VII

Koma

„Hallo, mein Name ist Sven und manchmal bin ich müde.
Wenn ich mir das menschliche Treiben auf diesem Planeten so anschaue, kommt mir alles vor wie ein riesiger Zirkus. Dresseure und Dressierte, Zuschauer auf Rängen, von der Loge bis auf die hintersten Bänke, wo man nicht mehr so gut sieht. Und draußen die große, weite Welt, von der die meisten gar nichts erahnen, es spielt sich ja scheinbar alles vor ihren Augen ab. Ich mag keinen Zirkus.
Aber nicht nur im Zirkus herrscht Zirkus. Die ganze Zwischenmenschlichkeit ist ein einziger Zirkus geworden. Du gehst zum Arbeitsamt, weil du auf die eine oder andere Weise Unterstützung brauchst und wirst erbarmungslos niedergemacht. Da sitzt dir dann irgendwer gegenüber und sagt, sie müssen dies und das tun, jenes einreichen, hierüber Rechenschaft ablegen und mit Strafen bei Nichteinhaltung rechnen. In einer Sprache, wo ich mir denke: ‚Hallo? Du da drüben, ja du, geht‘s noch? Ich bin wie du, verstehst du? Ich könnte jetzt an deiner Stelle sitzen und umgekehrt. Warum versteckst du, wer du bist, hinter einer solch komischen Sprache?‘ Und die Person ist sich dessen wahrscheinlich bewusst, tut dies aber aus Pflichterfüllung gegenüber seines Vorgesetzten. Aber wo endet die Hierarchie, will ich dann fragen. Wem gegenüber bist du wirklich verantwortlich?
Naja, aber das führt wohl zu weit. Mit solchen Fragen sollen sich Philosophen beschäftigen. In einer besseren Welt sind wir alle Philosophen, müssen uns aber nicht so nennen und voneinander abgrenzen. Es soll ja Philosophen geben, die beim Nachdenken über den Sinn des Lebens depressiv werden und Nicht-Philosophen, die einfach leben. Ist denn, wer einfach so vor sich hin lebt, gleich primitiv? Und wehe, er ist beim Vor-sich-hin-leben auch noch glücklich und zufrieden. Das macht verdächtig. Die Leute möchten halt schwarzweiß denken und fühlen und dulden keine Farbspritzer auf ihrer Fassade.

Wie soll man sich in einer multipolaren Welt klar positionieren, ohne von irgendwo auf die Fresse zu bekommen? Es gibt keine unangreifbaren Positionen mehr. Globalisierung und Internet haben uns um unseren Verstand gebracht. Ich habe Angst um mein Dorf. Ja, mir ist klar, ich klinge wie die Alten. Mein Dorf. Wenn man heute von „Früher war alles besser“ spricht, meint man die Zeit vor der großen Vernetzung. Langsam realisiert jeder, dass die Welt mal gigantisch groß und bunt war, trotz oder wegen schwarzweiß in den Köpfen. Durch globalen Wettkampf mit allen Mitteln drohen die noch verbliebenen, bunten Farbkleckse auf der Landkarte unter einer braunen Schlammlawine zu ersticken, die alles gleich macht.

Moment, habe ich jetzt die Alten verteidigt? Verdammt, ich sag‘s ja, es ist ausweglos. Wenn ich mir die Alten so anschaue, beneide ich sie manchmal für die Sorglosigkeit, die sie an den Tag legen. Montag bis Freitag arbeiten, Samstag Fußball, Bier und Bratwurst. Was daran falsch ist? Vielleicht nicht viel, es ist nur nicht meins. Und trotzdem lebe ich gerne hier. Nur scheint mir die Welt auf den Kopf zu fallen. Um uns herum brennt es doch. Hier ist ein Paradies und irgendwann werden fremde Leute ankommen, weil sie vor dem großen Brand um uns herum fliehen. Und dann wird es verdammt eng hier und das macht mir Angst. Die Alten haben konkrete Begriffe für die Fremden, wenn man sie darauf anspricht. Ich wünschte, es wäre so einfach. Ich wünschte, ich könnte wie sie noch rechtzeitig auf natürlichem Wege das Zeitliche segnen. Ich bin müde.“

„Hallo, mein Name ist Schulz. Ich bin hier der Gott oder Dorfschulz oder so. Lacht. Ich muss ganz ehrlich sagen, ich hab das hier alles nicht verstanden. Nicht, dass es mich groß interessiert hätte; Rolle ist Rolle. Aber auf so einen abgefahrenen Scheiß muss man erstmal kommen. Oh Gott ja, die Szene mit den Jüngern in meinem Schloss. Wie die da alle rumgetaumelt sind zu diesem Kuschelrock und ich als großer Zampano. Lacht. Großes Kino!“

„Ich heiße Lydia und ich bin die Liebe.“ Alle lachen.

„Ich heiße Peter und ich bin Regisseur und Darsteller in diesem Film. Worum es geht? Liegt das nicht auf der Hand? Der Film handelt von dem zentralen Konflikt unserer Zeit: der Kampf gegen die Abstumpfung des Individuums und Gleichmachung der Völker. Sehen Sie, unser Hauptdarsteller steht voll im Saft der Jugend und vegetiert doch vor sich hin, gefoltert von den Auswüchsen einer betont toleranten Gesellschaft, die in ihrer institutionellen Komplexität derart starr geworden ist, dass sie ihm jegliche Tatkraft raubt. Er steht stellvertretend für eine orientierungslose Generation junger Menschen, denen durch die Globalisierung scheinbar alle Türen offen stehen und die dennoch eingeschränkt sind wie niemals zuvor. Eine Generation, die scheinbar alles besitzt außer der Macht, irgendetwas zu bewegen; die niemandem etwas Böses und allen gerecht werden will, die in ihrer Übertoleranz zu ängstlichen Untätern wird, während Millionen von Menschen zu unseren Wohlstandsverhältnissen zu strömen versuchen. Man möchte ihnen zurufen: ‚Kommt nicht, schaut euch unseren Sven an, es wird hier nicht besser. Und das, was ihr sucht, haben wir längst verbraucht, inklusive uns selbst.‘ Aber das ist vermessen angesichts des Ist-Zustandes in manchen Ländern und so ist die Verlockung stärker als das, was am Ende des Weges wartet. Nichts Gutes. Es zählen keine Taten mehr, nur noch das Geschwafel darüber, das Teilen, das Sich-Präsentieren. Mit solchen Menschen lässt sich kein Krieg gewinnen, geschweige denn ein Bekenntnis abringen, eine klare Haltung beziehen. Die Spirale schraubt sich immer schneller nach unten.“

„Ich bin Matze und mir gehört der ganze Bums hier, also dieses Lokal, meine ich. Schmiedehammer… Was für ein dämlicher Name. Darauf können nur Filmfutzis kommen. Und der sogenannte Barkeeper in diesem Film… eine Katastrophe. Da hätten Sie auch einfach mich nehmen können, ich hätte hier auch nicht so eine Sauerei veranstaltet. Schade um das ganze verschüttete Bier. Bin froh, dass der ganze Zirkus jetzt vorbei ist.“

„Uuunnnd Schnitt!“

„Peter, darf ich noch schnell einen Satz loswerden?“
„Klar! Kommt in die Outtakes.“
Sven räuspert sich und guckt verlegen in die Kamera.
„Danke, dass ich am Schauspiel Leben teilhaben durfte.“