Bald war das Licht des Schmiedehammers nur ein verblassender Schimmer. Dunkelheit und Nacht senkten sich von allen Seiten auf Sven hinab und mit der Schwärze kehrten die Gedanken wieder, die nichts Schweres mehr in sich trugen aber jetzt noch dringender schienen als zuvor. Verzweifelt kämpfte er mit dem inneren Widerwillen zu jeder Art von menschlichen Kontakt und der Gewissheit um die Aussichtslosigkeit einer Konfrontation mit den unausweichlichen Fragen. „Warum Mo?“, dachte Sven „Und warum jetzt.“ Sven stand im Wald und hörte, wie der Wind durch die Spitzen der Bäume und das trockene Gras einer nahen Lichtung wehte. Der Ruf eines Vogels, vielleicht einer Eule und das Bedauern, die Stimmen der Vögel und die Namen der Bäume nicht mehr zu kennen. „Degeneration der Sprache.“, dachte Sven. „Alles was ich sagen kann, ist: Der Ruf eines Vogels in den nahen Bäumen. Mit der Natur verlieren wir die Sprache und dann die Zivilisation. Devolution des Homo Sapiens Sapiens, der nichts mehr erkennt und wieder zu grunzen beginnt. Hardware, Software, Twitter, Facebook, Snapchat, Tumblr.“ „Degeneration der Sprache“, überlegte Sven wieder. „Es war einmal eine Lerche, die in Zedern schlief.“
Svens Füße waren mittlerweile kalt und er zitterte leicht. Als er das Haus verlassen hatte, war er nur in die Schlappen geschlüpft, in denen er sonst den Müll rausbrachte. Er meinte Tau auf seinen Zehen zu spüren und wusste nicht wie lange er noch so dastehen würde. Er wollte nach Hause und in sein Bett und fürchtete sich vor Peters massigem Körper in seinem Badezimmer, wie er sich in letzter Zeit überhaupt vor Peter fürchtete. Peter der Allwissende, das Orakel und der Mörder, der ihm mit seiner Einwilligung nach dem Leben trachten würde. Abwärtsspiralen und Erlösung und ein atheistischer Märtyrer, der auf das Paradies hoffte. Sven schüttelte sich, wusste, dass der Kater an seinen Nerven zehrte und dass dem Übermut, wie immer die Angst folgte. „Los nach Hause.“, rief Sven und der Vogel und der Wind verstummten. Er wusste, dass es am besten wäre, endlich zu gehen und doch schien ihm der Gedanke unmöglich, am Morgen oder gegen Mittag aufzustehen, sich zu waschen, Zähne zu putzen, Frühstück zu essen, zum Arbeitsamt zu gehen, weiter zu leben. Der Alltag war ihm eine angenehme Routine und doch schien sie ihm in diesem Augenblick als skurrile Absurdität, die es zu analysieren galt, bis er hinter der Fassade ein nagendes Mysterium erkannte oder sie einfach ganz verschwand.
Alle Rationalität verflüchtigte sich und es schien Sven, als wäre etwas Wichtiges verloren, wenn er sich in diesem Moment nicht umdrehte und zum Schmiedehammer zurückkehrte. Ein physischer Zwang, der zwischen Brustkorb und Bauch zu lokalisieren war, der sich ausdehnte und kribbelte und drückte und stach und nicht platzte bis er Mo sah, der ihm dann alles erklären würde. Alles. „Alles.“, dachte Sven und seine Gedanken machten ihn traurig. Er fühlte sich lächerlich, stand im Wald, drehte sich um, und machte sich endlich wieder auf den Weg zu Mo. Die Kneipentür war nur angelehnt und aus dem Treppenaufgang zu Mos Wohnung, drang nur ein Geruch, wie alte Häuser oder alte Menschen. „Mo“, rief Sven, doch niemand antwortete ihm. Er bereute jetzt, dass er wieder hier war und fühlte sich allein in dem dunklen Gastraum, in dem nur ein altes Neoschild einsam summte. „Mo“, rief Sven noch einmal, zapfte sich ein Bier, zündete sich eine Zigarette und ging langsam die Treppe zu Mo’s Wohnung hinauf. Aus der Küche drang Licht und Sven sagte jetzt etwas leiser: „Hi Mo, sorry, vielleicht schläfst du schon. Du das ist jetzt ne echt doofe Idee aber ich dachte, vielleicht kann ich mal mit dir reden. Ach Scheiße, jetzt ist es ja auch schon 4. So ne Kacke, also wahrscheinlich bist du noch nicht wach oder nicht mehr auf und überhaupt, naja… also… eigentlich dachte ich das ist ne gute idee, also auch irgendwie ne doofe. Aber, ich weiß auch nicht.“ In der Küchentür blieb Sven erschrocken stehen. Das Glas und die Zigarette fielen ihm aus der Hand und er schrie:“Mo, Mo, Mo. Scheiße nochmal, Mo, Mo. Scheiße, Scheiße, Scheiße.“ Mo lag ausgestreckt auf dem Rücken und hielt sich eine Hand auf die Brust gepresst. Seine Augen waren weit aufgerissen, seine Gesichtszüge starr und angespannt. Aus seinem offenen Mund lief Speichel und seine Hose war nass. Sven rannte zu Mo und begann wild und unregelmäßig auf seine Brust zu drücken und versuchte ihn auf eine Seite zu drehen. „Mo verdammt, Mo verdammt, Mo, Mo, Mo….“ Verzweifelt durchsuchte er seine Taschen nach seinem Handy, ließ es fallen und wählte die erstbeste Nummer, die ihm einfiel. Nach zweimaligen Klingeln hörte er die Stimme einer jungen Frau: „Schönen guten Morgen. Dies ist die Auskunft der deutschen Telekom, wie kann ich Ihnen…“ „Peter, Peter“, brüllte Sven „Peter, Mo ist krank, oder bewusstlos oder tot. Krankenwagen, Verdammte Scheiße. Peter, wir brauchen, nen Krankenwagen für Mo.“ „Die Nummer der örtlichen Ambulanz ist die 112. Vielen Dank für Ihren Anruf und einen angenehmen Tag.“ „Verdammte Scheiße“, dachte Sven. Und dann noch einmal „Verdammte Scheiße, die Alte war durchgeknallt oder gut.“ Mit zitternden Fingern wählte er die genannte Telefonnummer und stammelte Wortfetzen in das Telefon., als neben ihm, ein Röcheln und leises Stöhnen erklang. „Mo, Mo, Mo, alles klar, man, alles klar? Scheiße, ich ruf dir nen Krankenwagen.“ „Lass, lass“, hustete Mo. „Bringt… Bringt doch Nichts. Mir reichts.“ Sven legte das Ohr dicht an Mo’s Mund. „Mir reichts.“, fiepste Mo in einem langgezogenen, hohen Ton „Man Sven, manchmal….. sehe ich so Menschen….. Mann…… und Frau zusammen……Wie Menschen….. Wie richtige Menschen stehen die da……. Doch die bewegen sich nicht……. Sind keine Geister…. richtige Menschen wie wir…… doch rühren sich nicht…… Stehen da, wie Gedanken……. und gucken. Und wie die gucken…… weiß ich…….. dass die keine…… Menschen sind. Haben so… nen Blick… und der Blick weiß alles. Keiner sieht die…. doch ich sehe die manchmal….. zwischen uns. Reden die ganze Zeit… und ich weiß, die wissen alles….. aber ich verstehe sie nicht…. niemals…. nur krächzen…. und krächzen. Und neulich…… hab ich was verstanden. Die haben gesagt…. ist gut Mo….. ist gut…. ist nur ne Geschichte…. von vielen.“ Sven hielt Mo’s Hand in seiner, hatte die Augen geschlossen und lauschte dem Krächzen, dass unaufhaltsam aus Mo’s Kehle quoll, versuchte etwas zu verstehen, doch verstand nichts. „Ist schon gut Mo.“, wiederholte er immer wieder, saß vor dem offenen Kühlschrank und wartete.