XV

„Grimmig ging der alte Barkeeper zurück zu seinem Tresen und stieß dabei leise, längst vergessene Flüche aus. Das Gesicht zuckte rhythmisch im Takt seines Ganges und im Takt der abscheulichen Musik die den Raum für sich einnahm und die ohnehin belanglosen Gespräche übertönte und schließlich erstickte. Seit vielen Jahren arbeitete Mo nun schon in der schäbigen Dorfkneipe und seit vielen Jahren schon vegetierten seine Träume und Hoffnungen zum Klang der immer gleichen Partyhits. Niemand hier erinnerte sich an seine Vergangenheit oder den Tag an dem er plötzlich, wie aus dem Nichts an diesem Ort aufgetaucht war. Seine Gestalt hatte sich, in der schwülen Hitze eines vergessenen Sommertags manifestiert und existierte seitdem in der unbeschwerten Belanglosigkeit der immer gleichen Tage und Nächte.“

„Zuckend schleppte der alte Mann seinen Körper, der ihm schon lange nicht mehr gehorchte, zum Tresen. Es blieb den meisten, der wenigen Gäste verborgen, doch wirkte sein Gang wie ein unmöglicher, gottloser Tanz. Die Schritte waren lautlos, es schien als schwebe ein heiliger Bettler in göttlichem Wahnsinn, währenddessen der Chor der Engel, lieblich singend „10 nackte Friseusen“ intonierte.“

„Mo wollte sich wieder an die Arbeit machen, doch verharrte er im Anblick des großen Spiegels, der an der Stirnseite der Bar hing und den Raum größer erschienen ließ, als er eigentlich war. Betrunkene Gäste mochten es, ihre eigenen, im Suff verzerrten Gesichter, zu betrachten, an denen sie sahen, wie gut oder schlecht es ihnen morgen gehen würde und an denen sie einschätzen konnten, ob es Sinn machte, auf die nächste Runde zu verzichten und nach Hause zu gehen oder sich doch erst richtig zu betrinken.“

„Mo jedoch sah in diesem Spiegel nicht nur die immer gleichen Gesichter, sondern einen Schimmer von Wahrheit. In ihm zeigte sich ein Bruchstück der Wirklichkeit und in diesem Moment, erkannte Mo sich selbst, jung und voller Träume. Seine erste und zweite Ehe waren noch in unerreichbarer Ferne und ein Gefühl nahender Vollkommenheit breitete sich als physisch greifbares Phänomen im Raum aus. Pulsierende, psychedelische Lichter, blau und grün und rot flackernd, schwebten in der Luft und sanken durch die Schwere ihres Glücks zu Boden. Sie bedeckten Stühle, Bar und Fußboden und auch die Gäste wurden von ihnen eingehüllt.“

„Einen Augenblick lang war alles still, doch schließlich zerbrachen die gefallenen Lichter und ein rot-schwarzer Schein hüllte den Raum in Zwielicht. Flammen schossen aus der Wand und unter mühevollen Qualen krochen die Gäste unter der nun dunklen Decke aus Licht hervor. Ihre Gesichter waren verändert, die Haut rot und nackt und aus ihren Köpfen wuchsen Hörner und aus ihren Rücken Schwänze. Mo jedoch war immer noch in weißes Licht gehüllt und er sah sich, wie er wirklich war, jung und schön, der weiße Barkeeper des Lichts, der für und gegen die Kreaturen der Hölle anschenkt.“

„Im Wissen um eine endgültige, unumstößliche Wahrheit, wandte sich Mo mit einem Seufzer vom Spiegel ab. „Was für Kurze sollen’s denn für euch sein?“, rief er resigniert. „Dein Spezialgetränk mit Stroh 80.“, nuschelten die beiden Teufel friedvoll zurück.“

Sven und Peter hatten Mo mittlerweile völlig aus den Augen verloren und waren gleichermaßen überrascht und erschrocken, ihn nun dabei zu beobachten, wie er Bier- und Schnapsgläser auf ihren Tisch abstellte.

„Hier ihr Knallköpfe. Zwei Bier und zwei Kurze.“, sagte Mo leicht gereizt. „Und jetzt ex und raus. Euer Gelaber kann sich ja keiner anhören. Das ist ja ganz großer Scheiß. Und was redet ihr eigentlich wieder für nen Dreck über mich. Ihr zwei denkt wohl ihr seid ganz toll. Pseudo-Intelektuellen-Scheiß nenn ich das. Seid froh, das ich nicht alles mit angehört habe. Was glaubt ihr eigentlich wer ihr seid?“

„Ach Mo nun hab dich nicht so, wir kennen uns jetzt schon so lange. Ist doch nicht so gemeint.“, versuchte Sven die Situation zu bereinigen.

„Ach Mo“, fügte Peter laut lachend hinzu „wir sind halt freigeistige Künstler und so. Das musst du doch verstehen, auch wenn du es nicht verstehen willst. Was ist das eigentlich für Schnaps?“

„Mein Spezialgetränk. Stroh 80, Kirschsaft und der Rest ist geheim. Eigentlich zünde ich ihn an aber ihr zwei vergesst doch bestimmt das Zeug auszupusten und verbrennt euch. Auf sowas hab ich heute echt keinen Bock mehr. Krankenwagen, vielleicht noch Polizei. Nene lass ma…“

„Also hast du unser Gespräch doch belauscht!“, sagte Peter vorwurfsvoll.

„Belauscht!? Belauscht?! Was soll das denn jetzt wieder. So einen Scheiß belauscht doch keiner freiwillig. Künstler, ja?! Arschkünstler.“

Peter und Sven brachen in lautes Gelächter aus und konnten sich lange Zeit nicht beruhigen „Arschkünstler!?“, riefen sie immer wieder freudig erregt. Mo’s Gesicht und Bein begannen langsam auszuschlagen.

„Na wegen dem Schnaps. Da musst du uns doch belauscht haben.“, erklärte Sven schließlich.

Mo’s Gesicht zuckte immer wilder. Seine Augen waren glasig, wie immer wenn er wütend war. „Wird’s jetzt bald, aus und raus!“

Sven wollte Einspruch erheben, doch Peter hielt ihn zurück und deutete stumm auf ihre Gläser. Schweigend tranken sie erst Schnaps, dann Bier, bezahlten und verließen mit einem prägnanten „Tschüss, dann“ die Kneipe. Auf der Straße schauten sie sich an und begannen laut zu lachen. „Aus und raus!“, rief Sven. „Ich laufe also bin ich!“, antwortete Peter. Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten, sagte Sven schließlich „Na irgendwas sollte man jetzt schon noch machen!“. „Auf jeden Fall.“, stimmte ihm Peter zu „ heute und morgen sind eh verloren, da sollte man die Zeit jetzt schon nutzen!“

Inzwischen hatte Mo die Gläser der beiden abgeräumt. Ihr Lachen und ihre Rufe hatten sich noch eine ganze Weile, mit dem Lärm der Musik vermischt bevor beides letztendlich verklungen war. Mo war allein. Skat-Rentner und der einsame Trinker waren kurz nach Sven und Peter aufgebrochen und so wischte Mo die Tische ab und spülte die von Händen und Lippen fettigen Gläser. Als er mit allem fertig war, streckte er sich und gähnte laut. Er betrachtete sich im Spiegel und sah die unförmigen und tiefen Falten, die grau-blonden Haare und den vom Zigarettenrauch gelben Bart. Keine Lichter und keine Jugend. Keine Teufel und keine Engel. Er schloss die Tür hinter sich und machte sich auf den Heimweg. Die Luft war kalt und nass und roch nach etwas Vergangenem. Langsam hinkte Mo nach Hause und sprach dabei zu sich selbst. „Zwei trunkene Gestalten gingen durch die Nacht. Die Lichter der Straßenlaternen flackerten und in den Schatten verbargen sich Engel und Teufel. Die Zukunft war für die beiden nächtlichen Wanderer ungewiss und unausweichlich. An der nächsten Straßenecke angelangt, bestellten sie sich ein Taxi und fuhren in die Dunkelheit. Die Nacht war noch nicht vorbei und würde Überraschungen bereithalten, an die sie sich am nächsten Tag kaum erinnern könnten. Auch sie würden versuchen das Puzzle aus Wirklichkeit und Phantasie zusammenzusetzen, bis sie schließlich merkten, dass nicht einmal die Puzzleteile existierten.“