VI

Ein feiner Nebel zog über die Landschaft. Das Pochen und die gedämpfte Musik waren hier nicht mehr zu hören. Es war kalt und Sven beobachtete seinen Atem wie er weiß und schwerelos zum Himmel stieg. Die Geister der Nacht auf dem Weg ins Paradies. Oder in die Hölle, wenn oben unten ist. Überhaupt, dachte Sven, wenn eine Seele tatsächlich 23 Gramm wiegt, würde sie dann nicht nach unten fallen. Denn 23 Gramm sind 23 Gramm und 23 Gramm steigen nicht einfach so nach oben, es sei denn sie würden nach oben gezogen. Und wer gezogen wird, der geht nicht freiwillig. Und das eine Seele etwas wiegen muss, schien Sven gewiss. Schwer wiegt ein Leben auf der Seele, überlegte er und schwer fällt sie ins Paradies. Er lief mittlerweile wieder langsam in eine unbestimmte Richtung. Nachdem er für einen Moment stehengeblieben war, um sich auszuruhen und zu orientieren, meinte er, hinter sich noch immer die wütenden Rufe der bloßgestellten und um eine bedeutungslose Nacht betrogenen Männer zu vernehmen. Der Alkohol, der Rauch und der Rausch hatten seine emotionale Empfänglichkeit zum Vorschein gebracht und so wusste er selbst nicht ob er verängstigt, glücklich oder wütend war. Eine Vielzahl von Gefühlen drangen auf ihn ein, die sonst erfolgreich von einer kühlen Rationalität und beruhigenden Monotonie begraben waren. Am Horizont erschienen die ersten Strahlen der Sonne, die durch den Nebel gebrochen wurden und so, undeutlich und verschwommen auf dem bis dahin dunklen Grund der unbewegten Landschaft hervortraten.

Nach einer Weile erreichte Sven einen Hügel von dem aus er die Landschaft bis zum Horizont überblicken konnte. Die Welt schien zweigeteilt. Knapp über dem Boden zog der Nebel unbestimmt durch die Dörfer und über die Felder. Das Licht, von Wassertropfen und Staub tausendfach gebrochen, schien in den Wolken wie gefangen. Gischt die über meine Heimat zieht, dachte Sven und richtete seinen Blick weiter nach oben, wo die Sonne mittlerweile deutlich hervortrat und alles was über dem Nebel lag in ein orangefarbenes Licht hüllte. Sie steigt, dachte Sven. Sie steigt, bis sie wieder sinkt. Irgendwo im Wald zu seiner rechten stieß ein Vogel einen seltsamen Ruf aus und Sven wünschte sich seinen Namen zu kennen. Immer noch sah er auf die Welt zu seinen Füßen, wo der Nebel nun immer deutlicher von einem gelben Schein eingehüllt wurde. Ein alter Hahn stieß einen kraftlosen Schrei aus, das Läuten der Kirchenglocken. Spuren der Zivilisation. Sven spürte eine stille Euphorie, die schließlich von einer tiefen Ruhe abgelöst wurde. Er dachte daran, dass diese Landschaft und die ganze Welt eines Tages wieder menschenleer sein würden. Die Menschheit wäre vergangen doch die Erde würde immer noch existieren. Die weit entfernten Berge, die gebrochen und zerklüftet den Rand seines Gesichtsfeldes markierten, die nur von vereinzelten Lichtstrahlen beschienen Täler und der morgendliche Geruch des Taus auf den von Betrunkenen zertrampelten und von Autos platt gefahrenen Wiesen, überzeugten ihn von der eigenen Bedeutungslosigkeit und vielmehr noch von der befriedigenden Bedeutungslosigkeit der Menschheit. Irgendwann wird alles vergangen sein, dachte Sven, und unser Leben besitzt kein Gewicht.

Sven erinnerte sich an Peters Worte und seinen Plan und dachte, dass er vielleicht niemanden aus der Abwärtsspirale befreien aber doch der Menschheit ein Beispiel geben könnte. Aber wofür, überlegte Sven. Beispiel für den Untergang? Er wusste es nicht und wollte die Minuten der Erkenntnis und Erlösung nicht durch ernüchternde Gedanken vertreiben. Er setzte sich auf den Boden und lehnte sich an einen alten Baum, dessen einer Ast, vom Blitz getroffen zu Boden hing. Es fiel ihm schwer den Blick von der Landschaft abzuwenden, doch schließlich zog er seine Jacke enger und erinnerte sich an den Brief vom Arbeitsamt. Erregt durchwühlte er seine Jacken- und Hosentaschen, doch fand nichts außer einer handvoll Kronkorken und einer fast leeren Zigarettenschachtel. Er sprang auf, entdeckte sein Handy und seine Haustürschlüssel, warf sie abschätzig zu Boden und lief auf der Suche nach dem Brief zweimal ziellos um den Baum. Ohne etwas zu finden, setzte er seinen Lauf fort, übersah eine Wurzel und fiel unsanft zu Boden. Mühsam wälzte er sich auf den Rücken, blickte in den Himmel und lachte. Erst jetzt merkte er wie müde er war und begann sich zu fragen, was mit Peter geschehen war. Für einen Moment schloss er die Augen. Was wird wohl morgen noch von heute übrig bleiben, dachte Sven. Kurz darauf schlief er ein.