigen Gespräch. Volker lachte noch immer und sein Gesicht war mittlerweile dunkelrot. Sven sah wie der Schweiß von Stirn, Nacken und Kinn in seine Kleider rann. Sein weißes Hemd war mittlerweile gräulich verfärbt und unregelmäßig mit Flecken bedeckt und sein Bart wirkte wie eine postmoderne Skulptur aus der scheinbar quellenlos und überbordend Wasser austrat, das sich auf den feinen Härchen zu immer größeren Tropfen sammelte, die bei jedem ekstatischen Lachen des mächtiges Körpers auf und ab schwangen und wie festgeklebt schienen. Wasserbart und Biertitte, dachte Sven unwillkürlich und sagte es, um es sich für später einzuprägen noch ein paar mal laut vor sich hin. Der Tag verlief erfolgversprechender als gedacht und war auf absurde Weise realistischer als seine vorigen Besuche beim Amt. Durch Volkers Lachen ermutigt, grinste nun auch er debil vor sich hin und sagteetwas lauter: Biertitte und Wasserbart. Die Geräsuche, die aus Volker hervorquollen wurden nur noch euphorischer und erste Tränen flogen durch die Luft auf vor ihm liegende Unterlagen. Spontan wagte sich Sven an einige Improvisationen: Bierbart und Wassertitte, Bartwasser und Tittenbier, Bierwasser und Tittenbart, Wasserbier und Bartitte. Gerade war Sven dabei sein Vokabular neu zu ordnen und subtile Neukombinationen in den bestehenden Rhythmus einzuflechten da öffnete sich die Tür und Lydia betrat verärgert den Raum. „Ach, na sowas…. Lydia.“ Volker brachte die Worte nur mühsam hervor, doch langsam entspannte er sich. Verschwörerisch blinzelte er Sven zu „Schön das du hier bist, ich möchte dir unbedingt Herrn, Herrn, Herrn… Sven vorstellen. Du wirst begeistert sein. So einen hochmotivierten und engagierten Kandidaten hatten wir hier schon seit Monaten nicht. Grandios, ja famos. IT-Spezialist, Literat und Wortakrobat.“

„Ach Lydia.“, stammelte Sven. „Na, da bist du ja! Volker hat mir gesagt…“

„Herr Meier. Also wirklich Herr Sven, ich bitte Sie. Wahren Sie Haltung auch im Angesicht der Liebe.“ Volker hob tadelnd den Zeigefinger und schwenkte ihn lächelnd von links nach rechts.

„Also Herr Meier hat mir gesagt… Moment, Moment. Ich dachte ich sollte dich, also Sie Volker nennen, dass haben Sie doch selbst gesagt.“

„Herr Sven, ich glaube Sie verstehen den Ernst der Lage nicht. Ich bin ihr Sachbearbeiter, ich bin dafür zuständig Ihnen einen neuen Job zu vermitteln, ich erstatte Bericht an höchste Stelle über Ihren Erfolg und Misserfolg, bestimme somit direkt oder indirekt, je nach Auslegung, über die Fortführung Ihrer Sozialleistungen, bestimme darüber ob Sie im Winter ein Dach über dem Kopf haben, ob Sie im Winter frieren, ob Sie es sich leisten können zu essen oder hungern müssen. Ich bin sozusagen oberster Richter über Ihr Leben. Und Ihren Tod. Herr Sven wissen Sie denn, wer im allgemeinen Verständnis, neuzeitliche Strömungen außer Acht gelassen, dazu in der Lage ist, zu entscheiden, ob etwas leben oder sterben soll.“ In diesem Moment hielt Volker die Luft an und sein Finger stand drohend in der Luft. Alles war still und Sven musste sich eingestehen, dass er der traurigen Komik der Situation den Vorzug gab gegenüber den erniedrigenden Routinen der sonstigen Behördengänge.

Stille. Zäh stehende Sekunden und ein schwankender Finger in der Luft. Sekunde um Sekunde und niemand sagte ein Wort, sodass Sven überlegte, ob er nicht vielleicht eine neuerliche Erklärung fordern sollte. Und doch schien es unangemessen, solang der wulstige Finger in nebulöser und bedeutungsschwangerer Haltung über ihm kreiste.

Geräuschvoll blies Volker die Luft aus: „Gott. Gott richtet über Leben und Tod. Ich bin ihr persönlicher Gott. Der Allmächtige Ihres Lebens. Und glauben Sie, dass ein Gott einem Sterblichen das du anbieten würde?“

Als Sven nicht antwortete, lehnte sich Volker über seinen Schreibtisch und piekste ihn mit einem Bleistift aufmunternd in die Rippen. „Glauben Sie, dass ein Gott geduzt werden möchte?“, wiederholte er mit stechendem Blick.

„Also…“, begann Sven nach einer Weile. „Das kommt vielleicht auch darauf an, ob es mehrere Götter gibt und die sich dann duzen, wenn sie im Fragilem Säuferglück zusammen…“

„Nein“, brach es aus Volker hervor „ein Gott besteht auf das Sie. Seien Sie froh Herr Sven, dass ich in diesem Fall ein gnädiger und kein rachsüchtiger Gott bin.“ Hocherfreut und glücklich begann er wieder zu lachen.

V

Erstaunliche Leere. In Svens Kopf und ringsherum nur scheinbedeutungsschwangere Atmosphäre. Peters Blick und die arbeitssuchende Schar auf dem Präsentierteller. Bereits nackt, seelisch entkleidet, Stimmung im Keller. Peter macht sich rar und Sven bleibt allein in allumfassender Leere.

“Sie müssen zuerst eine Nummer ziehen!”, fauchte ihn die Empfangsfrau an, nachdem er gefühlt eine Stunde wie benommen im Wartezimmer saß und die Wand anstarrte.
“Aber ich habe einen Termin. Zimmer 113.”
“Der war vor ner halben Stunde.” Sie stieß einen monumentalen Seufzer aus. “Bitte nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Sie werden dann aufgerufen.”
“Ich muss zu Lydia.” Die Empfangsfrau schaut ihn teilnahmslos an. “Thomas würde auch gehen.” Leichtes Entsetzen machte sich auf dem Gesicht der Frau bemerkbar. “Bitte setzen Sie sich.”

Sven wurde das seltsame Gefühl nicht los, dass Peter ihm irgendwas verschweigt. Wenn er einen Bekannten beim Arbeitsamt hat, müsste dieser doch Lydia kennen. Das hätte Peter wiederum längst erfragen können, aber nun war er einfach verschwunden, so plötzlich wie er aufgetaucht war und dieses kranke Spiel mit ihm spielte. Die Vorstellung eines feindlichen Komplotts seines Freundes schien ihm jedoch unwirsch und er schmetterte den Gedanken so gut es ging ab. Dann ertönte sein Name. Es geht los, dachte er und folgte der Empfangsfrau durch einen schmalen Gang. Das Summen von Neonröhren begleitete die beiden, aber Sven konnte nicht ausmachen, ob es real war oder sich in seinem Kopf abspielte. “Da hinten, einmal die Tür links.”, sagte sie und verschwand wieder hinter ihrem Tresen. Unweigerlich musste er an Mo denken. Arbeitsamt und Bar, im Grunde das gleiche Klientel, nur sind betrunkene Kunden zufriedenere Kunden, wenngleich es sich um eine fragile Zufriedenheit handelt. Fragiles Säuferglück. Guter Name für eine Bar, dachte er. Was wird eigentlich jetzt aus dem Schmiedehammer? Hauptsache kein Tattooladen.

Er klopfte an die Tür. “Hereinspaziert!”, hallte es heiter zurück.
“Ach, Herr… , äh, Sven, kommen Sie doch rein. Nur keine falsche Scheu.”
Verdutzt trat Sven in das kleine Zimmer und schloss die Tür hinter sich. “Sagen Sie, kennen wir uns?”
“Wir? Uns? Nein, also wirklich, ich bin Ihr neuer Sachbearbeiter. Nennen Sie mich einfach Volker.”
Der korpulente Mann mit dem grauen Schnurrbart lächelte bis über beide Ohren und Sven konnte nicht anders, als auch ein wenig die Mundwinkel zu heben.
“Ja, Herr…, also Volker, ich hatte eigentlich einen Termin bei Lydia. Ist sie nicht hier?”
“Lydia?” Volkers Miene verfinsterte sich für den Bruchteil einer Sekunde, klarte dann aber umgehend wieder auf, so sehr, dass Sven glaubte, noch nie ein derart strahlendes Gesicht gesehen zu haben. “Kenn ich nicht. Aber ich hatte mal eine Großtante namens Lydia. Die war ein echter Drachen.” Er lachte laut auf und schien selbst derart überrumpelt von Svens Frage, dass sein Lachen ins Prusten überging.
“Das ist wirklich schade.”, warf Sven ein. “Ich hatte doch diesen Brief von ihr bekommen. Wo ist der denn gleich?” Sven stöberte in seinem Rucksack und ließ nach einer Weile enttäuscht davon ab. “Hab ich zu Hause vergessen.”
“Na na, Jungchen.”, entgegnete Volker gut gelaunt. “Behördenbriefe sind keine Liebesbriefe.” Er zwinkerte ihm mit dem linken Auge übertrieben zu.
“Sie hat rote Haare.”, erwiderte Sven.
“Papperlapapp! Frauen wechseln die Haarfarbe wie Unterwäsche. Da kann ja jeder kommen. Und überhaupt: Warum sind Sie eigentlich hier? Um einer fiktiven Frau nachzustellen oder um Arbeit zu finden?“ Sein Lächeln nahm jetzt unmenschliche Züge an. Sven starrte ihn ungläubig an. Wenn seine Mundwinkel noch einen Nanometer nach oben wanderten, würden seine Wangen sich unweigerlich über das gesamte Gesicht krempeln müssen. Ihm wurde angesichts dieser Vorstellung ganz mulmig.
“Geht’s Ihnen nicht gut? Nun, schauen wir mal, was wir für Sie tun können. Haben Sie sich fleißig beworben? Irgendwelche Rückmeldungen, positiv wie negativ? Immer raus damit. Sonstige Erfolge?”
Sven fühlte sich auf die letzte Frage angesprochen.
“Also ich habe neulich wieder ein Spiel auf PlayStation abgeschlossen. 100% – Platintrophäe. Darauf könnte ich verweisen.”
Volker tippte lachend irgendwas in seinen Rechner. “Interessen?”
“Biertittenforschung!”, brach es aus Sven raus.
“Fahren Sie fort.”
“Na, es wäre doch schön, wenn Frauen statt Milch auch Bier herstellen könnten. Die perfekte Zapfstation wird ja von der Natur bereitgestellt. So hätten Brüste ein Leben lang einen Nutzen.”
“Überqualifiziert!”, rief Volker erregt klatschend, während ihm die Gesichtszüge vollständig entglitten. “Sagen Sie, wollen Sie mich testen? Kein Wunder, dass Sie auf der Suche nach einer Frau sind.”
Plötzlich klopft es an der Tür. “Volker, kann ich reinkommen?”, tönte eine Frauenstimme.

IV

Vielsagend lag der Gang im flackernden Licht einer genau benennbaren Tageszeit. Es war Mittag. Keine Gedanken und keine Bilder, nur die Vorfreude auf die Überlegenheit im Angesicht der Banalität der bevorstehenden Demütigung. Sven fühlte sich gut und war selbst überrascht über die Klarheit der Empfindung. Es waren keine genaueren Analysen erforderlich, keine Hinterfragung winziger Nuancen, der Gedankenstrom ruhte und es war ein ganzheitliches Gefühl. Gut, doch überlegte Sven, gut ist kein Substantiv, eher ein Zustand und ein Zustand ist keine Empfindung. Liebe, Wonne, Befriedigung, Trauer, Schmerz, Gut. Es fügte sich nicht in die Reihe der großen Emotionen, war zu einfach, zu kurz und nichtssagend. Doch vielleicht liegt hier die Größe verborgen, die in Jahrhunderten der Dichter übersehen, gar missachtet wurde. 3 Buchstaben, der Weisheit, die das Leben transzendieren. Zen. Gut. Also dann, dachte Sven und durchschritt zügig und selbstbewusst den Gang. Ein abschätziger Blick durch die Glastür auf der linken Seite. Die Wartenden, die müde oder wütend oder teilnahmslos im Wartezimmer ausharrten, gebrochen durch die Zeit und die Förmlichkeit, das Ritual der Rechtsstaatlichkeit, vor der alle gleich waren und das allen mit derselben Schicksalslosen Logik begegnet. Sven fühlte, dass er die Methodik durchschaute und über sie hinaufblickte auch wenn er weiterhin ein Teil des perfiden Spiels war. Doch galt es den Schein zu waren, das Wissen zu verbergen und vorzugeben die eigene Glückseligkeit auch weiterhin ausschließlich an den Ausgang und das Gelingen zu binden. Sven sah sich selbst in der Masse als leuchtenden Punkte, der innerlich triumphierte auch wenn er verlor. Eine außerkörperliche Erfahrung in diesem Moment, dachte Sven und ging lächelnd auf die Anmeldung zu, wo sein Blick erstarrte und seine Züge entglitten. Ihm gegenüber saß ein Mann mit Brille, massig im Umfang, verschwand der Drehstuhl unter seinem riesigem Körper und er schien nur schwerelos in der Luft zu sitzen und im Rhythmus der Arbeit von einer Seite seines Schreibtischs zur anderen zur Schweben. Seine Haare waren zur Seite gekämmt, das Hemd makellos weiß und modisch, auch wenn die Knöpfe es nur mit größter Mühe zusammenhielten und der edle Stoff den Blick auf die darunterliegenden Fettwülste nur unvollständig verbarg. Der Mann verharrte einen Moment in der Bewegung, lauschte konzentriert und fuhr fort, bedächtig auf seiner Tastatur zu tippen. Er blickte nicht auf und fragte nur in unbeteiligtem und gelangweilten Ton: „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Bei der Frage wich alles Vertrauen aus Sven und er sah, wie der winzige Punkte in der Masse unterging, verglühte und als unbedeutender Brandfleck im Boden verschwand. Plötzlich fühlte er sich leer und wünschte sich zu Hause zu sein, auf dem Sofa mit einer Schokomilch, oder im Wald, oder selbst bei seiner Mutter. Wütend lokalisierte er letzte Energiereserven und antwortete ruhig: „Peter, was soll denn der Scheiß. Seit wann arbeitest du denn hier beim Amt?“ Der Mann drehte sich zu Sven um, musterte ihn für einige Zeit, schaute über seine Brille und sagte ruhig: „Entschuldigen Sie aber Sie müssen mich…“ „Einen Scheiß muss ich.“, unterbrach ihn Sven, jetzt lachend. „Alter verarsch mich nicht, als obs auf der Welt irgendwen gibt, der aussieht wie du.“ Der Mann schloss die Augen und als er sie wieder öffnete, wirkten sie müde, doch dann wandelte sich der Ausdruck in seinem Gesicht und er brüllte Sven an: „Was bilden Sie sich überhaupt ein. Nicht arbeiten wollen und dann Geld vom Staat und überhaupt, bin ich doch für Sie nur ne Witzfigur. Kommen hier rein, lächelnd und gut gelaunt und denken sie können hier machen, was sie wollen. Und wenns dann doch mal Arbeit gibt oder Maßnahme, den Scheiß dann bloß nicht ernst nehmen was. Und glauben Sie ich weiß nichts von der Klauerei. Die ganzen Scheißwerkzeuge, haben sie mitgehen lassen und die Firma ist pleite gegangen, wissen sie eigentlich was so ne Scheißwerkstatt ohne Werkzeuge ist, ein vedammter Schrottplatz, auf dem alles verkommt. Aber Ihnen macht das ja nichts. Hauptsache ein bisschen Geld und kein Stress, ab und zu ein bisschen Sport, ein bisschen saufen aber nur von nichts zu viel. Jetzt reichts mir aber. Man sollte Sie einsperren lassen, wie heißen sie eigentlich?“

Sprachlos stand Sven vor dem Mann und schloss nun seinerseits die Augen. Scheiße dachte er, was soll man da noch sagen. Am besten schweigen und warten und wenn mir was einfällt, dann raus damit. Aber was, überlegte Sven, was sagt man, wenn es eigentlich nichts zu sagen gibt. Eigentlich hat er ja recht, also aus seiner Position heraus, also angenommen er wäre nicht Peter. Vielleicht hab ich mich auch verguckt, vielleicht wieder die Nerven, war ja auch einiges los in letzter Zeit und überhaupt den ganzen Stress ist man ja nicht gewohnt. Zwei Tage Saufen, ne Schlägerei und ein Toter. Mo, dachte Sven und spürte, wie er vor Wut und Hilflosigkeit die Fäuste ballte. Und wenn schon, dachte er. Vielleicht hat der Typ recht aber dann, wenn man mal meine Situation betrachtet, kann er mich mal. Son Typ hat mir doch gar nichts zu sagen. Schließlich ist das mein Leben, dachte Sven. Und ich wollte ja nicht zum Amt, sondern das Amt zu mir, also in gewisser Weise. Sven öffnete die Augen und war bereit sich umzudrehen und hinaus zu stürmen, doch der Mann hatte seine Brille abgenommen und seine Augen tränten vor Lachen. „Sven Mensch, was ist denn los, also das dich das jetzt so trifft, hätt ich aber nicht gedacht. Du hast ja Tränen in den Augen. Dachte nach der ganzen Scheiße in letzter Zeit brauchst du mal ein bisschen Aufmunterung.“ Verständnislos und schockiert starrte Sven seinen Freund, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, von denen er nicht bemerkt hatte, dass sie ihm die Wange hinabliefen, holte aus, schlug Peter ins Gesicht und fing seinerseits an zu lachen. Krachend viel Peter zu Boden. „Blöder Typ.“, sagte Sven erleichtert und half Peter auf die Füße. „Was für ne doofe Nummer. Ich versteh das nicht, was sollte das denn? Warum? Wie?“

„Ach Mensch Sven, das hast du mich aber gut getroffen.“ Peters Wange war bereits leicht geschwollen und die Worte klangen seltsam gedämpft. „Hoffen wir mal, dass keine Kameras hier sind, sonst wirst du noch verhaftet.“

„Peter, jetzt erzähl mir endlich was das sollte.“

„Sven, du warst so depressiv oder irgendwie traurig in den letzten Tagen und ich dachte, du brauchst ein wenig Aufmunterung,“

„Mo ist vor zwei Tagen gestorben. Aufmunterung und dann so?“

„Naja, doch, schon, aber vielleicht war das auch nicht ganz durchdacht. Na jedenfalls, kennen die mich hier schon beim Amt und neulich war ich hier mit dem Thomas mal einen trinken und da hab ich den mal gefragt, ob wir das machen könnten und der fand das auch ganz lustig. Hat gesagt, wenn wir nicht zu laut sind, und keinen aufhalten, dann geht das schon, weil das Wartezimmer ja in dem Raum dahinten ist. Ich wusste ja, dass du heute einen Termin hast. Aber lass uns jetzt mal lieber ins Wartezimmer gehen.“

„Hast du diesen Thomas nach Laydia gefragt?“

„Lydia… Lydia… Ach, die. Ne.“

„Du kennst hier wen beim Amt und denkst dir so nen Scheiß aus, und dann fragst du nicht mal. Peter echt mal. Scheiße.“ Sven öffnete die Tür zum Wartezimmer. „Peter, echt mal.“, er schaute auf den Boden, das überfüllte Wartezimmer und drehte sich zu Peter um „Peter echt mal, ich hab keinen Bock mehr.“ „Aber auf was?“, sagte Peter lachend, rieb sich die aufgequollene Wange und Sven war unfähig Peters durchdringenden Blick zu deuten.

III

“Und hier die Nachrichten um halb eins. Dreister Diebstahl: Auf der Baustelle des neuen Piercing- und Tattookomplexes in der Marktstraße wurden über Nacht mehrere hundert Kilogramm Stahl gestohlen. Die Polizei steht bisher vor einem Rätsel, vermutet die Täter aber in Beziehung mit illegalen Altmetall- und Rohstoffverwertungskreisen, die vor allem in Osteuropa Hochkonjunktur haben. Hinweise aus der Bevölkerung werden an das zuständige Polizeikommissariat erbeten.”
Ein zweiter Sprecher mischt sich ein.
“Unglaublich, diese Stahldiebe.”
“Nein, Diebstahl.”
“Ja, sobald die Diebe den Stahl stahlen, begingen sie Diebstahl.”
“Achso, dann macht einen das Stehlen von Stahl also zum Stahldieb.”
“Genau. Der Diebstahl begeht.”
Sven schaltete entnervt das Küchenradio aus. Er bereute die Entscheidung, es überhaupt eingeschaltet zu haben, aber in schwachen Momenten wünschte er sich nichts Anderes als Berieselung, harmloses Gedudel und ein bisschen Lokalkolorit, in der Hoffnung, es möge ihm die Sorgen des bevorstehenden Tages mildern, während er sein spätes Frühstück einnahm. Doch nach wenigen Minuten wurde er meistens furchtbar aggressiv, angesichts debiler Radiomoderatoren, die neben dümmlichen Diskussionen und altbackenen Alliterationen popartige Pissmusik anpriesen, als gäbe es nichts Besseres. Er dachte kurz darüber nach, das Radio einfach aus dem Fenster zu schmeißen, aber brachte es nicht übers Herz, schließlich war es ein Geschenk seiner Mutter zur letzten Weihnacht.

So holte ihn die Eingebung, dass er heute Nachmittag das Gespräch beim Arbeitsamt hatte, zurück auf den Boden der Tatsachen. Wie bereitet man sich auf ein solches Gespräch vor? Nicht, dass es Neuland für ihn wäre, aber das letzte lag schon eine Weile zurück. Zusätzlich die Nervosität, von dieser Lydia empfangen zu werden und die bange Frage, ob es sie überhaupt gibt oder ob er nicht schon komplett verrückt geworden sei. Zimmer 113. Vielleicht ein Code? Sven versuchte angestrengt, mit der Zahl im Kopf zu spielen, aber zu viel mehr, als die Quersumme zu bilden und genauso dumm dazustehen wie vorher, war er nicht imstande. Rote Haare – Satan? Hexe! Zu einfach! Es war wie immer, er kam nicht über kleine, harmlose Gedankenspiele hinaus und verlor sogleich die Lust daran. Es musste daher, wie so oft in seinem Leben, mit der altbewährten Methode klappen, die zu einer Art Lebensphilosophie für ihn geworden ist: ‘Augen zu und durch!’ Nein, zu einfach. ‘Das Glück kommt zu den Wartenden.’ Ja, schon besser. Das ganze Schlamassel ließe sich schon auseinanderklamüsern; davon war er überzeugt. Diese Lebenseinstellung war auch sehr erfolgreich bei der Abwehr störender Gedanken, z. B. bezüglich der Kürzung seiner Leistungen. Ohne das Geld wäre er echt in der Bredouille und er sah seine Mutter ihn schon vom Küchenfenster aus ins Elternhaus zurückwinken. Ach was, dachte er, und vertrieb die Vorstellung mit einer fächernden Handbewegung, als wäre sie eine Dunstwolke. Egal welche Demütigung heute von ihm abverlangt würde, Ein-Euro-Job, Sinnlosfortbildung oder Basteln mit Rentnern, er würde sein Lächeln nicht verlieren, im Gegenteil, er würde dem Teufel ins Gesicht lachen und zu allem Ja sagen. Denn das war seine stärkste Waffe: Andere glauben machen, dass ihm eine bestimmte Sache nichts ausmacht und dann subtil zurückschlagen. So hatte er einmal, während einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in einer Werkstatt, kleine Werkzeuge und -teile peu à peu in die eigene Tasche gesteckt, so viel, wie er für den Eigenbedarf brauchte und so wenig, dass es niemandem auffiel. Wenn er schon schlecht bezahlt würde, dann müsse er sich halt das zusammenklauben, was er verdiene. Das Wort Diebstahl kam ihm dabei gar nicht erst in den Sinn. Dann endete die Maßnahme und er zog mit einem guten Gefühl weiter. Sven grinste, als wäre beim Onanieren die Uhr stehengeblieben. “Oh, Gott, ich muss los!”, keuchte er und stürzte zur Tür hinaus.

II

Sven wusste nicht was er machen sollte und fühlte sich überfordert. Er fuhr die Straße entlang, versuchte nichts zu denken und musste einsehen, dass auch das in gewissem Sinne wieder ein Gedanke war. Ein Vorhaben , überlegte er, auch wenn es unmöglich sein sollte oder erfolglos. Eine gescheiterte Handlung, die geplant ist aber nicht umgesetzt werden kann. Handlung ohne Aktion, die nur im Kopf vollzogen wird und deren Ausführung selbst dort scheitert. Und wieder ein Gedanke. Abrupt zog Sven die Bremse, schlitterte ein Stück auf der vom Frost überzogenen Straße und kam schließlich zum Stehen. Er befand sich mittlerweile auf einem kurzen Stück Feldweg, das die beiden Ortsteile des Dorfes verband. Um diese Uhrzeit gab es hier keine Menschen und alles was er in der Ferne erkannte, waren die vorbeiziehenden Scheinwerfer der Autos, die sich hinter der nächsten Kurve auflösten, und dann nach einer Weile durch Neue ersetzt wurden. Ein Stakkato von Licht und Dunkelheit und von Stille und Motoren. Sven schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Geräusche des frühen Abends und hörte ein seltsames Rauschen, ein tiefes Summen, dass er immer bemerkte, wenn er im Wald war, oder auf dem Feld, oder Nachts im Dorf, und nichts um ihn herum geschah und alles ganz ruhig war. Es war kein Lärm von Fahrzeugen oder Fabriken, auch wenn es sich manchmal mit einem Klang vermischte, der dem lauten und schrillenden Schlagen eines riesigen Hammers auf Metall glich. Doch das Rauschen wurde dadurch nur intensiver. Sven wusste nicht ob es ein alltägliches Geräusch war, das jeder hören konnte der allein war und die Augen schloss oder ob es sein eigenes, sein persönliches Rauschen war. „Es ist immer da, aber nicht in mir“, überlegte er. „und in der Stadt höre ich es nicht. Und im Winter in den Bergen höre ich es nicht. Unter dem Schnee schweigt alles.“, dachte Sven „unter dem Schnee schweigt die Erde, die sonst rauscht.“ In diesem Moment tauchte auf der Landstraße ein LKW auf, hupte und durchschnitt die abendliche Luft. Svens Gedanken gerieten in Unordnung und plötzlich sah er Mo’s Gesicht in der Dunkelheit vor sich. Plastisch, durchsichtig und aus sich selbst strahlend, stand es körperlos in der Luft, bevor es wieder verschwand.

Es hatte mehr als eine Stunde gedauert, bis vor zwei Tagen endlich die Sirenen des Krankenwagens vor dem Schmiedehammer erklungen waren. Dreimal hatte Sven in der Notzentrale angerufen, bis er jemandem verständlich machen konnte, was er wollte und wo er war. Die ganze Zeit über hatte er fluchend auf dem kalten Küchenboden gesessen, hatte Mo’s Kopf in seinem Schoß gehalten und dabei dessen unerbittliches Fiepsen und Röcheln ertragen. Fast unverständlich, doch mit einem bittenden, fast flehendem Ton, der die Worte nur erahnen ließ und dann doch wieder unmissverständlich und klar „Lass ma… Lass ma… Is schon gut…“ Sven hatte nicht verstanden, warum ausgerechnet er Mo an diesem Abend finden musste, warum er ausgerechnet an diesem Abend ein zweites Mal in den Schmiedehammer gegangen war und doch schien es auch jetzt noch unvermeidlich. Als der Rettungsdienst in die Wohnung gekommen war, hatte es nach all der Zeit des Wartens und der sinnlosen und überstürzten Anrufe etwas Unwirkliches und fast hätte Sven vergessen, dass Mo’s Kopf immer noch auf seinen Beinen lag. Die beiden Notärzte hatten sich so ähnlich gesehen, dass Sven sie, auch wenn er sich bemühte und argwöhnisch die Augen zusammen kniff, nicht unterscheiden konnte. Beide waren groß, mit langen Gesichtern und spitzem Kinn aus denen unregelmäßig einige Haare sprossen. Hellblaue Augen und über ihrer rechten Braue, fast parallel eine rötliche Narbe. Abwechselnd hatten sie Sven einige Fragen gestellt, doch Ihre Stimmen waren identisch, so dass er nie gewusste hatte, wer gerade sprach und beinahe hatte es geklungen, als redeten sie zur gleichen Zeit und das Ende der einen Frage akzentuierte nur den Beginn der nächsten. Sven erinnerte sich nur undeutlich an das Gespräch, das halb im Verborgenen lag, und ihm auch jetzt mit einigem Abstand und in seiner Undeutlichkeit seltsam und bizarr vorkam. „Ihr Freund hier ist der Besitzer der Bar?“ „Seit wann?“ „Hatte er in seiner Jugend jemals Nasenbluten?“ „Und Haarausfall?“ „Geschlechtsreife in welchem Alter?“ „Häufigkeit der sexuellen Aktivität?“ „Und bei Ihnen?“ Verständnislos hatte Sven sie angestarrt und sie angefleht Mo zu helfen und schließlich versucht ihnen etwas von Mo’s Worten mitzuteilen, von Gestalten die Mo manchmal sah und davon, dass Mo vielleicht nicht mehr leben wollte. „Selbstmord? Haben Sie ihn umgebracht? Nur Spaß.“, oder etwas Ähnliches war ihre Antwort und Sven hatte nur noch wütender gestottert und ihnen Mo’s Satzfetzen zusammenhanglos entgegengeworfen bis sie Sven mit übertriebenen, weit ausholenden Gesten und zugespitzten Gesichtszügen ihre Hände auf die Schulter gelegt, ihm ein paar Tabletten in die Hand gedrückt und zu einem Stuhl geführt hatten. „Wie zwei Schauspieler aus einem frühen Stummfilm bei denen jede Handlung wirkte wie Ihre eigene Parodie“, musste Sven jetzt denken. „Hören Sie“, hatten die beiden gesagt und ihre Worten hallten in Sven Ohren noch immer wider wie ein Echo. „Ihr Freund hier ist tot und das wahrscheinlich schon seit ner ganzen Weile. Nehmen Sie die erst mal, dann geht’s Ihnen schon besser und dann fahren wir Sie nach Hause. Und jetzt entspannen Sie sich erst mal. Sind ja ganz blass im Gesicht. Kein Wunder. Die Nerven. Die Nerven.“ Sven erinnerte sich nicht, was danach geschehen war. Irgendwann hatte er sich in seiner Wohnung sitzend wiedergefunden, neben ihm nichts als das beruhigende auf und ab von Peters Schnarchen, welches wie schon fast üblich die Zimmer von Svens Wohnung ausgefüllt und ihm die Zeit bis zum Morgen vertrieben hatte, als er im lokalen Radiosender erneut von Mo’s Tod erfahren hatte.

I

Sven blickte müde auf den Laptop-Kalender. Er starrte eine Weile leeren Blickes darauf und plötzlich riss es ihn aus dem Gedankenvakuum. Er war abgeschweift. Erneut versuchte er, sich auf das heutige Datum zu konzentrieren und dann fiel es ihm ein. Er wollte seine Mutter besuchen, mit dem Fahrrad, denn er hatte kein Auto, wozu auch, hier im Dorf, wo alles übersichtlich und fußläufig erreichbar ist; und überhaupt zu teuer.

Es dämmerte schon wieder draußen, obwohl es erst kurz nach 16 Uhr war. “Ach, gestern wurde auf Winterzeit umgestellt”, fiel ihm ein und so machte er sich alsbald auf zu seinem Elternhaus. Die Luft war kühl und der Fahrtwind ließ seine Hände unangenehm kalt werden, aber noch nicht so, dass es schmerzte. Es deutete alles auf einen frühen Wintereinbruch hin, der wohl zur Weihnachtszeit, in der es, seiner Meinung nach, kalt sein sollte, längst wieder abgeklungen sein wird. Kurz darauf erreichte er das Haus und sah seine Mutter in der Küche an der Spüle stehen, die zur Straßenseite gerichtet lag. Sie erwiderte seinen Blick mit einer Art vorbereiteter Vorfreude, die sogleich einer vorwurfsvoll-enttäuschten Grimasse wich, die Sven nur zu gut kannte. Wissend, mit welchen Worten er empfangen würde, öffnete er die Haustür und sah seine Mutter auf ihn zugehen.
“Junge, hast du immer noch kein Licht?”
“Och, Mutter. Das Thema hatten wir doch schon tausendmal. Ich hab gute Augen.”
“Ja, aber andere Leute vielleicht nicht. Und dann liegst du eines Tages unter irgendeinem Auto und denkst an meine Worte.”
“Als ob ich ausgerechnet dann an deine Worte denken würde… Außerdem hab ich das voll im Griff. An Kreuzungen und Seitenstraßen fahr ich langsamer und halte lieber an, wenn ein Auto von der Seite kommt und der Fahrer mir den Blickkontakt verwehrt. Manchmal bremsen die dann abrupt ab, fahren dann ein Stück neben mir her, lassen das Fenster runter und brüllen irgendwas wie: “Kein Licht, du Arschloch!” oder einfach “Licht!”; und ich denk nur: “Seid ihr eigentlich total bescheuert? Muss ich mir von so einem fetten, alten Bonzen sagen lassen, der in seiner Uralt-Mercedes-Drecksschleuder seit Jahrzehnten ungestraft den Planeten verpestet, dass ich Licht an meinem Fahrrad haben soll? Nur weil sich der blöde Spacko beim Bremsen erschrocken hat? Und was soll immer dieses ‘Licht’, ‘Licht’? Sind die Wichser blind? Hätte ich Licht am Fahrrad, würde ich es ja anmachen. Aber ein ordentliches Fahrradlicht ist teuer. Wenn du son Billigding mit kaufst, kannste ja jeden Tag Batterien wechseln und bezahlst dich nachher dumm und dämlich.”
Sven sah die glasigen Augen seiner Mutter und hielt inne. Mit weinerlicher Stimme sagte sie:
“Nun komm doch erstmal in die Stube.”
Svens Mutter brachte Kaffee und Kuchen und beide setzten sich an den Esstisch.
“Wie geht’s dir so, Mutter?”
“Ach, wie soll’s mir schon gehen? Alles gut, Junge. Hast du mittlerweile Arbeit gefunden.”
Sven versuchte mit aller Kraft, seine empörte Standardausrede zu vermeiden, die gewöhnlich bei dieser Frage aus ihm herausbrach. Stattdessen sagte er ruhig: “ Ich muss diese Woche noch zum Arbeitsamt. Vielleicht ergibt sich irgendwas.”
Du weißt, du kannst jederzeit wieder zu mir ziehen. Dann sparst du dir die Miete.”
“Ich weiß, Mutter, danke, aber wir hatten das Thema. Ich möchte alleine wohnen.”
Wortlos nippten beide an ihren Tassen und aßen ihren Kuchen auf.
“Nimm noch einen Lebkuchen, Sven.”
“Wohl eher Stirbkuchen, bei all dem Zucker”, dachte Sven und verfluchte seine Gedanken.
Wozu über den vielen Zucker meckern, der überall drin ist, wozu seine Mutter damit behelligen, warum überhaupt mir ihr reden, sie versteht ja doch nichts. Dieses kleinbürgerliche Leben, Selbstgefälligkeit. Darin sind sie und das Dorf versunken und daran wird hier einmal alles zugrunde gehen. Internet als Ausweg und gleichzeitig Tor zur Hölle. Wäre dieses Tor nur verschlossen geblieben oder an mir vorbeigegangen. Ich wünschte meine Geburt in einer anderen… ach, was soll’s.
“Hast du von der Sache im Schmiedehammer gehört? Der Barkeeper soll doch verstorben sein.”
Sven sprang von seinem Stuhl auf. “Keine Ahnung. Ich muss dann auch mal wieder. Bis nächste Woche. Und danke für den Kuchen.”

Sven schwang sich auf sein Fahrrad und radelte schnurstracks davon. Seine Augen wurden feucht, sei es durch den Fahrtwind oder die Gedanken an vorgestern Nacht. Er fuhr mitten auf der Straße, um die Autofahrer oder irgendjemanden zu provozieren, sodass man ihn anbrüllen möge und er zurückschreien könne, rausschreien, was schon viel zu lange in ihm rumorte, aber niemand tat ihm den Gefallen, böse auf ihn zu sein.