XV

„Herrmann, du dumme Sau!“ Schulz’ Stimme dröhnte durch die Lautsprecher im Korridor. Ein furchterregendes Stöhnen folgte, einem gepeinigten Monster gleich. Daraufhin eine Frauenstimme: „Meister! Das Mikrofon ist noch an.“ Und dann ein “Verdammte Scheiße!”, als die Durchsage abrupt verklang.

Sven und Peter nahmen Platz im opulenten Speisesaal, nachdem sie sich ohne weitere Vorkommnisse in ihrem Zimmer etwas frisch machten. Auf Peters Aussage, dass dies schon ein komischer Laden sei, reagierte Sven erst jetzt, eine halbe Stunde später: „Das ist schon echt ein komischer Laden.“, sagte er, aber Peter winkte desinteressiert ab. Er deutete stattdessen auf die Briefe in Svens Hosentasche.
„Na, willste sie nich öffnen?“
„Nee, das bringt nur wieder Unglück. Ich versteh nich, wie die hierher gekommen sind. Alter, da steht sogar als Empfänger mein Name drauf. Wie geht denn das?“
„Komm, mach schon auf. Das nennt sich Schicksal.“
Am gegenüberliegenden Tisch bemerkte Sven eine hagere Frau mit hohlen Augen, die ihn ansah wie ein weidendes Schaf, während sie emotionslos auf einem Salatblatt herumkaute.
„Okay, einen mach ich auf. Den anderen erstmal nicht. Aber welchen? Lass uns ne Münze werfen. Hast du eine dabei?“
Peter kramte unter Anstrengung eine Kupfermünze aus seiner Gesäßtasche an seiner zum Bersten gespannten Hose.
„Kopf, den grauen, Zahl, den weißen Umschlag. Kopf oder Zahl?“
„Zahl!“, sagte Sven und schmiss die Münze nach oben.

H: „Müssen wir wegen der ganzen Sache nicht erst den Chef um Erlaubnis bitten?“
D verärgert: „Halt doch’s Maul, du Möchtegern-Herkules. Was meinst du, warum wir uns ausgerechnet an diesem Ort zusammenfinden? Weil er nichts, aber auch gar nichts von unseren Plänen erfahren soll!“
H: „Aber das Menschenprojekt beenden ohne sein Wissen? Wie soll das gehen?“
Plötzlich veränderte sich die Atmosphäre der dimensionslosen Kneipe. Die Decke riss auf und gab den Blick frei auf einen pechschwarzen, sternlosen Himmel, oder ein Loch im Raum-Zeit-Gefüge oder irgendetwas anderes Unerklärliches.
H: „Scheiße, was ist denn jetzt los?“
Violette Blitze durchzuckten lautlos das schwarze Nichts. Hannes tippelte nervös mit den Fingern auf dem Tresen herum. Pan und Dionysos sahen besorgt dem entgegen, was sich dort anbraute. Mo zapfte unentwegt Bier, aber nicht mehr in Gläser, sondern auf den Fußboden. Ein leichtes Grollen wurde hörbar.
P zu D: „Er kommt.“
D: „Scheiße! Wie zum Teufel hat er uns gefunden?“ Panisch zu den Halbgöttern: „Verkriecht euch, schnell. Wenn er euch hier sieht, seid ihr geliefert.“
Ein Blitzschlag krachte mit ohrenbetäubendem Lärm ins Fragile Säuferglück, das sich mehr und mehr auflöste.

Sehnte sich auch einst ein sterbliches Wesen
Nach seiner zerstörerischen Macht der Gewitter
Ward er bestraft, doch sei’s drum gewesen
Die Erde erschüttert
Gegner zersplittert
Jugend verwittert
Alles erzittert
Vor Zeus, dem Zerficker

„Zahl!“ Sven nahm den weißen Umschlag und öffnete ihn vorsichtig. Im selben Moment betraten Schulz, Herrmann und eine rothaarige Frau den Saal, während sich seine Jünger erhoben und ehrerbietend verbeugten.
„Was steht drin?“, drängte Peter.
Sven überflog, während er mit seinen Augen gebannt dem seltsamen Trio folgte. „Ihre persönlichen Zugangsdaten für das Jobcenter-Trainingsportal. Microsoft Office spielerisch lernen. Bei Nichtanwendung droht eine Kürzung Ihrer Sozialleistungen.“
Peter sah ihn lange Zeit nichtssagend an.
„Was für eine dumme Scheiße!“

XIV

H: „Jetzt aber sachte. Das Menschenprojekt wird eingestellt. Warum denn gleich so rabiat?“
D: „Nichts rabiat, konsequent. Die Menschen sind auf Irrwegen und wir sind die Erlöser all der verschenkten Leben.“
Die Biergläser häufen sich auf der Theke, doch Mo zapft unbeirrt weiter, den Blick auf seine Hände gerichtet.
P nachdenklich trinkend: „Mir solls recht sein, hab eh nie verstanden, warum wir den Scheiß gestartet haben aber dann ohne diesen schwülstigen Erlöserpathos.“
H: „Also eigentlich fand ich es immer ganz schön zwischen dem ganzen Pack. Man konnte sich ausleben und man selbst sein.“
P: Als ob du da jemals was anderes gemacht hast als hier. Nur das Säuferglück hieß eben Schmiedehammer.
Mo von seinen Händen aufschauend: „Fragiles.“
D: „Schnödes.“
P: „Lächerliches.“
H: „Penetrantes.“
D: „Was los Mo, noch nicht ganz sauber in der Birne?“
Mo: „Fragiles Säuferglück.“
D, P und H gleichzeitig aufatmend: „Ah.“
Mo: „Da muss man schon penibel sein. Wenn nicht da, wo dann?“
H: „Der alte Mo. Weiß immer, wie man eine Situation rettet.“
P: „Im Gegensatz zu dir.“
D: „Wie dem auch sei, mein Entschluss ist endgültig.“
H: „Aber…“
D: „Nichts aber.“
P: „Die Zeit ohne uns hat ihn weich gemacht.“
D: „Ohne mich.“
Die einsetzende Stille wird nur durch das beruhigende Plätschern des Biers in den sich unaufhörlich füllenden Gläsern unterbrochen.
D: „Mo, eifrig wie eh und je. Ohne zitternde Hände zapfts sich gleich viel leichter, was? Was macht eigentlich unser anderer Bote? Neuigkeiten?“
H kichernd: „Die fette Qualle folgt seinem Schatten auf Schritt und Tritt. Scheint seinen Partner fürs Leben gefunden zu haben und genießt seine Zeit in vollen Zügen.“
Mo irritiert seine Hände musternd: „Wenigstens einer macht, was er soll. Und jetzt Ruhe und trinkt.“
D, H und P leeren pflichtbewusst ihre Gläser.
D nach einiger Zeit: „Wir müssen ihn kontaktieren.“

„Eine Vision!“, Sven klang aufgeregt. „Peter, eine Vision und zack dein Leben sieht anders aus. Umgefallen, aufgestanden und alles so weitergemacht wie bisher, nur anders. Meinst du sowas kann mir auch passieren?“ Der Schlag kam ohne Ankündigung und traf Sven mitten im Gesicht. Lachend stand Peter neben Sven und beobachtete, wie der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Nase hielt und mühsam auf die Beine kämpfte.
„Was zum Teufel?“
„Na na na. Übermut tut selten gut.“
„Und dann haust du mir einfach eine rein.“
„Für die Erleuchtung. Was machen die Visionen?“
Wütend wollte Sven davonstürmen. Er malte sich aus, wie Peter beschämt zurückblieb, sich immer aussichtsloser in den Windungen von Schulz‘ Schloss verstrickte, bis ihm schließlich, in den tiefsten Katakomben Herrmann auflauerte und Peter so die Erkenntnis seines Irrtums ereilte. Doch gerade als er sich umdrehen wollte, sah er vor sich auf dem Boden zwei ungeöffnete Briefe. Triumphierend reckte er sie in die Höhe und rieb sie Peter ins Gesicht, während aus seiner Nase langsam das Blut rann. „Vom Arbeitsamt, vergessen und wiederentdeckt. Meine Vision und Erleuchtung.“
Angewidert schloss Peter die Augen. „Oh Mann, meine Erleuchtung das Arbeitsamt. Sag mal Sven, geht’s noch?“

XIII

„Was machst du denn?“, fragte Sven.
„Ja!“, sagte Peter. „Was wissen wir denn schon von dir, außer dass du ne Kneipe hattest und samstags aufm Fußballplatz ausgeschenkt hast?“
Schulz musterte die beiden scharfäugig und erwiderte mit einer gewissen Genugtuung in der Stimme: „Na, das halt. Ich schenke aus, alles mögliche, nur jetzt jeden Tag.“ Er lachte und zog eine Schublade an seinem Massivholzschreibtisch auf. Er griff hinein und holte drei Zigarren heraus. „Lange nicht gesehen, Jungs. Schön, dass ihr mal vorbeischaut. Hier, kubanische.“
Sven verzog das Gesicht. „Nein, danke.“ Peter griff beherzt zu.
„Nun“, sagte Schulz, während er sich und Peter die Zigarren anzündete und ein paar Mal genüsslich paffte, „eines schönen Tages ging ich gutgelaunt zu meiner Gaststätte, machte mich daran, das Essen zu kochen, bereitete das Tagesgeschäft vor, alles wie immer, als mir plötzlich schwindelig wurde und ich in Ohnmacht fiel. Als ich wieder zu mir kam, standen viele Leute um mich rum, alles Dorfnasen, die mir schielend und lallend auf die Schulter klopften und ins Gesicht, und die ekelhaft lachten, als ich mich wieder aufrappelte. Alle dachten, ich hätte zu viel gesoffen und keiner von denen hatte es fertiggebracht oder wäre auch nur auf die Idee gekommen, einen Krankenwagen zu rufen.“
Er inhalierte einen tiefen Zug Zigarrenrauch und ließ den Blick schweifen. Sven und Peter folgten gespannt seinem Blick.
„An diesem Tag wurde mir etwas klar. Er blies einen großen Rauchschwaden fast in Zeitlupe aus. Auf Menschen ist kein Verlass, außer auf dich selbst.“
Nach einer merkwürdigen Pause sagte Sven plötzlich: „Das ist die banalste Geschichte, die ich je gehört habe. Was hat das mit diesem Haus hier oder überhaupt mit irgendwas zu tun?“
Schulz schlug mit den Fäusten auf den Tisch. „Natürlich ist das banal, du Schlaumeier! Das ganze verfickte Leben ist banal. Aber was bist du blöd, mitten in meiner Geschichte sowas zu sagen? Gut, habe verstanden, dann kürze ich die Sache ab: An diesem Tag schwor ich mir, das stumpfe Dorfleben, den Fußball und das ganze undankbare Pack hinter mir zu lassen. Dann ließ ich meine abgewrackte Kneipe in diesen Hochglanztempel umbauen; die Gesichter der ganzen Klappspaten während der Bauarbeiten hättet ihr sehen sollen. Ich sag nur: strengste Geheimhaltung. Die Gerüchteküche war natürlich am Brodeln. Ob ich völlig übergeschnappt wäre und einen Schlachthof bauen würde, um meine eigenen Würstchen zu verkaufen, so wie der Hoeneß. Ha, diese Deppen. Ich lief indes nur noch incognito rum, um die Verunsicherung weiter voranzutreiben. Es ging sogar soweit, dass die Bauarbeiter bedrängt wurden, ihnen zu erzählen, was mit mir passiert sei. Die glaubten wahrscheinlich, dass ich entführt oder verstorben sei und dass auf meinem Grundstück eine riesige Beautyfarm entstehen würde. Jedenfalls“, holte Schulz mit einem breiten Grinsen aus, „jetzt sitze ich hier, seht mich an, von überall her strömen stumpfe Gestalten in mein Kunstkloster und bezahlen ein Heidengeld dafür, sich den Großteil des Tages anschweigen und mir ab und zu bei meinen Gesangsübungen zuhören zu dürfen. Denn ich verfolge seit jenem schmachvollen Tag der Erkenntnis nur ein Ziel, nämlich mein Leben voll und ganz auszukosten.“ Ein Windzug umwehte seine schüttere Mähne. Peter kniff die Augen zusammen, als würde er geblendet.
„Zwei Dinge sind es, die mich antreiben: Geld und die bedingungslose Hingabe an Classic Rock.“
Schweigen breitete sich im Raum aus. Nach einer gefühlten Ewigkeit sagte Sven: „Ach ja, war n schöner Auftritt vorhin. Das Lied kannte ich irgendwoher.“
„Ja, wer da keinen Ständer kriegt, hat kein Herz!“, erwiderte Peter und beide lachten hysterisch los.
„Wollt ihr euch über mich lustig machen? Nun gut, dann geht zurück auf euer Zimmer. Bald ist Abendbrot, es wird eine Durchsage geben. Noch irgendeinen Wunsch? Vielleicht ne Lebensweisheit?“
„Ja, Schnee wär jetzt geil!“, sagte Peter.
Verdutzt starrte Schulz ihn an. Dann fuhr er sich stürmisch durchs Haar und durchsuchte mehrere Schubladen. „Ihr nun wieder“, sagte er, „muss gucken, ob ich noch was da hab. Das Zeug ist nicht so leicht zu bekommen, wisst ihr.“
Sven und Peter schauten sich fragend an und signalisierten diskret, dass der alte Schulz einen an der Klatsche hatte.
„Ich würd noch ne Lebensweisheit mit auf den Weg nehmen, wenn’s recht ist.“, sagte Sven schmunzelnd.
„Also gut!“, entgegnete Schulz, nachdem er sich wieder geordnet hatte. „Hier die Weisheit des Tages: Bleibt unbeweibt! Die Fickerei bringt nur Probleme.
Und jetzt husch husch!“

Auf dem Weg zurück zum Zimmer wussten die beiden nicht, was sie sagen sollten. So liefen sie wortlos die sprechenden Gänge entlang, während draußen unbemerkt dicke, weiße Flocken vom Himmel fielen.