III

Schwärze. Stille. Dann, nach einer Weile, ein Lichtkegel, eine Silhouette. „Der Gang schlängelt sich schnurgerade, in endlosen Windungen, zielgerichtet und verloren durch den Tempel, der jetzt dunkler wird. Die Wände verlieren sich in der Höhe der Decken. Die weiße Reinheit der obzönen Figuren, der brutalen Gemälde und plagierten Weisheiten flackert sporadisch durch die ruhigen Schatten der großen Wandleuchter, die elektisch summen, wo LED’s nur tonlos schweigen. Das ehemalige Tollhaus der ausgestorbenen Dorfkultur mittlerweile zu einer unbleckten Stätte erleuchtungssuchender Nihilisten befördert, wandelt, vor in sich selbst blickenden Augen, Richtung unsicherer Zeiten. Je tiefer sich ein Mensch in den von Menschen gemachten Korridoren Schulzes Phantasie verliert, umso tiefer wird auch das Schweigen. Tip, Tap, Tip, Tap, tip, tap, tip. tap, ti, ta, ti, ta. Auf unsichtbaren Schwingen fliegen die Töne davon. Vom Erklingen und Verstummen erzählt das Leben und von diesen Lasterm befreit, bewahrt das Nichts vor Tod und Geburt. Das letzte Licht der Welt, der Glanz in Svens Augen, um das auferlegte Schweigen bemüht, erlischt hinter der nächsten und nächsten Biegung. So irrt ein stummer und unsichtbarer Schatten durch die Dunkelheit der Katakomben, ahnungslos von der Welt und dem Leben, gerüstet nur mit dem, was wir ihm geben.“ Abgang Peter.

„Die Beine vertreten und bloß nichts sagen. Endlich den Kopf frei kriegen. Sowas Albernes, also wirklich. Da wird man verarscht und niemand scheint mehr bei Verstand zu sein. Wobei das natürlich auch so ein Ausspruch ist, der nach Diskusionen, nach einer eingehenden Auseinandersetzung verlangt. Aber mit wem? Auseinandersetzung mit wem? Wo ist Peter?“ Sven war mittlerweile in einen leichten Laufschritt verfallen. Das Licht wurde spärlicher aber die Bewegung half. „Bewegung hilft. Aber wobei? Wobei hilft Bewegung? Den Kopf freikriegen, natürlich, aber wozu den Kopf freikriegen? Eine Welt des Irrsinns, der sich seit einiger Zeit entlädt. Und diese Zeit ist natürlich auch definiert. Denn wer weiß, was davor kam. Der Urknall und plötzlich war alles da. Doch selbst wenn ich mich an eine Vergangenheit erinnere, muss das nichts heißen. Mit dem großem Knall kam das große Chaos. Eigentlich fing alles mit dem Arbeitsamt an. Arbeitsamt und summende Lichter“, dachte Sven. Doch wie war es davor? Gab es eine Zeit ohne Unsinn und Chaos? „Das ist doch die Frage, was war vor dem Chaos und was ist das Nichts.“ Treppen auf und Treppen ab, lief Sven, und verstrickte sich immer tiefer in seinem klaren Kopf. „Treppen auf und Treppen ab und dann bin ich am Ziel.“ Als Sven um den nächsten Abzweig bog, bemerkte er zu spät, dass ihm eine Wand den Weg versperrte. Mühsam versuchte er seinen Lauf zu bremsen, ruderte verzweifelt mit den Armen und fluchte bereits vor dem Aufprall, doch die Tiraden halfen nichts und erstickten, als die Wand mit Sven kollidierte. Ein weiteres Mal an diesem Tag schlug unser Held auf dem Boden auf und durch ein fahles Zwielicht sich langsam lichtenden Schmerzes sah er das Gemälde, das vor ihm auf dem Boden lag. Durch den Zusammenstoß zu Boden gefallen, war der Rahmen gebrochen und Farbe war bröckelte in großen Stücken von dem bräunlichen Papier. Sven öffnete und schloss die Augen, von dem Bild angezogen und abgestoßen, wusste er nicht, wie er in diese Sackgasse geraten war und wie er jemals wieder aus den Abgründen von Schulzes Finsternis hinausfinden sollte. Immer noch unschlüssig, wie er sich dem Bild gegenüber positionieren sollte, blieb Sven dabei im schnellen Wechsel seine Augen zu öffnen und zu schließen. Es schien ihm die sinnvollste Reaktion auf eine ausweglose Lage und eine absurde Welt. An- und Absage in einer fließenden Bewegung, Leugnung und Akzeptanz in einem Wimpernschlag. Alles um ihn herum zeigte sich doppelt und zeigte sich nicht und die Leere der Zwischenräume wurde gefüllt mit Spekulation. Das Kunstwerk zu Sven Füßen bildete so eine grobe Skizze der Wirklichkeit, die von ihm gewüllt werden wollte. Die Figuren bewegten sich, irrsinnig wandten sie ihre Blicke. Die Körperhaltung völlig entspannt wurde zu einem spastischen Zucken entspannter Körper. Haare wirbelten, bewegungslos und als einförmige Masse. Ein erschrockenes Gesicht, ein lüsterner Blick, ein Lachen und das unerschöpfliche Auslaufen eines Gefäßes, waren zu ewiger Bewegungslosigkeit erstarrt und alles davor und danach war phantastische Spekulation. Alles was war, war hier. Doch auch wenn die Zeit nicht existierte, wurde das Bild von Svens wildem Blick in Bewegung gesetzt, und die panischen Krämpfe der Figuren, die aus ihrer ewigen Haltung ausbrechen wollten, betonten nur ihre Hilflosigkeit und die Unvergänglichkeit des Augenblicks. Sven kam ein Gedanke. Abrupt hielt er in der Bewegung seiner Lider inne. Den austeigenden Schwindel und der obligatorischen Übelkeit die Stirn bietend sprang er auf und tastete die Wand neben ihm ab. Über seine Zwinkergeschwindigkeit überrascht, hatte Sven erst nicht bemerkt, dass sich in der Wand neben ihm eine unscheinbare Tür befand, die sich kaum von der sie umgebenden Wand abhob. Jetzt stemmt er sie ächzend auf, kroch hindurch und erblickte steil nach oben führende Treppen. Stockwerk und Stockwerk bahnte er sich seinen Weg nach oben, ging zuerst, lief dann und rannte schließlich, bis er von weit oben ein Licht sah, dass sich beim näherkommen als Tür enttarnte.

II

„Sven! Komm herein, tritt ruhig ein, nicht so schüchtern.“ Schulz wirkte kokett wie ein Adliger des Rokoko und sprang leichtfüßig in seinem weißen Gewand auf und ab. „Darf’s etwas Tee sein? Gebäck?“
„Schulz, was soll das Ganze? Was soll das hier eigentlich werden?“, fragte Sven ernst und leckte sich die Blutkruste über der Oberlippe.
Schulz’ Miene verfinsterte sich. „Für dich ab jetzt Zeus, oder Göttervater. Zu meiner Linken die bezaubernde Aphrodite. Er pustete ihr einen Luftkuss entgegen. Und zu meiner Rechten Hermes, ähm, Hermann der Götterbote. Haha! Merk dir das, du kleines Gewürm.“
Daraufhin ertönte ein leises Kichern der rothaarigen Frau den Raum.
„Lydia, bist du’s?“, fragte Sven nervös, aber als Antwort erntete er nur wieder ein unpersönliches Kichern. Auch Hermann, der am anderen Ende des Tisches saß, stieg in das Kichern mit ein, wobei es eher nach einem Grunzen klang.
In diesem Moment erschien vor Svens Augen erneut die Szene beim Arbeitsamt. Welche frappierende Ähnlichkeit doch zwischen Hermann und diesem Sachbearbeiter, Volker oder wie er hieß, vorlag… Nur schien Hermann ein verzerrtes Spiegelbild Volkers zu sein: Die Mundwinkel hingen beim Lachen, welches kaum als solches erkennbar war, müde herunter, Körperspannung war nicht vorhanden, schulterlanges, ungepflegtes Haar verdeckte große Teile seines Gesichts. Er sah aus wie deprimierte Zwillingsbruder Volkers. Lydia kicherte weiter vor sich hin, während sie verlegen den Blick senkte.
„Hermann, halt’s… Halt dich zurück!“, sagte Schulz. „Sven, du musst entschuldigen, er ist mein debiler Ex-Schwager, ein Laster meiner ersten Ehe, lange, traurige Geschichte, ich will das nicht weiter ausführen. Ich hoffe, du nimmst dir meine Weisheit von vorhin zu Herzen. Es werden weitere folgen.“
Hermann grunzte wieder, diesmal unverkennbar schweinegleich.
„Schulz, hör auf mit der Scheiße!“, schrie Sven. „Was soll das hier werden, du krankes Arschloch?“
Schulz hielt für einen Moment erschrocken inne, ehe er sich wieder lockerte und bedrohlich ruhig äußerte: “Sveni, du solltest das Ganze hier nicht auf die leichte Schulter nehmen. Hast du dich denn nicht gefragt, warum du hierher gekommen bist?”
Sven sah ihn verwirrt an. „Nun ja, irgendwie wollte Peter, dass wir hierher kommen. Ich sollte mal rauskommen, Abstand zu dem ganzen Arbeitsamtstress gewinnen. Aber ich verstehe langsam gar nichts mehr. Warum sind die Leute vom Amt jetzt hier? Das ist doch reinste Freakshow, ich meine, schau doch nur mal, was aus dir geworden ist? Irgend so ein Guru, der sich für Gott hält und obskure Leute um sich scharrt, denen scheinbar jegliches eigenständige Denken abhanden gekommen ist. Und das alles in unserem beschaulichen Dorf. Wie kann das alles sein?“
„Das sind alles Dinge, über die du dir nicht den Kopf zerbrechen solltest, Sveni. Frag dich doch lieber, warum dich dein treuer Freund Peter zu uns geführt hat. Vielleicht hat es eine Bewandtnis mit deiner Einweisung, deren Sinn sich deiner bislang entzieht.“
„Einweisung?“ Sven ließ den Blick schweifen und sah, wie Lydia erneut zu kichern anfing, ohne ihn dabei anzuschauen, woraufhin Hermann erneut in Grunzen verfiel.
„Jetzt sag doch auch mal was, Lydia! Die Briefe und das alles – wozu?“
„Sven!“, brüllte Schulz wütend, mit der Hand aud den Schreibtisch schlagend. „Das herauszufinden bedarf Zeit. Zeit, die wir dir geben können. Halt dich einfach an die Regeln und du wirst Antworten finden. Aber die Zeit läuft auch gegen dich. Du bist nicht umsonst hier. Ich wünsche dir einen erkenntnisreichen Aufenthalt. Und jetzt geh raus und schweig!“

I

Für endlose Zeit herrschte Stille in dem opulenten Saal. Keine Regung und kein Atmen. Keine Bewegungen. Nur die in ihrer Verbeugung erstarrten Jünger und die von Schulz angeführte Gruppe, die auf einem Podest stand, dass sich langsam aus dem Boden erhob. Schulz hatte seinen Jogginganzug gegen ein weißes Gewand eingetauscht, dessen Ende noch eben weit hinter ihm auf dem Beton zu seinen Füßen gelegen hatten das sich jetzt aber wallend mit ihm erhob und den Blick auf das Bild eines mit Rebensprossen gekrönten Löwenkopfes freigab, der in der Mitte von einem Holzstab durchstochen war. Mit geschlossenen Augen fuhr Schulz dem Himmel entgegen und seine Arme streckten sich langsam, bis er sie schließlich, kurz unter der Decke angelangt, entkräftet fallen ließ und sich ein vielstimmiges Summen erhob, dass zu einem dunklen Grollen anschwoll.

„Ach du Scheiße, Peter. Das ist doch Lydia.“ Svens Stimme verklang in der düsteren Tonalität des Chors der Jünger, doch von einem Moment auf den anderen verstummte der Saal und schuf Platz für ein entsetztes Flüstern. Schulz Augen waren weit aufgerissen und mit zitterndem Arm zeigte er auf Sven. „Du wagst es in meinen Tempel zu kommen und die heilige Ruhe zu stören, wagst es, mich bloßzustellen und diese Stätte der Erleuchtung mit deinem Frevel zu beschmutzen. Wer bist du mich herauszufordern und mich in meinem Haus zu betrügen. Einen Platz der Einsicht mit Geschwafel zu entweihen. Haltet ihn. Fasst ihn und bringt ihn zu mir.“

Einige Männer und Frauen lösten sich aus der Masse und kamen aus allen Richtungen auf Sven zu. Hilfe suchend blickte er sich nach Peter um, doch der stand einige Meter entfernt und nickte ihm nur aufmunternd zu. Mit dem Achseln zuckend ergab sich Sven seinem Schicksal, streckte die Arme aus und ließ sich gleichgültig durch die Menschenmenge führen, die sich, wie durch unsichtbare Hand geleitet, vor ihnen öffnete und eine schmale Gasse bildete. In den Gesichtern der Jünger erkannte Sven die unterschiedlichsten Emotionen, die sich im Widerstreit miteinander befanden und die er nur schwer einordnen konnte. Ein junger Mann sah ihn hasserfüllt und mit zusammengekniffenen Zähnen an, während ihn eine ältere Frau voller Liebe zulächelte. Auf dem kurzen Weg wurde Sven angebellt, bespuckt, gestreichelt und geküsst und als er schließlich direkt vor Schulz stand, meinte er zu erkennen, dass auch Schulz ihn anlächelte, bevor er Sven kurz darauf ins Gesicht schlug.

„Unsere heutige allabendliche Andacht ist bis auf weiteres vertagt. Es tut mir leid. Ich habe keine Worte dafür, wie sehr ich diesen Vorfall bedauere. Es wäre ein ganz besonderer Abend geworden. Kunst und Liebe. Und noch einmal: Es tut mir leid. Man sollte die Demut besitzen sich die eigenen Fehler und die Fehler anderer einzugestehen.“ Bei diesen Worten musterte er den zu seinen Füßen liegenden Sven für alle sichtbar. „Vielleicht ist es die Empathie, die mich anfällig gemacht hat für Sentimentalität, doch ich bereue diese Schwäche und werde auch unseren Neuankömmling hier mit strenger Hand erziehen, wie auch ihr von mir erzogen wurdet. Und nun geht bitte und denkt über meine Worte nach.“

Bedächtig löste sich die Versammlung auf und die noch eben von Liebe und Hass entstellten Gesichter waren von jeglichem Gefühl befreit und fixierten nun wieder einen Bereich außerhalb des äußeren Scheins. Fasziniert beobachtete Sven das Schauspiel während er von einem Mann und einer Frau am Arm gepackt und durch die Gänge geschoben wurde. Er vergaß dabei den Schmerz in seinem Gesicht und das Blut, das nun aufs Neue aus seiner Nase lief. Als er über den alten Schulz nachdachte, fing er an zu lachen und der Anfall steigerte sich in absurde Höhen, bis er nicht mehr gehen konnte und Angst bekam, das dies sein Ende sei. Tod durch Ersticken kurz vor der Exekution durch einen alten Dorfkneiper, der durch Geschick und Leberzirrhose zum diktatorischen Führer einer aufstrebenden Sekte wirtschaftlicher Eliten in einem winzigen Dorf am östlichen Arsch Deutschlands aufgestiegen ist. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt sich Sven seinen Magenund rang verzweifelt nach Luft. Das Blut floß stoßweise auf den Boden und spritzte übermütig auf die Kunstwerke und die Psalmen an den Wänden. Die neben Sven einhergehende Frau sah sich erschrocken um, erkannte den in einem Seitengang stehenden Schulz und wechselte hastig einige Worte mit ihm.
„Sehr gut, sehr gut. Sein Aufstieg hat begonnen.“
„Meister wollen sie sagen, dass dies von Anfang an ihr Plan war?“
In Gedanken versunken stand Schulz vor Ihnen, bis er schließlich lächelnd erwiderte
„Aber natürlich. Bringt ihn sofort auf mein Zimmer.“

Wortlos wurde der immer noch lachende, kreischende und japsende Sven an den Schultern gepackt und vor Schulz‘ Zimmer abgesetzt. Als er die Tür mit hochrotem Kopf öffnete, erwarteten ihn bereits Schulz, Herrmann und Lydia.