IV

Als er wieder zu sich kam, Schwindel, Sprache und Denken sich endlich aus ihrem Netz lösten und schließlich in Apathie aufgingen, merkte Sven, dass er vor seiner Haustür stand und im Kreis lief. Unsinnig darüber nachzudenken, wie lange er sich so, beobachtet von einigen missmutigen Hühnern auf der anderen Straßenseite, um seine eigene Achse bewegt hatte. War er schon laufen oder war es nur die Idee des Laufs, die die Hormone überschwänglich in seinen Körper gepumpt hatte und ihn das Bild eines perfekten Waldes phantasieren ließ. Sven blickte an sich hinab. Seine Schuhe und Kleidung waren von einer dunkelbraunen Schlammschicht überzogen. Allerdings, dachte Sven, sind das nicht meine Laufschuhe und überhaupt überlegte er, warum besteht meine Laufkleidung aus Jeans und Lederjacke. Verwirrt und lachend schloss Sven die Tür auf, riss sich seine Klamotten vom Leib und lief nackt durch die Wohnung. Schweiß rann warm und prickelnd an seinem Rücken hinab und als er sich für einen Moment auf sein Sofa setzte, freute er sich auf den nassen Abdruck den er auf dem Polster hinterlassen würde. Er saß und lauschte seinem Herzschlag. Laut und wild und schnell aber auch beruhigend, dachte er. Gut wenn man sein Herz hört. Dann weiß man das man noch lebt. Er dachte daran, dass sich manchmal, wenn er nachts aufstand und aufs Klo ging, sein Körper seltsam unwirklich anfühlte. Wie der Körper eines fremden, überlegte er, der Geist funktioniert und motorisch gibt es auch keine Probleme aber die Hände und Beine und auch der Kopf fühlen einfach nichts, sind einfach nur da und erledigen ihre Arbeit pflichtbewusst und der Verstand nimmt das alles nur wahr. Kennt gewissermaßen die Befehle aber erhält wenn man es so will keine Antwort. Ich sehe mir selber dabei zu wie ich mich bewege, wie ich von der Toilette aufstehe, wie ich abschüttele, Hose hochziehe, Hände wasche und bin erstaunt, dass ich mich bewege. Oder das sich jemand bewegt, wenn ich denke er sollte sich bewegen, auch wenn ich nicht wirklich Teil der Bewegung bin. Natürlich, überlegte Sven dann, gibt es dafür unzählige Erklärungen. Der Verstand oder Körper, oder das Nervensystem oder irgendwas, ist halt noch nicht richtig wach, also schon funktionsfähig aber nicht vollständig oder vielleicht schon aber irgendetwas ist eben noch nicht so ganz richtig verknüpft. Oder nicht mehr, je nachdem, wie lange man davor geschlafen hat. Aber meist kommt, dass immer nach dem Tiefschlaf, dieses Gefühl. Wenn man abrupt erwacht und Körper und Geist keine Vorbereitungszeit haben und dann doch so ganz plötzlich auf sich angewiesen sind. Also, versuchte Sven nun endlich etwas Klarheit zu schaffen, natürlich macht das Sinn, aber gerade dieser Sinn macht mir Angst. Wenn es Raum für Zweifel und Unklarheit gäbe, würde ich mich besser fühlen, dachte Sven, die Gewissheit vernichtet die Hoffnung und die Ungewissheit bietet eine Chance. Sven war mittlerweile aufgestanden und hatte sich in Richtung Badezimmer bewegt. In der Wohnung war es warm und er fühlte eine angenehme Erschöpfung und gelassene Euphorie. Er war nicht mehr weit von der Tür entfernt, als sich diese plötzlich öffnete und Peter nackt vor ihm stand. Sein Bauch strahlte rot und groß wie ein Planet und aus seinem Bauchnabel sprossen unbändig die Haare in alle Richtungen. Er sah aus wie ein verwahrloster Bär der langsam sein Fell verliert und von seinen Artgenossen gemieden wird. In seiner rechten Hand hielt er die leere Schokomilch. Sven war gleichermaßen erschrocken und schockiert, fühlte aber auch Mitgefühl mit sich selbst und tiefe Trauer. „Ver….“, setzte er an, brach dann aber erschöpft ab. So war es schließlich Peter, der Sven freudig begrüßte: „Ach Mensch Sven, hab mich schon gefragt, wo du eigentlich bist. Naja macht ja nichts. Bist ja auch nackt.“ Peter musterte Sven argwöhnisch „na Mensch, dass ist ja das erste mal, das wir uns so sehen. Hätte aber schon gedacht, dass du mehr hast.“ Sven der sich auf einmal sehr müde fühlte, wollte Einwände erheben: „Peter, das muss doch nicht sein. Weißt du, so Männerkörper. Das ist doch ekelig.“ Peter jedoch ließ sich nicht beirren „Ach Sven, du kleinbürgerlicher Wicht, schwul ist scheiße, Sex zur Fortpflanzung, du arbeitsloser Spießer! Du weißt doch was die Leute über uns sagen. Es gibt keinen Ruf mehr zu verlieren!“ Sven fragte sich ob Peter in seinem Kopf wohnte und jeden seiner Gedanken notierte. Oder vielleicht teilen wir uns zeitweise einen Kopf und darum fühle ich mich manchmal auch nicht wie ich selbst, sondern beobachte nur Peter wie er meine Gedanken und dann Bewegungen ausführt, ohne dass ich die Kontrolle habe. Vielleicht ist das seine Art und Weise vorzugeben, dass er nicht da ist, und dabei ist er doch immer da oder zumindest meistens und weiß alles was ich weiß und dann auch noch das was Peter weiß und ich nicht weiß. Sven wurde wieder schwindelig und nur der Anblick der Schockomilch und die aufkeimende Wut hieten ihn auf den Beinen.

III

“Ich beobachtete das Schauspiel schon seit geraumer Zeit mit regem Interesse. Von einer Kakerlake kann wohl kaum die Rede sein. Nicht zu dieser Jahreszeit, ja nicht mal auf diesem Breitengrad. Das Insekt, das auf deinem Augapfel Platz nahm und dir Kopfzerbrechen bereitete, war maximal in der Kategorie eines gewöhnlichen schwarzen Käfers anzusiedeln, vielleicht aber auch nur eine Kellerassel.” Sven wollte scherzhaft einwerfen, dass sie sich beide ja gar nicht in einem Keller aufhielten, steckte aber zurück, um den in dieser Situation und auch für Peter eher ungewöhnlichen, aber fesselnden Vortrag, weiterzuverfolgen. “Ein Vogel pickt nicht einfach so nach einem Käfer oder einer Assel. Er bevorzugt Gewürm, saftige Körner, allerlei Geschnetz und lässt sich überdies nicht auf unvorsichtige Nähe mit Menschen ein. Oder meinst du, er fühlte den Rausch in uns und sich darum sicher? Oder war er gar den Umgang mit Menschen gewohnt? Das glaube ich nicht. Nein, ich kann es nicht glauben. Sven, dieser Vorfall riecht verdächtig. Es ist besser, wenn wir jetzt nach Hause gehen und uns ausruhen, bevor noch etwas Schlimmes passiert. Komm, wir gehen!”

Sven erwachte am frühen Nachmittag mit dickem Schädel in seinem Bett. “Was war das denn bitte?”, musste er laut denken und seine Beine zuckten in Erregung. Und dieser Abschluss – Wie kann man nach einer solchen Nacht noch so geistesgegenwärtig sein, fragte er und ließ sich Peters Plädoyer nochmal durch den Kopf gehen.
Er stapfte zum Kühlschrank und erblickte freudig die Schokomilch, aber Zweifel schossen sofort durch seinen Kopf – Ach, ich wollte doch heute noch laufen gehen – und beruhigte seinen Geist mit der Aussicht, sich die Milch nach dem Lauf zu gönnen. Zum Frühstück gab es also Toast und Wasser. Letzteres hätte ich vor dem Schlafengehen trinken sollen. Er fühlte sich ausgetrocknet und sein Magen war flau. Seine innere Stimme versuchte ihm das Laufen auszureden, aber er wusste dem Schweinehund ein Schnippchen zu schlagen.

So machte er sich wenig später tatsächlich auf die Socken. Wofür eigentlich, mag der geneigte Leser an dieser Stelle denken. Nun, Sven trainierte kontinuierlich für einen einzigen Laufwettkampf im Jahr, der immer zur Herbstzeit im Nachbarort stattfand und durch die bergige Landschaft seiner Heimat führte. Ein anspruchsvoller Lauf, der ein ordentliches Maß an körperlicher Fitness voraussetzt und für Anfänger fast unmachbar erscheint, aber dennoch nicht so lang, dass er sich trainingstechnisch übernehmen musste. Man könnte sagen, dass dieser Lauf die einzige Konstante in Svens Leben war.

Keuchend ging er zu Werke, die anfängliche Steigung machte ihm mehr als üblich zu schaffen. Sein Puls stieg sogleich in bedenkliche Höhen, fing sich kurz darauf wieder, und so lief er sich ein, fand seinen üblichen Rhythmus und verlor sich alsbald in sprudelnden Gedanken, so klar und wohlgeordnet, wie er sie nur mit sich allein im Wald auszumachen vermochte:

Wir sind jetzt sieben und in wenigen Jahren neun Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Schwul sein ist eklig. Wenn zwei Frauen sich küssen oder lecken, geht das Ordnung; Schleckliesel, hihi. Unser aller Lebensstil ist aus den Fugen geraten. Wir müssen zurückschrauben. Wie kann man seinen Schwanz nur in den Arsch… von nem Typen…? Bei ner Frau ist das okay. Wenn wir alle nach dem Prinzip ‘Lebe jeden Tag so, als wäre es dein letzter’ leben würden, können wir ja auf alles, was nach uns kommt, pfeifen. Zu einem erfüllten Leben gehört die Fortpflanzung, die Vereinigung von Mann und Frau, Familie. Zu viel Zucker macht krank. Die Pharma- und die Lebensmittelindustrie arbeiten zusammen, um uns krank zu machen. Die Medien unterstützen dies. Boah, wenn sich zwei Kerle öffentlich küssen, könnt’ ich kotzen. Aber die können ja trotzdem nett sein. Durch Analsex kann kein neues Leben entstehen. Ist er dann sinnlos oder hilfreich? Übermäßiger Zuckerkonsum kann zu Diabetes II führen und impotent machen. Fluch oder Segen? Während sich die Menschen in den Entwicklungsländern vermehren wie die Karnickel, sieht man in vielen Industrieländern rückläufige Tendenzen. Ist das Evolution oder gewollt? Die tödlichste Waffe des Menschen ist die Sprache. Sprache ist in meinem Kopf und ich kann sie nicht ausschalten. Wenn alle dieselbe Sprache sprächen, oh Gott, wie furchtbar. Oder nicht? Durch Missverständnisse in der Sprache entstehen Konflikte. Durch Ressourceninteressen weiten diese sich aus zu Kriegen. Die Medien sagen etwas anderes. Zucker bleibt billig und ist überall drin. Die Gedanken sind frei, Sexualität auch. Was auf mein Land zutrifft, trifft nicht zwingend auf ein anderes Land zu. Wir drehen uns im Kreis. Ich drehe mich im Kreis und mir ist schwindelig. Und Jesus sagt: „Eure Rede aber sei: Ja, ja — nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.“

II

Die winzigen Füße kitzelten auf der Haut und kämpften sich ihren Weg durch das flaumige und unregelmäßig verteilte Haar, das wild und traurig mehr zu sein vorgab als es eigentlich war. Verzweifelt suchten die schwarzen und zuckenden Augen nach der vertrauten Schwere des erdigen, von Gras bedeckten Bodens, der Schutz bot vor den panischen und hasserfüllten Blicken und auf dem das Vibrieren und der Hauch des Windes vor nahender Gefahr kündeten. Doch der Untergrund über den sich der fast schwarze Körper in verzweifelter Hast bewegte, war in ständiger Bewegung und ständig war die Gefahr und ständig war ein pfeifender und donnernder Sturm. Rastlos arbeiteten die Gefäße und produzierten das Adrenalin und rastlos pumpten sie das Blut, das den für seine Größe erstaunlich leichten Körper über die fleischigen Hügel und Täler bewegte, bis ein Beben schließlich die lebendige Ebene erschütterte und der Schock alle Bewegung lähmte. Unter dem Körper hatte sich eine tiefe Spalte aufgetan, in der von schleimigen Wasser bedeckt, eine strahlend blaue und in der Mitte schwarze Kugel lag, deren Ränder weiß und von unzähligen blutig-roten Linien durchzogen waren. Es war ein magischer Anblick, der mystische und religiöse Assoziationen gebar und so verharrte der kleine und glatte Körper im Angesicht der Größe dieses Augenblicks und im Angesicht der Größe der Verzweiflung.

Sven erwachte und sah wenig mehr als einige brennende Lichtstrahlen, die durch die Blätter eines Baumes schienen und deren Helligkeit an den Rändern seiner Augen schmerzten. Das Zentrum seines Gesichtsfeldes war Schwärze und für einen Moment war er erleichtert, dass die Kraft des Lichtes durch einen dunklen Fleck verdeckt wurde. Doch als sich die schwarze Fläche auch nach einigen Augenblicken nicht verkleinert oder zumindest bewegte, kam die Angst. Zitternd versuchte er sich die Ereignisse der letzten Nacht ins Gedächtnis zu rufen und überlegte, ob er gestürzt war oder geschlagen wurde. Undeutlich erinnerte er sich an die Disco, die Toilette und einen Schlag und er fühlte wie sich seine Adern, Arterien und Venen zusammenzogen und das Blut mit übermütiger Geschwindigkeit in alle Körperteile gepumpt wurde. Sven fragte sich ob er nun auf einem Auge blind war und wie das sein zukünftiges Leben beeinflussen würde. Schritt für Schritt ging er seinen normalen Tagesablauf durch und stellte erleichtert fest, dass er wohl auch mit einem Auge ganz gut leben könnte. Er fuhr kein Auto und sofern es das Laufen nicht sonderlich beeinflusste, sollte es keine größeren Probleme geben. Bleibt nur der Schmerz, überlegte Sven, Hauptsache der Schmerz bleibt mir verschont. Aber so lange mir nur jemand gegen den Kopf geschlagen hat und irgendetwas in Unordnung geraten ist, sollte es eigentlich gehen. Ich bin ein zweiäugiger Zyklop, dachte Sven. Ein zweiäugiger Zyklop, verloren in der Nacht, gestrandet auf einem Hügel, fernab von seinem Heim, auf einer Irrfahrt durch das Leben. Wenn man sich mutwillig verliert, ist es dann noch eine Irrfahrt oder eine Reise, überlegte er, als sich das Schwarz vor seinen Augen langsam erhob, bis es schließlich immer kleiner wurde und Sven erkannte, dass nicht der Schlag sondern eine Kakerlake ihn vorübergehend geblendet hatte. Fasziniert und leicht irritiert sah er der Küchenschabe nach, die langsam höher stieg und schließlich zehnt Meter von ihm entfernt wieder landete, als plötzlich ein Vogel vom Baum hinabschoß und die Kakerlake verschlang.

Die Situation ließ Sven schockiert zurück und erinnerte ihn an etwas, an das er sich nicht erinnern konnte. Mühsam zog er sich am Baum in eine sitzende Haltung empor und merkte erst jetzt, wie kalt es war und wie sehr er fror. Das Gras war noch vom morgendlich Reif bedeckt und die Sonne stand noch nicht sehr hoch. Er versuchte sich zu orientieren, doch erblickte er nur einen massigen Körper der mit hinter dem Kopf verschränkten Armen und lächelnd, neben ihm lag. Routinemäßig betastete er Peters Puls der in einem ruhigen Takt schlug. „Peter“, fragte Sven schließlich „seit wann können Kakerlaken eigentlich fliegen?“ Und als dieser eine ganze Weile nicht antwortete, fügte er hinzu „Peter, auch wenn ich keine Zyklop bin, vielleicht sollte ich mich auf eine Irrfahrt begeben.“

I

Weit kam unser schwergewichtiger Held jedoch nicht. Hechelnd sprang er nach ein paar Metern ins erstbeste Taxi und wies den eingedösten Fahrer an, gottverdammtnochmal aufs Gas zu treten. Und siehe da, nachdem dieser Folge geleistet und Peter sich im Verklingen der Stimmen und Verblassen der Lichter sicher wähnte, realisierten beide, dass sie sich schon bei der Hinfahrt begegnet waren. Sichtlich genervt vom Anblick des vormals furzenden Fahrgasts, sagte der Fahrer: “Ah, du wieder. Wo ist denn dein Freund?” und verkniff sich einen bissigen Kommentar. “Ja, komm!”, sagte Peter. “Der is früher nach Hause. Jetzt fahr erstmal, geht dich sowieso nichts an.”
“Weißt du, eins ist mir vorhin klar geworden.” Er blickte zu Peter, der ihn gekonnt ignorierte. “Ich hab’ keinen Bock mehr. Leute wie du und dein Freund, pöbelndes Gesocks, Typen, die mir das Auto zuscheißen und zukotzen; darauf hab’ ich einfach keinen Bock mehr.” Peter horchte auf. “Jetzt versteh mich nicht falsch, ich weiß schon, dass der Job das mit sich bringt und überhaupt sind die meisten Gäste wahrscheinlich so normal ganz in Ordnung, aber ich hab‘ echt kein’ Bock mehr. Und dafür bin ich dir eigentlich sogar dankbar, also dir und deinem Freund. Ihr wart vorhin so das Zünglein an der Waage, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Denn morgen ist Schluss. Ab morgen lass ich das Taxifahren sein und mach was anderes.“
Peter senkte enttäuscht den Kopf. Nach einem tiefen Seufzer, sagte er schließlich: “Ist das alles?” Der Taxifahrer zuckte mit den Schultern. “Was meinst du?”
“Ob das alles ist, was du mir zu sagen hast? Also außer diesem pathetischen Stuss von wegen ‘Ich schmeiß’ hin und mach’ morgen was anderes’-Gesabber. Ich wurde gerade in der abgefuckten Dorfdisse Zeuge einer Tragikomödie monumentalen Ausmaßes und jetzt kommst du mit deinem Midlife-Crisis-Scheiß. Ich dachte, du wärst mehr als das.“
Der Taxifahrer hielt abrupt an. “Wie meinst du das?“
“Du stehst wohl auf Wiederholungen, was? Ich sagte, ich dachte, du wärst mehr als das!”
Verblüfft starrte der Taxifahrer Peter an, als hätte dieser ihm die Existenzfrage gestellt. Peter öffnete indes die Tür und sagte beim Aussteigen nochmals mit sanfter Stimme: “Ich dachte wirklich, du wärst mehr als das.”

“Scheiße, wo bin ich denn jetzt hier gelandet?” Peter musste sich kurz orientieren. Er war am Ortseingang und hatte noch etwas Fußmarsch vor sich. Eine Abkürzung durch den Wald schien ihm angebracht. Der Morgen dämmerte bereits und eine rötlich-schwache Sonne stieg an der Himmelslinie empor. Peter atmete kalte, klare Luft, die ihn zum Besteigen eines Hügels beflügelte. Oben angekommen sah er einen Mann, der mitten auf der Wiese schlief. Es war Sven. Erleichtert ließ er sich neben ihm nieder und blickte auf das Dorf. Wenn Zeit etwas Menschengemachtes ist, wer bestimmt dann, dass sie vorwärts läuft? Mit diesem Gedanken schlief auch er ein.

VIII

Als Sven fluchtartig die Disco verlassen hatte, wieder und wieder über unsinnig den Weg versperrende Beine gestolpert, gefallen und wieder aufgesprungen war, hatte Peter stolz und triumphierend auf seinem Barhocker gesessen. Er hatte das absurde Schauspiel, das sich vor seinen Augen entfaltet hatte aus nächster Nähe verfolgt. Von seiner Loge aus hatte er innerlich dem Sieg der Romantik über die Schwärze der Apathie und Teilnahmslosigkeit applaudiert. An einem undenkbaren Ort zu einer undenkbaren Zeit hatte ein betrunkener Casanova der Rationalität und Stumpfsinnigkeit der Welt, schwankend den Krieg erklärt. Taumelnd hatte er sich einer debil grinsenden Ophelia genähert, ihr tief in die vom Alkohol glasigen Augen geschaut, ihr samten rotes Haar beiseite gestrichen und unbekannte Worte gegen den Bass und die Logik angeflüstert. Es folgte ein langer Blick. Verständnislos, abschätzig, verächtlich und schließlich hingebungsvoll. Ein Kuss und die alternativlose Flucht. Für einen Moment hatte Peter überlegt, ob er seinem Freund folgen sollte, doch in den Augen der Ophelia meinte er durch den Rauch seiner Zigarette den ersten Hauch des Wahnsinns zu erkennen und instinktiv hatte er gefühlt, dass diese Bühne keiner weiteren Mimen bedurfte und jede Unachtsamkeit den zarten Keim der Tollheit zerstören konnte, der in diesem Moment und in diesem Dorf zu keimen begann. Peter hatte stumm vor sich hingekichert und sich triumphierend ein weiteres Bier und einen weiteren Kurzen bestellt. Tief hatte er den Rauch seiner Zigarette eingesogen und ihn schließlich, als sich langsam verblassende Ringe in Richtung Paradies geblasen. Eine ganze Weile hatte er schweigend da gesessen und glücklich die letzten Züge seiner Zigarette und die letzten Züge der Nacht genossen. Dann war er aufgestanden, hatte sich geräuspert und sich schweigend einen Weg durch die tanzenden Menschen und in die Mitte des Raumes gekämpft. Unterschwellig lallend aber mit der Zeit immer sicherer werdend, hatte er begonnen zu sprechen:

„Die Pest tritt in die niedren Türen ein.
Vorm Kruzifix zergeißelt sich das Fleisch,
Blut netzt des neuen Gottes bleichen Fuß.

Kehr wieder, Gott. Kehr wieder aus dem Reich
Des grünen Waldes. Denn erfüllt ist nun
Des neuen Gottes kummervolles Reich.

Sie passen in die Königskleider nicht,
Die Zwerge, die wie kleine Affen hocken
Im Götterpurpur auf der Blitze Thron.

Kehr wieder Gott, dem Pentheus einst erlag.
Du Gott der Feste und der Jugendzeit.
Kehr wieder aus des Waldes grünem Reich.

Kehr wieder, Gott. Erlösung, rufen wir.
Erlöse uns vom Kreuz und Marterpfahl.
Tritt aus dem Walde. Finde uns bereit.

Wir wolln dir wieder Tempel bauen, Herr.
Wir wollen Feuer an die Kirchen legen,
Vergessen sei des Lebens ‚Traurigkeit.

Wir flehn zu dir in mancher stillen Nacht.
Wir sehen hoffend zu den Sternen auf.
Tritt aus den Sternen. Hör das Rufen, Herr.

Georg Heym“

Die Musik hatte einige Passagen übertönt und doch hatte sich die Menge schließlich zu ihm gedreht und ihn fassungslos angeschaut. Viele der ihn Umstehenden hatten nur ein monotones Rauschen in den Ohren, dass die Musik mit Peters vor Anspannung zitternder Stimme verschmelzen ließ. Und auch wenn niemand seine Worte verstanden hatte oder verstehen wollte, so war sich Peter doch der Bedeutung seiner Rede bewusst gewesen. Es war der Epilog einer langen Nacht.

Nachdem er sich verbeugte hatte, war er langsam und mit erhobenen Armen zu seinem Barhocker gegangen und hatte in genussvollen Zügen sein Bier geleert. Die Musik war verstummt und der Raum hatte ihn, wie ein tiefer Schlund schwarz und leer und verängstigend angestarrt. Für einen Moment hatte er die Augen geschlossen und die Stille genossen. Als er sie nach kurzer Zeit wieder geöffnet hatte, waren die Türsteher zusammengekommen, hatten sich versammelt um dem Wahnsinnigen zu überwältigen. Doch sie waren unschlüssig. Und so hatten sich plötzlich drei wütend blickende Jungen vor ihm aufgerichtet. Ihre Gesichter waren von Wut und Angst verzerrt und Peter hatte einen Moment lang nicht gewusst, ob sie ihn anlachten. Einer der drei hatte ihn angerempelt und ihm gegen die Schulter geschlagen.

„Du bist doch der Penner, der mit diesem dummen Wichser hier war, der meine Freundin angebaggert hat. Ihr Arschlöcher. Und dann so ne beschissene Aktion hier. Ihr Dreckstypen. Du fetter Wichser. Bis du Terrorist? Ich mach dich fertig du Wichser!“

Peter hatte ihn aus müden Augen angeschaut und seine Flüche ignoriert. Dann hatte er ruhig gesagt: „Mein junger Freund. Der Wahnsinn naht. Schau in die Augen deiner Freundin und du weißt, dass sie verloren ist. Wenn die schwitzenden Affen in deiner Badewanne sitzen, wirst du alles begreifen.“

Dann hatte er ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen, und war losgelaufen, auf der Flucht und auf der Suche nach seinem heroischen Freund.