VI

Ach Sven nichts ist so wie es mal war und weiter geht hier schon gar nichts mehr. Das weißt du selbst am besten.“, der Mund des gekreuzigten Peters verzog sich unnatürlich und bei jedem Wort schienen die Bewegungen der Stimme einen Augenblick zu spät zu folgen. „Die einstigen Winter sind vergangen und was jetzt folgt sind trübe Gedanken und eine zerbrochene Welt.“ Die Umrisse des an der Wand hängenden Körpers waren nur undeutlich zu erkennen und schienen sich im Takt der Sekunden zu verändern. Die Holzfigur hatte seine Materialität verloren und der runde Kopf Peters war jetzt kahl rasiert und lachte Sven aus zusammengekniffenen Augen fröhlich an. „Aber was jetzt zerbrochen scheint, hat sich nie verändert und war schon immer verloren. Mo hat das begriffen.“ Stetig verschwamm das Gesicht vor Svens Augen und kaum hatte es eine Gestalt gefunden, zerschmolz es in einer fortdauernden Suche nach seiner finalen Gestalt. Der Efeukranz, der sich auf dem unbehaarten Schädel manifestiert hatte verschwand und die Züge des blassen Antlitz wurden animalischer. In einer fließenden Bewegung wuchs die Nase in den Raum hinein. Unbeteiligt verfolgte Sven das Schauspiel, setzte sich auf den Boden und kicherte leise, während sich der gekreuzigte Ganesha in Lydia verwandelte. Ihre roten Haare fielen auf ihre Schultern. Nackt hing sie vor ihm und lächelte ihn an. Er hatte die Hände auf den Boden gestützt und machte Anstalten aufzustehen, doch nur kurz darauf ließ er sich lachend zu Boden fallen. Hilfesuchend blickte Lydia zu Sven und versuchte sich von den Pflöcken in ihren Handgelenken zu lösen. Blut lief an ihr hinab und bald darauf vermischte es sich mit dem rot ihrer Haare, bis nur noch das Gesicht weiß war.

Sven lag mit geschlossenen Augen auf dem Boden, hörte von weitem, gedämpft durch sein eigenes Lachen, das leise Wimmern Lydias. Das verklingende Leid, dass hinter der Schwärze von Svens Lidern undeutlich hindurch schimmerte, trug ihn hinüber in eine andere Zeit. Wieder ein Geruch, denn ohne ihn existiert keine Erinnerung. Ein altes Haus. Etwas im Holz. Moder. Und dann auch wieder nicht. Die Unmöglichkeit einer Beschreibung und die Erkenntnis, dass es aus diesem Grund Sinne gibt und nur Menschen die Sprache brauchen, um etwas zu beschreiben, das nur in Gedanken existiert. Ein fortwährender Kampf der Analyse des Gelebten und wie wir es erleben und warum wir leben. Das ewig menschliche Mysterium: Dekonstruktion der Sinne zur missratenen Rekonstruktion der Welt. Und das Scheitern ist unausweichlich. Etwas fehlt oder ist zu viel. Ich analysierte den Moder und er ging dahin und roch Verwesung und wusste nicht, was es war und er war glücklich. „Der Gedanke. Ein gescheiterter Versuch.“, dachte Sven und hoffte zu verstehen, während sich Lydia zuckend vor ihm bewegte und schließlich erstarrte. Er fühlte eine tiefe Müdigkeit in sich aufsteigen und sank wieder auf den Boden. „Es ist Zeit für ein Opfer“, dachte Sven und fragte sich wo er war und was Peter mit ihm machte.

V

Der Himmel erwachte in perfektem dunkelblau. Wie spät es wohl war, dachte Sven und rieb sich die Augen. Er war vor dem Fernseher eingeschlafen. Er trat ans Fenster und sah dicke, weiße Flocken vom Himmel fallen. Auf irgendeine Art fühlte er sich in diesem Moment sehr geborgen und schwelgte ein wenig in melancholischer Erinnerung an winterliche Morgengrauen aus unbeschwerten Kindheitstagen.

Von irgendwo roch er gebratene Zwiebeln und Knoblauch. Dem Geruch folgend, schritt er durch einen schmalen Gang bis zu einer Tür, hinter der er Stimmen vernahm. Er öffnete sie einen Spalt und fand sich in einer recht weiträumigen, spartanisch eingerichteten Küche wieder, wo Peter und der Pfarrer angeregt an einem alten Gasherd etwas in einer Pfanne zubereiteten. “So, mein Libber, eins zwei Schalöttschen musste aber noch dazutun.”, sagte Peter und der Pfarrer leistete seiner Anleitung Folge. “Hach, riescht dat nisch herrlisch. In die Pfanne könnt isch misch glatt reinlejen, so fantastisch riescht dat.” Sven fühlte sich unweigerlich an einen Fernsehkoch erinnert, dessen Name ihm aber nicht einfiel. Vielmehr wunderte ihn Peters Verhalten. “Morgen! Ihr seid aber schon früh auf den Beinen. Was kocht ihr denn Schönes?”, fragte Sven. Doch die beiden schienen ihn nicht zu bemerken und würdigten ihn keines Blickes. “Schätzelein, jetzt noch schön die Kartoffeln dazu un ein bissken Speck. Genau so – ein Träumchen!” Die beiden schienen so vertraut miteinander. Sven beobachtete die Szene eine Weile, sah, wie Peter den Pfarrer mehrmals mit einem wonnigen Lächeln am Arm tätschelte, bemerkte das lockere Mienenspiel, die neckischen Andeutungen, kurzum: Es wirkte auf ihn, als stünden da zwei beste Freunde und trieben Schabernack am Herd. Von der homoerotischen Komponente mal abgesehen und der Tatsache, dass Peter Schwule, Dialekte und Kochen hasste, und dass er für die beiden nicht anwesend zu sein schien, blieb Sven gelassen und sogar das vorherige Wohlgefühl aus Kindheitstagen kehrte in ihn zurück. Es erfüllte ihn regelrecht mit Glück, dass er den Zustand zumindest im Ansatz wiederherstellen konnte, denn das gelingt nur ganz selten im Leben.

Seine Nase tropfte, ohne dass er es merkte. Zu seinen Füßen hatte sich eine kleine Pfütze gebildet. Die Küche war leer, nur der Geruch von Bratkartoffeln und Speck lag noch in der Luft. Er wünschte sich in diesem Moment, wenn künstliche Intelligenzen irgendwann einmal in der Lage sein sollten, sich in das Gehirn eines Menschen einzuhacken beziehungsweise einzufühlen, genauer und wertfreier als ein Mitmensch es je könnte – ist er doch in erster Linie auf seinen eigenen Vorteil aus – von einer solchen Maschine entdeckt zu werden, dass sie sein wahres Potential zum Vorschein brächte. Aus feuchter Nase wurden feuchte Augen. Der gekreuzigte Jesus an der Wand trug Peters Antlitz. „Sag mal, Peter“, flüsterte er mit brüchiger Stimme, „Glaubst du, dass es im Leben irgendwann mal nicht mehr so weitergeht wie bisher?“

IV

Der Priester saß Peter schweigend gegenüber. Sie hatten sich in einen kleinen Raum des Turmes zurückgezogen. Von Sven unbemerkt war Peter bestimmt und ohne Zögern durch die Gänge geschritten. Der Geistliche hatte sich nicht getraut zu widersprechen und war von der Situation sichtlich berührt und erschrocken. Etwas in ihm hatte ihm gewahrt nicht zu widersprechen, der imposanten Gestalt und dem zügellosen Wesen Peters keinen Widerstand zu leisten. Viele Zweifel hatte er durchlebt, Menschen hatten sich von ihm und seinem Haus abgewandt. Er war der stumme Verwalter eines versinkenden Glaubens, der unter der Last der Moderne und immer neuen Schichten digitaler Relikte erdrückt wurde. Die Mystik und die Hoffnung, die ihn zu seiner Religion getrieben hatten, waren auch ihm immer schneller aus den Händen geglitten. Zwei Zahlen, die Bilder erschufen, auch das Bild des Einen manifestierten, und das Chaos ordneten, die Symmetrien schufen, wo das Paradies in unzählbare Fragmente zerfallen war, hatten ihn innerlich aufgerieben. Nachdem die Leute, seine Schäflein, zuerst zu ihm kamen um Rat zu suchen, später um ihm ihre Fragen anzuvertrauen, zitierten sie nun selbstbewusst die Antworten, der neuen Propheten, die ihre Lehren in den Foren der neuen Welt verkündeten. Mühelos sprangen sie dabei durch die Zeiten, überwanden Zeitalter und Kontinente, verbanden Kulturen und Weltsichten und gelangten dabei zu Einsichten, die so simpel und tiefgreifend waren, dass er immer tiefer in sich versank.

Die Welt ist komplex, dachte er, doch es gibt immer mehr zu tun, also muss die Welt einfacher werden. Wie kann ich etwas einfaches sagen?Er verstand seine eigene Begrenztheit, war frustriert über seine Hilflosigkeit und glücklich über seine Nutzlosigkeit. Und letztendlich, als auch die Alten gestorben waren und die Anderen eingesehen hatten, dass von ihm kein Trost und keine Hilfe zu erwarten war, hatte er sich immer weiter in seinen Turm zurückgezogen. Die Tür war verschlossen. Und doch hatte er seine Berufung nicht aufgegeben. In stummer Resignation hatte er sich seiner Religion ergeben und gehofft, dass all seine Gewissheiten nicht durch die Gewissheiten der vielen Anderen erstickt würden. Und doch kamen die Zweifel, kam das Andere, kam die Sünde und die Zerstreuung. War erst der Turm ein Bild seines einsamen Kampfes, wurde er mehr und mehr zur einer Kammer der Schrecken, die ihn heimsuchten. Die Zeit brach über ihn hinein und ließ ihn jeden Abend zitternd zurück, im Angesicht seiner eigenen Schwäche. Oft hatte der Priester Peter gesehen, wie er starr in sein Fenster blickte und dabei alles zu durchschauen schien. Die Mauern waren eine gläserne Fassade und auch er war nur eine seidene Hülle, die sein unbekannter Nachbar mit jedem Augenaufschlag durchschnitt.

Als der Priester nun die Tür öffnete und Peter erblickte, wusste er, dass der Moment der Büße gekommen war und er sich willenlos dem größeren Willen ergeben würde. Er war glücklich, dass die ziellose Suche beendet war und begriff, dass sein Streben nicht vergebens war. Es gab keine Religion und der Erlöser stand vor ihm.

III

Sven machte sich große Sorgen, während die beiden vorauseilten. Was, wenn Peter den kleinen Mann jetzt einfach irgendwo durchorgelt? Er verfluchte mal wieder seine schmutzigen Gedanken und war insgeheim froh, dass keiner sie lesen konnte. Noch froher war er, dass er bis zum heutigen Tag immer an sich halten konnte, ohne dass seine absurden, nicht selten verletzenden Hirngespinste unkontrolliert aus ihm herausbrachen. Manchmal, bei besonders heftigen geistigen Auswüchsen, musste er sich vergewissern, dass diese nicht aus seinem Kopf herausquollen und irgendwo manifestierten, wo sie dann ihr Unwesen als fleischgewordene Alpträume trieben. Zuweilen befand er seine Gedanken für derart dunkel, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass irgendjemand sonst, auch nur im entferntesten, so wie er gespalten sei. Aber das ist wohl die menschliche Natur, dachte er, und es bringt nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, weil es alle tun. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht, wie man die Finsternis in sich im Zaum hält oder eben auslebt. Gut oder Böse ist keine Einteilung, sondern Lebenseinstellung.

“Ja, gib’s mir, du böser Junge, du Schlimmer du, du wilder Hengst!” Vor einer halb geöffneten Tür stehend, vernahm Sven eine abgehackte, metallische Stimme. Er ahnte Furchtbares und lugte vorsichtig in den Raum dahinter, welcher menschenleer war. Nur der Fernseher lief, wo gerade ein Sexroboter vorgeführt wurde. “Besorg’s mir härter, du geiler Bock!”, gab die künstliche Kreatur stöhnend von sich. Sieht täuschend echt aus, dachte Sven, dem ein bisschen Blut in die Hose lief, was zu einer kleinen Ausbeulung seiner Jeans führte, aber bei der Stimme hätte man wirklich mehr Wert auf Natürlichkeit legen können. Wer fährt denn auf diese plumpe Roboter-Anmachdidaktik heute noch ab? Die Kamera schwenkte auf einen Mann, offensichtlich der Erfinder des Porno-Androiden.
“Sexualität ist nur ein Bereich, in dem Roboter den Mensch in Zukunft ersetzen werden. Dabei ist künstliche Intelligenz beim Geschlechtsverkehr eh nicht so wichtig. Ich glaube, keiner von uns möchte einen Roboter, der plötzlich über Kopfschmerzen klagt oder sich wundert, ob er bzw. sie die Wäsche aufgehängt hat, wenn man zur Sache kommen will. In anderen Bereichen ist KI jedoch schon so weit, dass sie sich selbst etwas beibringen kann. Aber wer will schon einen Sexsklaven mit potentiellem Eigenleben? Da kann man sich auch gleich mit den eigenen Artgenossen abgeben.”

Sven schauderte einen Moment lang vor der Vorstellung, Lydia sei ein Sexroboter mit Eigenleben, erschaffen, nur um ihm die Anerkennung einer Frau vorzugaukeln, wo er doch sonst ziemlich chancenlos beim weiblichen Geschlecht war. Aber wer sollte so etwas unsäglich Absurdes entsinnen, nur um ihn leiden zu lassen? Und wo zur Hölle sind Peter und der Priester? Bitte, lass Peter dem armen Priester nichts antun, flehte Sven an einen unbestimmten Gott. Wie konnte sein Leben in so kurzer Zeit nur so aus den Fugen geraten? Er begann zu taumeln und musste sich an einer Sofalehne abstützen. Vor seinen Augen wurde alles schwarz.

Jetzt sitz’ ich hier
Und seh nichts mehr
Und um mich herum die Sterne

Von ihr an blind
Ich spür’s in mir
Ein Zittern in der Ferne

II

Manchmal war die graue Wand braun, manchmal schön und manchmal trostlos, doch nie hatte Sven sie als etwas zweckmäßiges betrachtet. In seiner Vorstellung war sie vieles gewesen: das einzige Gemälde, dass sich Peter jemals würde leisten können, eine Metapher für sein Leben, dass manchmal bedrohlich bröckelte, doch dessen Fundament auf seine eigene Weise unantastbar war, ein Makrokosmos, den es lohnte bei verschiedensten Tätigkeiten anzustarren und dann wieder zu hinterfragen. Doch als Sven jetzt vor ihr stand, musste er sich eingestehen, dass sie auch und vor allem eine Wand war. Etwas, dass das Außen von dem Innen trennte. Ein Gebrauchsgegenstand, der von ihm, von Sven, rücksichtslos und ohne Reue mit Bedeutung geschwängert worden war, doch der sich nun an diesem wolkenverhangenen Wintertag, die Deutungshoheit über die eigene Sinnhaftigkeit zurückerkämpfte. „Der wird sich aber wundern!“ Peter, der jetzt aus unerfindlichen Gründen eine braune Perücke trug, lausche den nahenden Schritten des Pfarrers voller Vorfreude, doch nach einer Weile verklangen die Geräusche. Ungeduldig hämmerte Peter mit den Fäusten gegen die schwere Holztür. „Herr… Pfarrer. Dies ist ein dringender Notfall.“ Kommen Sie sofort vor die Tür, wir müssen mit Ihnen reden.“ Sven meinte ein tiefes Atmen hinter der Tür zu vernehmen.

„Wer ist da?“ Die Stimme des Pfarrers klang brüchig.
„Herr Pfarrer. Wir wissen was Sie tun und fordern Sie auf uns umgehend Zutritt zu Ihren Gemächern zu gewähren.“
„Wer ist da, was wollen Sie?“
„Wir sind die, die alles wissen und was wir wollen, habe ich Ihnen gerade erklärt.“
„Ich werde jetzt gehen.“, sagte der Pfarrer, der scheinbar keine Anstalten machte zu gehen.
„Herr Pfarrer, es geht um ein Opfer, von dem Sie schon lange wissen, dass es irgendwann gebracht werden muss.“ Sven schaute Peter verängstigt an. Doch Peter lächelte nur und schüttelte den Kopf, was Sven noch mehr irritierte.

Mit einem Ächzen wurde die schwere Tür geöffnet und Peter und Sven standen einer kleinen Gestalt mit kahlem Kopf gegenüber. Verängstigt schaute das Männchen auf den über ihm aufragenden Peter, der den ganzen Türrahmen ausfüllte. Wild und panisch flackerte sein Blick.

„Sind Sie ein guter Christ?“, dröhnte Peters Stimme und bevor der Pfarrer etwas erwidern konnte, wurde seine Stimme sanfter „Seien Sie ehrlich mein Freund. Auch wenn Sie es nicht ahnen, so weiß ich vieles und sehe, was nicht viele sehen.“ Die Stirn des Pfarrers war von Schweiß bedeckt. Erst jetzt bemerkte Sven, den schon vergehenden Geruch von Rauch und Bier, der ihn unwillkürlich an eine fast vergessene Freiheit und kalte Winterabende erinnerte. Die aufsteigende Erinnerung stand im Gegensatz zum Anblick des zitternden Männchens, doch drängten sich die Bilder immer stärker in den Vordergrund. Eine weiße Landschaft, Wiesen und Bäche und Flüsse. Und in dieser weißen Welt zwei Gestalten, die sich mühsam durch den Schnee kämpfen. Stechende Luft und eine Klarheit, die Lungen und Bronchien und Kapillaren zu zerreißen droht. Ein wohltuender Schmerz, eisige Kälte, keine Zukunft und keine Gedanken. Die flehende Stimme des Pfarrers überlagerte die Bilder in Svens Kopf. „Vergib mir Herr, ich war kein guter Christ, denn ich habe gesündigt und ich habe gezweifelt. Ich habe mich von Trugbildern leiten lassen und die flüchtigen Erscheinungen der Welt für deine Offenbarungen gehalten. Die Seele ist groß und die Liebe ist groß, doch dieser Größe zu huldigen, war ich nicht im Stande. Falschen Götzen haben ich gelauscht und falsche Gebete habe ich gesprochen. Der Körper war mir näher als der Geist und heilige Offenbarungen habe ich mit Ekstase verwechselt. Vergib mir.“ Verzweifelt umklammerte der Pfarrer Peters Beine und flehte um Vergebung, bis dieser sich zum ihm beuget, ihm über den Kopf strich und etwas ins Ohr flüsterte. Anschließend warf Peter den Pfarrer über seine Schultern und ging mit ihm die Treppen des Turms hinauf.

I

„Mir brennt noch was auf der Seele. Zornig und hartnäckig lodert da was. Ich wundere mich, wie wir hierhergekommen sind, wir und generell alle anderen. Dass es uns noch gibt, als Spezies. Jahrtausende lang schleppen wir uns so durch und dann explodiert alles förmlich wegen so einer Dampfmaschine – lächerlich. Eine Art menschgemachter Urknall auf der Erde, der uns zu verschlingen droht. Aber wir schießen derweil lieber unterirdisch Teilchen aufeinander in riesigen Kollisionsringen, anstatt uns der oberirdischen Gefahr bewusst zu werden, die aus uns selbst entspringt.
Weißt du Peter, das alles geht nicht spurlos an mir vorbei. Ich will mich nicht damit belasten, aber kann doch nicht anders, bin Informationsmasochist und zieh mir jeden medialen Furz in die Nase. Dabei verfluche ich mich und die ganze verdammte Informationsmaschinerie, vor allem das Internet. Und das Schicksal auch, dass es mich auf diese Bahn gezwängt hat.
Was gäb ich drum, früher geboren zu sein. Weiß nicht, so als Teil der goldenen Generation kurz nach dem Krieg, wo Aufbruchstimmung herrschte und jeder träumen konnte. Schau dich doch um, das sind jetzt die Bonzen-Rentner, die in ihren Limousinen an Fahrradfahrern vorbeifahren und mit hassverzerrten Fratzen Worte ausspeien, die man normalerweise seinem schlimmsten Feind nicht zumuten würde. Die Leute, die diesen Planeten maßgeblich durch ihren Lebensstil ruiniert haben und noch rechtzeitig abtreten werden, bevor hier alles zusammenbricht. Größtenteils unwissentlich – das ist ja die bittere Ironie. Umweltschutz wurde doch seinerzeit belächelt und ein globales Dorf waren wir auch noch nicht. Es gab halt damals noch kein Bewusstsein dafür, dass wir maßhalten sollten, um zukünftigen Generationen nicht das Wasser abzugraben. Stichwort: morphogenetische Felder.“
Peter ging langsam zum Fenster und schaute genügsam hinaus.
„Ach, ich wünschte, diese gottverdammte Büchse der Pandora namens Internet hätte sich nie geöffnet. Vielleicht hätte ich dann Zeit gefunden, etwas Anständiges zu lernen, einen handwerklichen Beruf etwa. Ich könnte einfach Teil der Dorfgemeinschaft sein, würde Fußball spielen im Verein und am Wochenende in der Kneipe sitzen und über derbe Zoten lachen, ohne mich stellvertretend für Randgruppe X oder Y angegriffen fühlen zu müssen. Stattdessen bin zu einer umherwandernde Hure mutiert, die sich alle zwei Wochen beim Arbeitsamt rechtfertigen muss, warum sie keine Freier an Land geholt hat.
Alles, was mich am Leben hält, sind infantile Gelüste nach einer Romanze, nach Sex, der nicht an Bedingungen geknüpft ist. Sex mit Lydia.“
Peter zuckte ein wenig, sein Blick behaarte aber weiterhin auf der Kirchenmauer gegenüber.
„Aber gleichzeitig habe ich Angst vor Frauen, besonders vor ihr. Schau dich doch um, wie viele verheiratete Männer wie kastrierte Pudel neben ihrer Frau herlaufen. Die Frauen fressen dich auf, das ist bei vielen Tieren so und bei uns nicht anders. Vagina dentata!“
„Hakuna matata?“, fragte Peter beiläufig.
„Bezahnte Muschi!“, erwiderte Sven und musste ein wenig lachen.
„Sven!“, sagte Peter. „Guck mal, der Pfarrer gegenüber zieht die Vorhänge zu. Jetzt wichst er bestimmt wieder. Lass uns doch mal rübergehen und nachschauen.“