VII

Koma

„Hallo, mein Name ist Sven und manchmal bin ich müde.
Wenn ich mir das menschliche Treiben auf diesem Planeten so anschaue, kommt mir alles vor wie ein riesiger Zirkus. Dresseure und Dressierte, Zuschauer auf Rängen, von der Loge bis auf die hintersten Bänke, wo man nicht mehr so gut sieht. Und draußen die große, weite Welt, von der die meisten gar nichts erahnen, es spielt sich ja scheinbar alles vor ihren Augen ab. Ich mag keinen Zirkus.
Aber nicht nur im Zirkus herrscht Zirkus. Die ganze Zwischenmenschlichkeit ist ein einziger Zirkus geworden. Du gehst zum Arbeitsamt, weil du auf die eine oder andere Weise Unterstützung brauchst und wirst erbarmungslos niedergemacht. Da sitzt dir dann irgendwer gegenüber und sagt, sie müssen dies und das tun, jenes einreichen, hierüber Rechenschaft ablegen und mit Strafen bei Nichteinhaltung rechnen. In einer Sprache, wo ich mir denke: ‚Hallo? Du da drüben, ja du, geht‘s noch? Ich bin wie du, verstehst du? Ich könnte jetzt an deiner Stelle sitzen und umgekehrt. Warum versteckst du, wer du bist, hinter einer solch komischen Sprache?‘ Und die Person ist sich dessen wahrscheinlich bewusst, tut dies aber aus Pflichterfüllung gegenüber seines Vorgesetzten. Aber wo endet die Hierarchie, will ich dann fragen. Wem gegenüber bist du wirklich verantwortlich?
Naja, aber das führt wohl zu weit. Mit solchen Fragen sollen sich Philosophen beschäftigen. In einer besseren Welt sind wir alle Philosophen, müssen uns aber nicht so nennen und voneinander abgrenzen. Es soll ja Philosophen geben, die beim Nachdenken über den Sinn des Lebens depressiv werden und Nicht-Philosophen, die einfach leben. Ist denn, wer einfach so vor sich hin lebt, gleich primitiv? Und wehe, er ist beim Vor-sich-hin-leben auch noch glücklich und zufrieden. Das macht verdächtig. Die Leute möchten halt schwarzweiß denken und fühlen und dulden keine Farbspritzer auf ihrer Fassade.

Wie soll man sich in einer multipolaren Welt klar positionieren, ohne von irgendwo auf die Fresse zu bekommen? Es gibt keine unangreifbaren Positionen mehr. Globalisierung und Internet haben uns um unseren Verstand gebracht. Ich habe Angst um mein Dorf. Ja, mir ist klar, ich klinge wie die Alten. Mein Dorf. Wenn man heute von „Früher war alles besser“ spricht, meint man die Zeit vor der großen Vernetzung. Langsam realisiert jeder, dass die Welt mal gigantisch groß und bunt war, trotz oder wegen schwarzweiß in den Köpfen. Durch globalen Wettkampf mit allen Mitteln drohen die noch verbliebenen, bunten Farbkleckse auf der Landkarte unter einer braunen Schlammlawine zu ersticken, die alles gleich macht.

Moment, habe ich jetzt die Alten verteidigt? Verdammt, ich sag‘s ja, es ist ausweglos. Wenn ich mir die Alten so anschaue, beneide ich sie manchmal für die Sorglosigkeit, die sie an den Tag legen. Montag bis Freitag arbeiten, Samstag Fußball, Bier und Bratwurst. Was daran falsch ist? Vielleicht nicht viel, es ist nur nicht meins. Und trotzdem lebe ich gerne hier. Nur scheint mir die Welt auf den Kopf zu fallen. Um uns herum brennt es doch. Hier ist ein Paradies und irgendwann werden fremde Leute ankommen, weil sie vor dem großen Brand um uns herum fliehen. Und dann wird es verdammt eng hier und das macht mir Angst. Die Alten haben konkrete Begriffe für die Fremden, wenn man sie darauf anspricht. Ich wünschte, es wäre so einfach. Ich wünschte, ich könnte wie sie noch rechtzeitig auf natürlichem Wege das Zeitliche segnen. Ich bin müde.“

„Hallo, mein Name ist Schulz. Ich bin hier der Gott oder Dorfschulz oder so. Lacht. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich hab das hier alles nicht verstanden. Nicht, dass es mich groß interessiert hätte; Rolle ist Rolle. Aber auf so einen abgefahrenen Scheiß muss man erstmal kommen. Oh Gott ja, die Szene mit den Jüngern in meinem Schloss. Wie die da alle rumgetaumelt sind zu diesem Kuschelrock und ich als großer Zampano. Lacht. Großes Kino!“

„Ich heiße Lydia und ich bin die Liebe.“ Alle lachen.

„Ich heiße Peter und ich bin Regisseur und Darsteller in diesem Film. Worum es geht? Liegt das nicht auf der Hand? Der Film handelt von dem zentralen Konflikt unserer Zeit: der Kampf gegen die Abstumpfung des Individuums und Gleichmachung der Völker. Sehen Sie, unser Hauptdarsteller steht voll im Saft der Jugend und vegetiert doch vor sich hin, gefoltert von den Auswüchsen einer betont toleranten Gesellschaft, die in ihrer institutionellen Komplexität derart starr geworden ist, dass sie ihm jegliche Tatkraft raubt. Er steht stellvertretend für eine orientierungslose Generation junger Menschen, denen durch die Globalisierung scheinbar alle Türen offen stehen und die dennoch eingeschränkt sind wie niemals zuvor. Eine Generation, die scheinbar alles besitzt außer der Macht, irgendetwas zu bewegen; die niemandem etwas Böses und allen gerecht werden will, die in ihrer Übertoleranz zu ängstlichen Untätern wird, während Millionen von Menschen zu unseren Wohlstandsverhältnissen zu strömen versuchen. Man möchte ihnen zurufen: ‚Kommt nicht, schaut euch unseren Sven an, es wird hier nicht besser. Und das, was ihr sucht, haben wir längst verbraucht, inklusive uns selbst.‘ Aber das ist vermessen angesichts des Ist-Zustandes in manchen Ländern und so ist die Verlockung stärker als das, was am Ende des Weges wartet. Nichts Gutes. Es zählen keine Taten mehr, nur noch das Geschwafel darüber, das Teilen, das Sich-Präsentieren. Mit solchen Menschen lässt sich kein Krieg gewinnen, geschweige denn ein Bekenntnis abringen, eine klare Haltung beziehen. Die Spirale schraubt sich immer schneller nach unten.“

„Ich bin Matze und mir gehört der ganze Bums hier, also dieses Lokal, meine ich. Schmiedehammer… Was für ein dämlicher Name. Darauf können nur Filmfutzis kommen. Und der sogenannte Barkeeper in diesem Film… eine Katastrophe. Da hätten Sie auch einfach mich nehmen können, ich hätte hier auch nicht so eine Sauerei veranstaltet. Schade um das ganze verschüttete Bier. Bin froh, dass der ganze Zirkus jetzt vorbei ist.“

„Uuunnnd Schnitt!“

„Peter, darf ich noch schnell einen Satz loswerden?“
„Klar! Kommt in die Outtakes.“
Sven räuspert sich und guckt verlegen in die Kamera.
„Danke, dass ich am Schauspiel Leben teilhaben durfte.“

V

„Sie liegen weich und entspannt. Schließen Sie Ihre Augen. Sie sind ganz ruhig und können Ihren Herzschlag hören. Alles um Sie herum ist friedlich und gut. Atmen Sie tief ein und wieder aus, ein und aus. Nichts in der Welt kann Sie aus der Ruhe bringen.
Außer die Tatsache, dass du arbeitslos bist und immer bleiben wirst, wenn du hier nur rumliegst. Du faules Schwein, steh endlich auf und schreib Bewerbungen. Ja, guck nicht so blöd. Wenn du dich nicht sofort aufraffst, kürz ich dir die Leistungen und…“
Sven schaltete den CD-Player aus. So hatte er sich die Motivations-CD vom Arbeitsamt nicht vorgestellt. Er ging zum Kühlschrank, doch es war keine Schokomilch mehr darin. Er ließ sich zurück auf die Couch fallen und versuchte nachzudenken. War irgendwas passiert die letzten Tage? Er konnte es nicht sagen. Sein Kopf schmerzte und sein Magen knurrte. Einkaufen wäre eine gute Idee und vielleicht Peter besuchen. „Peter…“, sagte er leise vor sich hin. Was er wohl gerade macht?

Das Dorf war von einer Schicht frischem Puderschnee überzogen und fast menschenleer. Sven stapfte ein paar Schritte die Straße herunter, drehte dann aber um und entschied sich, doch das Fahrrad zu nehmen. Der Himmel war trüb und grau und in Dämmerung begriffen. Es hatte den Anschein, als würde jeder Tag dieses Winters genau so aussehen wie der heutige. Der Supermarkt, der früher Konsum hieß, was er immer mit Doppel-n und -m bzw. kurzem o und u aussprach, weil er sich unter dem Begriff ‘Konsum’ nichts vorzustellen vermochte, schimmerte von weitem wie ein gestrandetes Raumschiff, unbewegt und spärlich beleuchtet. Ein prüfender Blick ins Portemonnaie verriet ihm, dass sein Geld gerade so für eine Schokomilch reichte, vielleicht zwei. Er nahm eine Flasche aus dem Kühlregal und ging direkt zur Kasse. Der Kassierer kam ihm sehr bekannt vor, er sah aus wie eine Kopie Peters. Es war der dicke Mann vom Arbeitsamt und er grinste, als wäre seine Uhr vor langer Zeit beim Onanieren stehengeblieben.
“Was zur Hölle machen Sie denn hier?”, fragte Sven fassungslos.
„Ach, Herr Sven, so eine Überraschung. Minijob, Herr Sven. Ich habe viele Münder zu stopfen, wenn Sie verstehen.“, und er zwinkerte so unmissverständlich oft, dass Sven sich wegdrehte, um nicht vom Windstoß des Augenaufschlags umgeweht zu werden.
„Hier, bitte, sagte Sven und legte die Schokomilch aufs Band.“
„Soso, eine Milch Typ Schokolade. Das macht dann fünf Euro.“, sagte er, ohne das Etikett zu scannen.
„Nee…“, sagte Sven, „das kostet keine fünf Euro.“
„Fünf Euro!“ erwiderte Arbeitsamt-Konsum-Volker mit ernstem Grinsen.
„Mensch, jetzt scann die scheiß Flasche, du Psycho!“, platzte es aus Sven heraus und er zückte seinen rechten Zeigefinger, spreizte den Daumen ab und griff mit der linken Hand darunter, worauf Volker erschrocken die Hände hob. „Peng!“, sagte Sven, nahm die Flasche vom Band und verließ gereizt den Supermarkt.

Amok

Gedankenverloren bestieg er sein Fahrrad und radelte instinktiv zurück nach Hause, als er an einer kleinen Nebenstraße einem herannahenden Auto die Vorfahrt nahm. Das Auto folgte ihm langsam, der Fahrer ließ die Scheibe herunter und brummte: „Hier ist rechts vor links!“ Und nach einer Weile: „Licht könnteste auch mal anmachen.“ Sven Halsschlagader weitete sich zu einer Hass-Pipeline. „Siehst du hier irgendwo Licht an diesem scheiß Fahrrad?“ Mit gutbürgerlicher Empörtheit schaute der Mann zu seiner Frau, die nur gelangweilt auf die Straße starrte. „Hör mal zu, Jungchen…“, fing der Mann an, verstummte jedoch sofort wieder, als Sven seine Fingerpistole auf ihn richtete. „Peng!“, rief Sven leicht hysterisch und der Wagen bremste abrupt ab. Einen sich panisch duckenden Fahrer und seine weiterhin gelangweilt dreinblickende Frau hinter sich lassend, radelte Sven mit erhöhtem Tempo weiter, bis er seine alte Grundschule erreichte.

Er erinnerte sich an ein Gespräch, das er vor einiger Zeit mit Peter geführt hatte. An manch schwermütigen Tagen, an denen Peter ihn mit penetrantem Schweigen quälte, machte er sich ernste Gedanken über seine Zukunft und fantasierte darüber, wie es wäre, einmal eine Frau zu haben, zu heiraten und letztlich auch Kinder zu haben. Themen, die bei Peter überhaupt nicht gut ankamen.
„Nach Partnerschaft sehnen sich nur unvollständige Menschen, sagte er. Sicherlich haben wir alle unsere Triebe, aber Sexualität ist die teuflische Falle, in die die meisten tappen. Ich meine, ganz ehrlich, ein Mensch hat seine Hände zur Selbstbefriedigung. Sex sollte einzig und allein der Fortpflanzung dienen, es sieht ja auch albern aus. Nur jemand, der für das Alleinsein charakterlich nicht in der Lage ist, bemüht sich um einen Partner. Und die Ehe ist einfach ein veraltetes Konzept.“
Ob er dann nicht wenigstens zu Fortpflanzungszwecken Sex haben wollen würde, wandte Sven ein.
„Weißt du, was ich Eltern erwidere, die mir weismachen wollen, dass Kinder ne tolle Sache sind? Du krankes Monster!, sag ich. Hast die Spirale des Leids weitergeführt, obwohl es in deiner Macht als vernunftbegabtes Individuum lag, sie zu durchbrechen.“

Sven hauchte ein wenig Wärme in die vorgehaltenen Hände. Seine Gedanken kreisten um die Worte Peters. Es lag in seiner Macht, dem ganzen Leid ein Ende zu setzen. Mit der Fingerpistole in seiner Jackentasche auf Anschlag, ging er das Szenario durch. Reingehen – Peng! Peng! Peng! – rausgehen. Doch plötzlich holten ihn Erinnerungsfetzen der letzten Tage ein und es zerriss ihm beinahe den Kopf. Schwankend und fieberhaft fuhr er nun zu dem Ort, an dem er Antworten zu finden glaubte.

Huch, es schellt
Herrmann, lass ein
Wer, um alles in der Welt mag das wohl sein?
Scheint mir, da der Hund nicht bellt
Müssen‘s wohl deine Tochter und ‘s Peterle sein.

III

“Ihr ewigen Lichter da droben,
ihr strahlenden Augen, die mir
schwermütig ins gebrochene Herz
schauen, seid ihr auch bevölkert,
mit Kindern des Grams wie
dieser taumelnde Ball?”
A. E. Brachvogel

„Guck mal, Herrmann, was für dich!“ Schulz zeigte auf das aufleuchtende Zitat an der Wand, während die Kaffeetafel gerade von seinen Jüngern schweigend abgeräumt wurde. „Aus dem Trauerspiel Narziß, du alter Trauerkloß. Müsste dir doch gefallen. Aber was sag ich! Dir ist doch nicht beizukommen, nicht mal der langsam einsetzenden Tod deiner Tochter. Abgeschlachtet von, ja, ach, was soll’s.“
Herrmann schaute mit einem Blick tiefster Deprimiertheit zu Schulz auf. „Aber mein Zeus…“
„Zeus, Zeus, hör mir doch auf mit Zeus. Seh ich aus wie dieser allzerfickende Lude? Ja, okay, ich hab es in der Vergangenheit hin und wieder wild getrieben, aber ich war nie rachsüchtig. Weißt du, wie man Zeus auf Englisch sagt? Zeus!“
„Suß?“, flüsterte Herrmann.
„Ja, Suß! Stell dir das doch mal vor! Klingt doch wie die Seuche. Einfach keine Kultur, diese angelsächsischen Kackbratzen. Ich schweife ab. Herrmann! Jetzt schau mich an, ich sag es dir noch einmal. Deine Tochter, Lydia, meine Nichte, verblutet gerade jämmerlich in der verdammten Kirche dieses Schweinepriesters. „Herrmanns Augen funkelten ein wenig bei der Erwähnung ihres Namens.“ Und rate mal, wer sie abgestochen hat? Dein Sohn Sven, Herrmann!“ Herrmanns Augen rissen auf, ein Anblick, den Schulz seit Jahrzehnten nicht mehr bei ihm gesehen hatte. „Na, klingelt’s? Dann können wir den ganzen Bums ja jetzt mal auflösen, ich hab dich schließlich lange genug in Schutz genommen, du feiges Fossil.“

Und Schulz erzählte, wie Herrmann eines Tages vor seiner Tür stand, in Tränen aufgelöst, hilflos. Was denn um alles in der Welt passiert sei, wollte er damals wissen. Aber von Herrmann kam nur Schluchzen und ein kümmerliches: Ich kann das nicht mehr. Er erfuhr später, dass sein Schwager durch seine Ehe psychisch zermürbt war. Zu früh geheiratet, zu früh Kinder bekommen, die weitreichenden Konsequenzen ausblendend, bis es immer öfter krachte. Lieber früher als zu spät die Notbremse ziehen, bevor man zu sehr an den Kindern hängt oder umgekehrt. Warum er seiner Schwester in den Rücken fallen sollte und Herrmann Unterschlupf gewähren? Nun ja, seine Schwester hatte, seiner Meinung nach, eh einen leichten Dachschaden und überhaupt, was kümmerten ihn die Geschicke der Menschen?

„Sieh, was aus dir geworden ist, Herrmann. Bequem hastes dir bei mir gemacht. Völlig verblödet bist du, könnte man meinen, antriebs- und instinktlos, ein niederes Tier, das man ohne Skrupel zertreten könnte. Weißt du: Mit dem Gehirn verhält es sich wie mit der viel zu oft zitierten Katze Schrödingers. Sobald man über das Denken nachdenkt, ist das Ergebnis verfälscht. Daher ist der Instinkt umso wichtiger. Herrmann!“

Da sprang Herrmann auf und stürzte wie besessen aus dem Saal heraus.

„So ist’s recht, mein treuer Freund. Schau nach, ob die verschissene Katze, pardon, deine Tochter noch lebt oder schon gestorben ist. Dein Eingreifen verfälscht auf jeden Fall das Ergebnis!“, schrie Schulz, aber Herrmann war schon über alle Berge.

I

„Das beste am Kaffee ist doch ein schönes Stück Kuchen. Oder Kekse.“ Schulz tauchte einen länglichen Keks in seine Kaffeetasse. 2Immer schön ditschen, Herrmann. Ja, so macht man das.“ Herrmann grunzte vergnügt. „Weißt du, so eitel Kaffee schmeckt mir eigentlich gar nicht, diese heißbittere Plörre oder bitterheiße. Ich weiß nicht, wie sich die Leute heutzutage das Zeug so hastig reinkippen können, am besten noch im Laufschritt. Da verbrennste dir doch die Labbe oder kriegst gleich n Magengeschwür. Aber mit was Süßem, ja som anständigen Stück Kuchen oder notfalls Keksen, das ist Kultur. Hochkultur und Hochgenuss.“ Herrmanns Keks brach ab und versank in der Tasse. Schulz schien es nicht bemerkt zu haben. Er fuhr fort: „Mir scheint gar, dass Kaffee und Kuchen eine Art heilige Allianz bilden, einzeln betrachtet sind beide jedoch Teufelswerk. Kuchen mit seinen ekligen Kalorien und Kaffee mit seiner elendigen Bitterkeit. Wie kann man nur solche Genussmittel gehend verzehren?“ Schulz machte eine ausufernde Geste und blickte mit feuchten Augen zur Zimmerdecke und wieder zu Herrmann, der seine Tasse von sich schob, weil deren Inhalt voll aufgelöster Kekskrümel war. Verzweifelt sah er zu Schulz rüber. „Ach Herrmann, schade ist es schon. Er nahm noch einen Keks und ditschte ihn tief in den Kaffee. Arme Lydia, armes Mädchen.“

„Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Jesus Christus und Casanova?“ Peter stand in der kleinen Küche und schaute Sven nichtssagend an. „Der Gesichtsausdruck beim Nageln.“ Sven brach in schallendes Gelächter aus. Peter bemerkte die drastische Veränderung, die sein Freund vollzogen haben muss. Der besonnene, liebenswerte Sven war nur noch eine Hülle, aus der der Wahn hervorquoll. Lydias regloser Körper am Boden bezeugte den Zerfall seinen Freundes symbolträchtig. „Guck, wie hässlich sie aussieht.“, sagte Sven wutschnaufend und nach einer bedrohlichen Kicherpause bemerkenswert klar: „Alles, was mir an schlechtem widerfahren ist, hat seinen Ursprung in dir. Du sollst bekommen, wonach dir seit jeher der Sinn stand. Abstechen werde ich dich, so wie du es wolltest. Die Genugtuung gebe ich dir, auf dass sich danach alles zum Guten wendet.“

Peter schloss für eine Weile Mund und Augen. „Du überraschst mich sehr, das alles geht jetzt doch ein bisschen schnell. Du weißt, dass sich gar nichts ändern wird. Und was hatte sie eigentlich mit der Sache zu tun?“
„Halt die Klappe, Peter! Sie ist nur eine Puppe, sie hat nichts mit irgendwas zu tun. Völlig belanglos.“
„Sven, jetzt bist du tatsächlich durchgeknallt. Schau dir das Puppenblut an, riech daran. Sieh, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht gewichen und selbst ihr rotes Haar an Glanz verloren.“
„Halt’s Maul!“, schrie Sven. „Brauchst gar nicht so scheinheilig zu tun. Ich werde diesem ganzen Treiben hier und jetzt ein Ende setzen, indem ich dich töte.“

In jenem Moment flog die Tür auf und der Priester trat vor, sich die Augen reibend. „Was ist denn das für ein Lärm hier? Komm wieder ins Bett, Sven. Komm zu Papa.“

V

Der Himmel erwachte in perfektem dunkelblau. Wie spät es wohl war, dachte Sven und rieb sich die Augen. Er war vor dem Fernseher eingeschlafen. Er trat ans Fenster und sah dicke, weiße Flocken vom Himmel fallen. Auf irgendeine Art fühlte er sich in diesem Moment sehr geborgen und schwelgte ein wenig in melancholischer Erinnerung an winterliche Morgengrauen aus unbeschwerten Kindheitstagen.

Von irgendwo roch er gebratene Zwiebeln und Knoblauch. Dem Geruch folgend, schritt er durch einen schmalen Gang bis zu einer Tür, hinter der er Stimmen vernahm. Er öffnete sie einen Spalt und fand sich in einer recht weiträumigen, spartanisch eingerichteten Küche wieder, wo Peter und der Pfarrer angeregt an einem alten Gasherd etwas in einer Pfanne zubereiteten. “So, mein Libber, eins zwei Schalöttschen musste aber noch dazutun.”, sagte Peter und der Pfarrer leistete seiner Anleitung Folge. “Hach, riescht dat nisch herrlisch. In die Pfanne könnt isch misch glatt reinlejen, so fantastisch riescht dat.” Sven fühlte sich unweigerlich an einen Fernsehkoch erinnert, dessen Name ihm aber nicht einfiel. Vielmehr wunderte ihn Peters Verhalten. “Morgen! Ihr seid aber schon früh auf den Beinen. Was kocht ihr denn Schönes?”, fragte Sven. Doch die beiden schienen ihn nicht zu bemerken und würdigten ihn keines Blickes. “Schätzelein, jetzt noch schön die Kartoffeln dazu un ein bissken Speck. Genau so – ein Träumchen!” Die beiden schienen so vertraut miteinander. Sven beobachtete die Szene eine Weile, sah, wie Peter den Pfarrer mehrmals mit einem wonnigen Lächeln am Arm tätschelte, bemerkte das lockere Mienenspiel, die neckischen Andeutungen, kurzum: Es wirkte auf ihn, als stünden da zwei beste Freunde und trieben Schabernack am Herd. Von der homoerotischen Komponente mal abgesehen und der Tatsache, dass Peter Schwule, Dialekte und Kochen hasste, und dass er für die beiden nicht anwesend zu sein schien, blieb Sven gelassen und sogar das vorherige Wohlgefühl aus Kindheitstagen kehrte in ihn zurück. Es erfüllte ihn regelrecht mit Glück, dass er den Zustand zumindest im Ansatz wiederherstellen konnte, denn das gelingt nur ganz selten im Leben.

Seine Nase tropfte, ohne dass er es merkte. Zu seinen Füßen hatte sich eine kleine Pfütze gebildet. Die Küche war leer, nur der Geruch von Bratkartoffeln und Speck lag noch in der Luft. Er wünschte sich in diesem Moment, wenn künstliche Intelligenzen irgendwann einmal in der Lage sein sollten, sich in das Gehirn eines Menschen einzuhacken beziehungsweise einzufühlen, genauer und wertfreier als ein Mitmensch es je könnte – ist er doch in erster Linie auf seinen eigenen Vorteil aus – von einer solchen Maschine entdeckt zu werden, dass sie sein wahres Potential zum Vorschein brächte. Aus feuchter Nase wurden feuchte Augen. Der gekreuzigte Jesus an der Wand trug Peters Antlitz. „Sag mal, Peter“, flüsterte er mit brüchiger Stimme, „Glaubst du, dass es im Leben irgendwann mal nicht mehr so weitergeht wie bisher?“

III

Sven machte sich große Sorgen, während die beiden vorauseilten. Was, wenn Peter den kleinen Mann jetzt einfach irgendwo durchorgelt? Er verfluchte mal wieder seine schmutzigen Gedanken und war insgeheim froh, dass keiner sie lesen konnte. Noch froher war er, dass er bis zum heutigen Tag immer an sich halten konnte, ohne dass seine absurden, nicht selten verletzenden Hirngespinste unkontrolliert aus ihm herausbrachen. Manchmal, bei besonders heftigen geistigen Auswüchsen, musste er sich vergewissern, dass diese nicht aus seinem Kopf herausquollen und irgendwo manifestierten, wo sie dann ihr Unwesen als fleischgewordene Alpträume trieben. Zuweilen befand er seine Gedanken für derart dunkel, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass irgendjemand sonst, auch nur im entferntesten, so wie er gespalten sei. Aber das ist wohl die menschliche Natur, dachte er, und es bringt nichts, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, weil es alle tun. Die Frage ist nur, wie man damit umgeht, wie man die Finsternis in sich im Zaum hält oder eben auslebt. Gut oder Böse ist keine Einteilung, sondern Lebenseinstellung.

“Ja, gib’s mir, du böser Junge, du Schlimmer du, du wilder Hengst!” Vor einer halb geöffneten Tür stehend, vernahm Sven eine abgehackte, metallische Stimme. Er ahnte Furchtbares und lugte vorsichtig in den Raum dahinter, welcher menschenleer war. Nur der Fernseher lief, wo gerade ein Sexroboter vorgeführt wurde. “Besorg’s mir härter, du geiler Bock!”, gab die künstliche Kreatur stöhnend von sich. Sieht täuschend echt aus, dachte Sven, dem ein bisschen Blut in die Hose lief, was zu einer kleinen Ausbeulung seiner Jeans führte, aber bei der Stimme hätte man wirklich mehr Wert auf Natürlichkeit legen können. Wer fährt denn auf diese plumpe Roboter-Anmachdidaktik heute noch ab? Die Kamera schwenkte auf einen Mann, offensichtlich der Erfinder des Porno-Androiden.
“Sexualität ist nur ein Bereich, in dem Roboter den Mensch in Zukunft ersetzen werden. Dabei ist künstliche Intelligenz beim Geschlechtsverkehr eh nicht so wichtig. Ich glaube, keiner von uns möchte einen Roboter, der plötzlich über Kopfschmerzen klagt oder sich wundert, ob er bzw. sie die Wäsche aufgehängt hat, wenn man zur Sache kommen will. In anderen Bereichen ist KI jedoch schon so weit, dass sie sich selbst etwas beibringen kann. Aber wer will schon einen Sexsklaven mit potentiellem Eigenleben? Da kann man sich auch gleich mit den eigenen Artgenossen abgeben.”

Sven schauderte einen Moment lang vor der Vorstellung, Lydia sei ein Sexroboter mit Eigenleben, erschaffen, nur um ihm die Anerkennung einer Frau vorzugaukeln, wo er doch sonst ziemlich chancenlos beim weiblichen Geschlecht war. Aber wer sollte so etwas unsäglich Absurdes entsinnen, nur um ihn leiden zu lassen? Und wo zur Hölle sind Peter und der Priester? Bitte, lass Peter dem armen Priester nichts antun, flehte Sven an einen unbestimmten Gott. Wie konnte sein Leben in so kurzer Zeit nur so aus den Fugen geraten? Er begann zu taumeln und musste sich an einer Sofalehne abstützen. Vor seinen Augen wurde alles schwarz.

Jetzt sitz’ ich hier
Und seh nichts mehr
Und um mich herum die Sterne

Von ihr an blind
Ich spür’s in mir
Ein Zittern in der Ferne

I

„Mir brennt noch was auf der Seele. Zornig und hartnäckig lodert da was. Ich wundere mich, wie wir hierhergekommen sind, wir und generell alle anderen. Dass es uns noch gibt, als Spezies. Jahrtausende lang schleppen wir uns so durch und dann explodiert alles förmlich wegen so einer Dampfmaschine – lächerlich. Eine Art menschgemachter Urknall auf der Erde, der uns zu verschlingen droht. Aber wir schießen derweil lieber unterirdisch Teilchen aufeinander in riesigen Kollisionsringen, anstatt uns der oberirdischen Gefahr bewusst zu werden, die aus uns selbst entspringt.
Weißt du Peter, das alles geht nicht spurlos an mir vorbei. Ich will mich nicht damit belasten, aber kann doch nicht anders, bin Informationsmasochist und zieh mir jeden medialen Furz in die Nase. Dabei verfluche ich mich und die ganze verdammte Informationsmaschinerie, vor allem das Internet. Und das Schicksal auch, dass es mich auf diese Bahn gezwängt hat.
Was gäb ich drum, früher geboren zu sein. Weiß nicht, so als Teil der goldenen Generation kurz nach dem Krieg, wo Aufbruchstimmung herrschte und jeder träumen konnte. Schau dich doch um, das sind jetzt die Bonzen-Rentner, die in ihren Limousinen an Fahrradfahrern vorbeifahren und mit hassverzerrten Fratzen Worte ausspeien, die man normalerweise seinem schlimmsten Feind nicht zumuten würde. Die Leute, die diesen Planeten maßgeblich durch ihren Lebensstil ruiniert haben und noch rechtzeitig abtreten werden, bevor hier alles zusammenbricht. Größtenteils unwissentlich – das ist ja die bittere Ironie. Umweltschutz wurde doch seinerzeit belächelt und ein globales Dorf waren wir auch noch nicht. Es gab halt damals noch kein Bewusstsein dafür, dass wir maßhalten sollten, um zukünftigen Generationen nicht das Wasser abzugraben. Stichwort: morphogenetische Felder.“
Peter ging langsam zum Fenster und schaute genügsam hinaus.
„Ach, ich wünschte, diese gottverdammte Büchse der Pandora namens Internet hätte sich nie geöffnet. Vielleicht hätte ich dann Zeit gefunden, etwas Anständiges zu lernen, einen handwerklichen Beruf etwa. Ich könnte einfach Teil der Dorfgemeinschaft sein, würde Fußball spielen im Verein und am Wochenende in der Kneipe sitzen und über derbe Zoten lachen, ohne mich stellvertretend für Randgruppe X oder Y angegriffen fühlen zu müssen. Stattdessen bin zu einer umherwandernde Hure mutiert, die sich alle zwei Wochen beim Arbeitsamt rechtfertigen muss, warum sie keine Freier an Land geholt hat.
Alles, was mich am Leben hält, sind infantile Gelüste nach einer Romanze, nach Sex, der nicht an Bedingungen geknüpft ist. Sex mit Lydia.“
Peter zuckte ein wenig, sein Blick behaarte aber weiterhin auf der Kirchenmauer gegenüber.
„Aber gleichzeitig habe ich Angst vor Frauen, besonders vor ihr. Schau dich doch um, wie viele verheiratete Männer wie kastrierte Pudel neben ihrer Frau herlaufen. Die Frauen fressen dich auf, das ist bei vielen Tieren so und bei uns nicht anders. Vagina dentata!“
„Hakuna matata?“, fragte Peter beiläufig.
„Bezahnte Muschi!“, erwiderte Sven und musste ein wenig lachen.
„Sven!“, sagte Peter. „Guck mal, der Pfarrer gegenüber zieht die Vorhänge zu. Jetzt wichst er bestimmt wieder. Lass uns doch mal rübergehen und nachschauen.“

VI

Das keuchende Husten eines Kettenrauchers durchdrang den Raum. Von der sich manifestierenden Gestalt fiel in großen Mengen Staub herab, bis deutlich eine Person erkennbar wurde.
“Zeus!”, riefen D, P und H.
“Schulz!”, riefen Peter und Sven zur gleichen Zeit.
“Korrekt!”, würgte er hervor. „Nennt mich doch, wie ihr wollt, ihr Wilden. Wusste doch, dass ich euch hier finde. Peter, gute Arbeit. Unser Ehrengast hat es wohlbehalten hierher geschafft. Sven, ich will auch gleich zur Sache kommen. Wir haben uns heute hier versammelt, um die Frage zu klären, was der Weisheit letzter Schluss ist. Kannst du mir die Frage bitte beantworten?“
Sven, der wie paralysiert dastand, fixierte mit seinem Blick ungläubig Mo, der wiederauferstanden zu sein schien und unablässig Bier ins Bodenlose zapfte, ohne eine Miene zu verziehen. Gefühlt vergingen in dieser Stellung einige Jahre, in denen die Frage unbeantwortet im Raum stand und niemand es wagte, einen Einwurf zu machen.
Da hatte Sven plötzlich eine Eingebung und schrie: “Zweitens: Ich und du und Sven und alle Menschen, und alles Bewusstsein um uns herum existiert, nur die Welt an sich, mit all ihren Objekten und Formen und Gegenständen, entspringt unserer Einbildung. So wären wir rein geistige Wesen, die miteinander kommunizieren und eine kollektive Phantasie kreieren, die wir gemeinsam befüllen und ausschmücken, und in der sich nur der Blickwinkel auf das Geschaffene unterscheidet. Unser aller objektiver Geist schafft die Welt und das Individuum verleiht ihr Perspektive.”

„Hmm, nun ja, sicherlich, naja.“ Schulz sah ärgerlich zu Peter herüber. „Nur, das hier ist kein Multiple-Choice-Test, sondern eine ernst gemeinte Frage. So leicht kommst du mir nicht davon. Sollte dir nichts Eigenes einfallen, wirst du ein Opfer bringen müssen.“
Sven proklamierte: „Wir können uns nur geistig begreifen, da wir aus Teilchen bestehen, die sich konstant mit nahezu Lichtgeschwindigkeit bewegen. Wir sind überall zur gleichen Zeit im Universum. Nur Geist und Seele definieren unseren genauen Standpunkt, die Seele als Anker und der Geist als Kompass. Von dort aus können wir alles erreichen, denn wir sind reine Bewegung, ausgestattet mit Instrumenten der Verlangsamung. Die einzige Kraft, die uns am Boden hält und bremst, sind wir selbst. Ich laufe, also bin ich. Das ist der Weisheit letzter Schluss.“
Stille hüllt die verschworene Gemeinschaft ein. Mo stellt das Bierzapfen ein und guckt starr zu Boden. Hannes beginnt zu lachen, worauf ihm ein Blitz durchs Mark eilt.
„Mein lieber Sven, sagt Schulz, soll das eine Weisheit sein? Weisheiten sind viel profaner, sie offenbaren sich nur denen, die einen klaren Geist haben. Du hingegen bist zu verkopft, abgelenkt und sollst dich daher beweisen. Besinne dich, was dir am wertvollsten ist und lass es los. So, und jetzt ist hier Feierabend! Pan, Dionysos, bringt mir diesen Nichtsnutz von Halbgott hier weg!“ Er zeigte auf den sich vor Zuckungen auf dem Boden windenden Hannes. „Über eure Strafe reden wir später noch.
Mo, du hältst hier die Stellung und passt auf, wen du hier ab jetzt bedienst.“ Sagte er und verschwand in der Staubwolke, aus der er gekommen war.

IV

Eine Disko. Die Dorfdisko. Ekstatische Tänze und wilde Sauforgien. Am Tresen sitzen Lydia und eine unbekannte Frau. Sie rauchen. Lasziv zieht Lydia an ihrer Zigarette, während Sven in Gedanken die “z” betont. Er nähert sich an. Durch das Getöse dringt ihre liebliche Stimme glasklar an sein Ohr, behaftet mit einem französischen Akzent: „Isch will nur disch.“

Kalter Worte blauer Dunst
Hüllst mich ein mit deiner Gunst
Gibst mir zu verstehen
Was andere nicht sehen

Eine Hand packt ihn unsanft am Arm und zieht in ihn Richtung Männerklo.
„Schulz, lass mich los!“
„Jetzt pass mal auf, Kleiner. So wird das nichts mit den Frauen. Wir machen einen Test. Stell dich neben mich, wir pinkeln jetzt. Bereit? Das ist der ultimative Selbstbewusstseinsgradmesser.“
Sven ziert sich anfangs, öffnet dann aber die Hose und versucht, locker zu bleiben. Sofort ertönt das maskuline Strullen Schulz’, welches bei Sven Ladehemmungen verursacht. Er bemerkt, wie Schulz immer wieder höhnisch zu ihm herübersieht und bekommt keinen Tropfen heraus.
„Scheiß Mucke hier!“, ruft Schulz schließlich selbstzufrieden. „See you on the Metal floor!“

Wusch, Sven wirbelt durch Zeit und Raum. Im Haus seiner Mutter kommt er wieder zu sich.
„Sven, jetzt sei doch nicht wieder so maulfaul. Hast du einen Job gefunden?“
„Mutter, was zur Hölle!?“
„Ach, Sven, ich erkenn dich kaum wieder. Du wirkst so abwesend. Du nimmst doch keine Drogen, oder?“
„Mutter, ich muss weg, ich glaub ich dreh durch.“
Wie eine angesengte Sau riss er sich vom Stuhl hoch, zur Haustür hinaus und schwang sich instinktiv auf sein Fahrrad. Seine Mutter schrie ihm aus dem Küchenfenster hinterher: „Kein Licht, du Arschloch!“

Wo Feuersbrünste endlos walten
Phönixtränen starr erkalten
Gleicht die Hoffnung auf Beseelung
Der ungewollten Vereinigung
Von Leben und Tod

Eine wüstenartige Landschaft, ausgetrocknete Böden, hier und da ein Sandhaufen. Von überall her ziehen vereinzelte Menschen eine kleine Dünung hinauf. Sven schließt sich der zerstreuten Masse an, bis er den Hügel erklommen hat. Von dort erkennt er einen fast ausgetrockneten See, der in kleine Tümpel, kaum größer als Pfützen, zerfallen ist. Die Menschen scheinen von den Wasserstellen magnetisch angezogen. Doch was Sven nun sieht, will einfach nicht in seinen Kopf gehen. Wie nasse Säcke lassen sich die Leute kopfüber in die Pfützen fallen, sodass der Kopf gänzlich im Wasser verschwindet. Was ihm anfangs als unerträglicher Durst dünkt, entpuppt sich schnell als Alptraumvision. Immer mehr Menschen strömen zu den Tümpeln und begraben den Kopf im Wasser. Sven wird Zeuge einer gewaltigen Ertränkungsorgie.

Tanzende Schiffe
Vor schäumenden Riffen
Beseelung des Universums gleich Urknall

Ein Mond und zwei Schatten
Wie konkurrierende Erdplatten
Hochmut kommt vor dem Fall

Peters Wohnung. Peter, auf einem Stuhl sitzend, durch das Fenster die kleine Kirche anblickend.
„Peter!“, sagte Sven. „Ich kann nicht mehr. Bitte mach, dass das aufhört.“

II

„Sven! Komm herein, tritt ruhig ein, nicht so schüchtern.“ Schulz wirkte kokett wie ein Adliger des Rokoko und sprang leichtfüßig in seinem weißen Gewand auf und ab. „Darf’s etwas Tee sein? Gebäck?“
„Schulz, was soll das Ganze? Was soll das hier eigentlich werden?“, fragte Sven ernst und leckte sich die Blutkruste über der Oberlippe.
Schulz’ Miene verfinsterte sich. „Für dich ab jetzt Zeus, oder Göttervater. Zu meiner Linken die bezaubernde Aphrodite. Er pustete ihr einen Luftkuss entgegen. Und zu meiner Rechten Hermes, ähm, Hermann der Götterbote. Haha! Merk dir das, du kleines Gewürm.“
Daraufhin ertönte ein leises Kichern der rothaarigen Frau den Raum.
„Lydia, bist du’s?“, fragte Sven nervös, aber als Antwort erntete er nur wieder ein unpersönliches Kichern. Auch Hermann, der am anderen Ende des Tisches saß, stieg in das Kichern mit ein, wobei es eher nach einem Grunzen klang.
In diesem Moment erschien vor Svens Augen erneut die Szene beim Arbeitsamt. Welche frappierende Ähnlichkeit doch zwischen Hermann und diesem Sachbearbeiter, Volker oder wie er hieß, vorlag… Nur schien Hermann ein verzerrtes Spiegelbild Volkers zu sein: Die Mundwinkel hingen beim Lachen, welches kaum als solches erkennbar war, müde herunter, Körperspannung war nicht vorhanden, schulterlanges, ungepflegtes Haar verdeckte große Teile seines Gesichts. Er sah aus wie deprimierte Zwillingsbruder Volkers. Lydia kicherte weiter vor sich hin, während sie verlegen den Blick senkte.
„Hermann, halt’s… Halt dich zurück!“, sagte Schulz. „Sven, du musst entschuldigen, er ist mein debiler Ex-Schwager, ein Laster meiner ersten Ehe, lange, traurige Geschichte, ich will das nicht weiter ausführen. Ich hoffe, du nimmst dir meine Weisheit von vorhin zu Herzen. Es werden weitere folgen.“
Hermann grunzte wieder, diesmal unverkennbar schweinegleich.
„Schulz, hör auf mit der Scheiße!“, schrie Sven. „Was soll das hier werden, du krankes Arschloch?“
Schulz hielt für einen Moment erschrocken inne, ehe er sich wieder lockerte und bedrohlich ruhig äußerte: “Sveni, du solltest das Ganze hier nicht auf die leichte Schulter nehmen. Hast du dich denn nicht gefragt, warum du hierher gekommen bist?”
Sven sah ihn verwirrt an. „Nun ja, irgendwie wollte Peter, dass wir hierher kommen. Ich sollte mal rauskommen, Abstand zu dem ganzen Arbeitsamtstress gewinnen. Aber ich verstehe langsam gar nichts mehr. Warum sind die Leute vom Amt jetzt hier? Das ist doch reinste Freakshow, ich meine, schau doch nur mal, was aus dir geworden ist? Irgend so ein Guru, der sich für Gott hält und obskure Leute um sich scharrt, denen scheinbar jegliches eigenständige Denken abhanden gekommen ist. Und das alles in unserem beschaulichen Dorf. Wie kann das alles sein?“
„Das sind alles Dinge, über die du dir nicht den Kopf zerbrechen solltest, Sveni. Frag dich doch lieber, warum dich dein treuer Freund Peter zu uns geführt hat. Vielleicht hat es eine Bewandtnis mit deiner Einweisung, deren Sinn sich deiner bislang entzieht.“
„Einweisung?“ Sven ließ den Blick schweifen und sah, wie Lydia erneut zu kichern anfing, ohne ihn dabei anzuschauen, woraufhin Hermann erneut in Grunzen verfiel.
„Jetzt sag doch auch mal was, Lydia! Die Briefe und das alles – wozu?“
„Sven!“, brüllte Schulz wütend, mit der Hand aud den Schreibtisch schlagend. „Das herauszufinden bedarf Zeit. Zeit, die wir dir geben können. Halt dich einfach an die Regeln und du wirst Antworten finden. Aber die Zeit läuft auch gegen dich. Du bist nicht umsonst hier. Ich wünsche dir einen erkenntnisreichen Aufenthalt. Und jetzt geh raus und schweig!“

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