II

Sven wusste nicht was er machen sollte und fühlte sich überfordert. Er fuhr die Straße entlang, versuchte nichts zu denken und musste einsehen, dass auch das in gewissem Sinne wieder ein Gedanke war. Ein Vorhaben , überlegte er, auch wenn es unmöglich sein sollte oder erfolglos. Eine gescheiterte Handlung, die geplant ist aber nicht umgesetzt werden kann. Handlung ohne Aktion, die nur im Kopf vollzogen wird und deren Ausführung selbst dort scheitert. Und wieder ein Gedanke. Abrupt zog Sven die Bremse, schlitterte ein Stück auf der vom Frost überzogenen Straße und kam schließlich zum Stehen. Er befand sich mittlerweile auf einem kurzen Stück Feldweg, das die beiden Ortsteile des Dorfes verband. Um diese Uhrzeit gab es hier keine Menschen und alles was er in der Ferne erkannte, waren die vorbeiziehenden Scheinwerfer der Autos, die sich hinter der nächsten Kurve auflösten, und dann nach einer Weile durch Neue ersetzt wurden. Ein Stakkato von Licht und Dunkelheit und von Stille und Motoren. Sven schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Geräusche des frühen Abends und hörte ein seltsames Rauschen, ein tiefes Summen, dass er immer bemerkte, wenn er im Wald war, oder auf dem Feld, oder Nachts im Dorf, und nichts um ihn herum geschah und alles ganz ruhig war. Es war kein Lärm von Fahrzeugen oder Fabriken, auch wenn es sich manchmal mit einem Klang vermischte, der dem lauten und schrillenden Schlagen eines riesigen Hammers auf Metall glich. Doch das Rauschen wurde dadurch nur intensiver. Sven wusste nicht ob es ein alltägliches Geräusch war, das jeder hören konnte der allein war und die Augen schloss oder ob es sein eigenes, sein persönliches Rauschen war. „Es ist immer da, aber nicht in mir“, überlegte er. „und in der Stadt höre ich es nicht. Und im Winter in den Bergen höre ich es nicht. Unter dem Schnee schweigt alles.“, dachte Sven „unter dem Schnee schweigt die Erde, die sonst rauscht.“ In diesem Moment tauchte auf der Landstraße ein LKW auf, hupte und durchschnitt die abendliche Luft. Svens Gedanken gerieten in Unordnung und plötzlich sah er Mo’s Gesicht in der Dunkelheit vor sich. Plastisch, durchsichtig und aus sich selbst strahlend, stand es körperlos in der Luft, bevor es wieder verschwand.

Es hatte mehr als eine Stunde gedauert, bis vor zwei Tagen endlich die Sirenen des Krankenwagens vor dem Schmiedehammer erklungen waren. Dreimal hatte Sven in der Notzentrale angerufen, bis er jemandem verständlich machen konnte, was er wollte und wo er war. Die ganze Zeit über hatte er fluchend auf dem kalten Küchenboden gesessen, hatte Mo’s Kopf in seinem Schoß gehalten und dabei dessen unerbittliches Fiepsen und Röcheln ertragen. Fast unverständlich, doch mit einem bittenden, fast flehendem Ton, der die Worte nur erahnen ließ und dann doch wieder unmissverständlich und klar „Lass ma… Lass ma… Is schon gut…“ Sven hatte nicht verstanden, warum ausgerechnet er Mo an diesem Abend finden musste, warum er ausgerechnet an diesem Abend ein zweites Mal in den Schmiedehammer gegangen war und doch schien es auch jetzt noch unvermeidlich. Als der Rettungsdienst in die Wohnung gekommen war, hatte es nach all der Zeit des Wartens und der sinnlosen und überstürzten Anrufe etwas Unwirkliches und fast hätte Sven vergessen, dass Mo’s Kopf immer noch auf seinen Beinen lag. Die beiden Notärzte hatten sich so ähnlich gesehen, dass Sven sie, auch wenn er sich bemühte und argwöhnisch die Augen zusammen kniff, nicht unterscheiden konnte. Beide waren groß, mit langen Gesichtern und spitzem Kinn aus denen unregelmäßig einige Haare sprossen. Hellblaue Augen und über ihrer rechten Braue, fast parallel eine rötliche Narbe. Abwechselnd hatten sie Sven einige Fragen gestellt, doch Ihre Stimmen waren identisch, so dass er nie gewusste hatte, wer gerade sprach und beinahe hatte es geklungen, als redeten sie zur gleichen Zeit und das Ende der einen Frage akzentuierte nur den Beginn der nächsten. Sven erinnerte sich nur undeutlich an das Gespräch, das halb im Verborgenen lag, und ihm auch jetzt mit einigem Abstand und in seiner Undeutlichkeit seltsam und bizarr vorkam. „Ihr Freund hier ist der Besitzer der Bar?“ „Seit wann?“ „Hatte er in seiner Jugend jemals Nasenbluten?“ „Und Haarausfall?“ „Geschlechtsreife in welchem Alter?“ „Häufigkeit der sexuellen Aktivität?“ „Und bei Ihnen?“ Verständnislos hatte Sven sie angestarrt und sie angefleht Mo zu helfen und schließlich versucht ihnen etwas von Mo’s Worten mitzuteilen, von Gestalten die Mo manchmal sah und davon, dass Mo vielleicht nicht mehr leben wollte. „Selbstmord? Haben Sie ihn umgebracht? Nur Spaß.“, oder etwas Ähnliches war ihre Antwort und Sven hatte nur noch wütender gestottert und ihnen Mo’s Satzfetzen zusammenhanglos entgegengeworfen bis sie Sven mit übertriebenen, weit ausholenden Gesten und zugespitzten Gesichtszügen ihre Hände auf die Schulter gelegt, ihm ein paar Tabletten in die Hand gedrückt und zu einem Stuhl geführt hatten. „Wie zwei Schauspieler aus einem frühen Stummfilm bei denen jede Handlung wirkte wie Ihre eigene Parodie“, musste Sven jetzt denken. „Hören Sie“, hatten die beiden gesagt und ihre Worten hallten in Sven Ohren noch immer wider wie ein Echo. „Ihr Freund hier ist tot und das wahrscheinlich schon seit ner ganzen Weile. Nehmen Sie die erst mal, dann geht’s Ihnen schon besser und dann fahren wir Sie nach Hause. Und jetzt entspannen Sie sich erst mal. Sind ja ganz blass im Gesicht. Kein Wunder. Die Nerven. Die Nerven.“ Sven erinnerte sich nicht, was danach geschehen war. Irgendwann hatte er sich in seiner Wohnung sitzend wiedergefunden, neben ihm nichts als das beruhigende auf und ab von Peters Schnarchen, welches wie schon fast üblich die Zimmer von Svens Wohnung ausgefüllt und ihm die Zeit bis zum Morgen vertrieben hatte, als er im lokalen Radiosender erneut von Mo’s Tod erfahren hatte.

I

Sven blickte müde auf den Laptop-Kalender. Er starrte eine Weile leeren Blickes darauf und plötzlich riss es ihn aus dem Gedankenvakuum. Er war abgeschweift. Erneut versuchte er, sich auf das heutige Datum zu konzentrieren und dann fiel es ihm ein. Er wollte seine Mutter besuchen, mit dem Fahrrad, denn er hatte kein Auto, wozu auch, hier im Dorf, wo alles übersichtlich und fußläufig erreichbar ist; und überhaupt zu teuer.

Es dämmerte schon wieder draußen, obwohl es erst kurz nach 16 Uhr war. “Ach, gestern wurde auf Winterzeit umgestellt”, fiel ihm ein und so machte er sich alsbald auf zu seinem Elternhaus. Die Luft war kühl und der Fahrtwind ließ seine Hände unangenehm kalt werden, aber noch nicht so, dass es schmerzte. Es deutete alles auf einen frühen Wintereinbruch hin, der wohl zur Weihnachtszeit, in der es, seiner Meinung nach, kalt sein sollte, längst wieder abgeklungen sein wird. Kurz darauf erreichte er das Haus und sah seine Mutter in der Küche an der Spüle stehen, die zur Straßenseite gerichtet lag. Sie erwiderte seinen Blick mit einer Art vorbereiteter Vorfreude, die sogleich einer vorwurfsvoll-enttäuschten Grimasse wich, die Sven nur zu gut kannte. Wissend, mit welchen Worten er empfangen würde, öffnete er die Haustür und sah seine Mutter auf ihn zugehen.
“Junge, hast du immer noch kein Licht?”
“Och, Mutter. Das Thema hatten wir doch schon tausendmal. Ich hab gute Augen.”
“Ja, aber andere Leute vielleicht nicht. Und dann liegst du eines Tages unter irgendeinem Auto und denkst an meine Worte.”
“Als ob ich ausgerechnet dann an deine Worte denken würde… Außerdem hab ich das voll im Griff. An Kreuzungen und Seitenstraßen fahr ich langsamer und halte lieber an, wenn ein Auto von der Seite kommt und der Fahrer mir den Blickkontakt verwehrt. Manchmal bremsen die dann abrupt ab, fahren dann ein Stück neben mir her, lassen das Fenster runter und brüllen irgendwas wie: “Kein Licht, du Arschloch!” oder einfach “Licht!”; und ich denk nur: “Seid ihr eigentlich total bescheuert? Muss ich mir von so einem fetten, alten Bonzen sagen lassen, der in seiner Uralt-Mercedes-Drecksschleuder seit Jahrzehnten ungestraft den Planeten verpestet, dass ich Licht an meinem Fahrrad haben soll? Nur weil sich der blöde Spacko beim Bremsen erschrocken hat? Und was soll immer dieses ‘Licht’, ‘Licht’? Sind die Wichser blind? Hätte ich Licht am Fahrrad, würde ich es ja anmachen. Aber ein ordentliches Fahrradlicht ist teuer. Wenn du son Billigding mit kaufst, kannste ja jeden Tag Batterien wechseln und bezahlst dich nachher dumm und dämlich.”
Sven sah die glasigen Augen seiner Mutter und hielt inne. Mit weinerlicher Stimme sagte sie:
“Nun komm doch erstmal in die Stube.”
Svens Mutter brachte Kaffee und Kuchen und beide setzten sich an den Esstisch.
“Wie geht’s dir so, Mutter?”
“Ach, wie soll’s mir schon gehen? Alles gut, Junge. Hast du mittlerweile Arbeit gefunden.”
Sven versuchte mit aller Kraft, seine empörte Standardausrede zu vermeiden, die gewöhnlich bei dieser Frage aus ihm herausbrach. Stattdessen sagte er ruhig: “ Ich muss diese Woche noch zum Arbeitsamt. Vielleicht ergibt sich irgendwas.”
Du weißt, du kannst jederzeit wieder zu mir ziehen. Dann sparst du dir die Miete.”
“Ich weiß, Mutter, danke, aber wir hatten das Thema. Ich möchte alleine wohnen.”
Wortlos nippten beide an ihren Tassen und aßen ihren Kuchen auf.
“Nimm noch einen Lebkuchen, Sven.”
“Wohl eher Stirbkuchen, bei all dem Zucker”, dachte Sven und verfluchte seine Gedanken.
Wozu über den vielen Zucker meckern, der überall drin ist, wozu seine Mutter damit behelligen, warum überhaupt mir ihr reden, sie versteht ja doch nichts. Dieses kleinbürgerliche Leben, Selbstgefälligkeit. Darin sind sie und das Dorf versunken und daran wird hier einmal alles zugrunde gehen. Internet als Ausweg und gleichzeitig Tor zur Hölle. Wäre dieses Tor nur verschlossen geblieben oder an mir vorbeigegangen. Ich wünschte meine Geburt in einer anderen… ach, was soll’s.
“Hast du von der Sache im Schmiedehammer gehört? Der Barkeeper soll doch verstorben sein.”
Sven sprang von seinem Stuhl auf. “Keine Ahnung. Ich muss dann auch mal wieder. Bis nächste Woche. Und danke für den Kuchen.”

Sven schwang sich auf sein Fahrrad und radelte schnurstracks davon. Seine Augen wurden feucht, sei es durch den Fahrtwind oder die Gedanken an vorgestern Nacht. Er fuhr mitten auf der Straße, um die Autofahrer oder irgendjemanden zu provozieren, sodass man ihn anbrüllen möge und er zurückschreien könne, rausschreien, was schon viel zu lange in ihm rumorte, aber niemand tat ihm den Gefallen, böse auf ihn zu sein.

X

Bald war das Licht des Schmiedehammers nur ein verblassender Schimmer. Dunkelheit und Nacht senkten sich von allen Seiten auf Sven hinab und mit der Schwärze kehrten die Gedanken wieder, die nichts Schweres mehr in sich trugen aber jetzt noch dringender schienen als zuvor. Verzweifelt kämpfte er mit dem inneren Widerwillen zu jeder Art von menschlichen Kontakt und der Gewissheit um die Aussichtslosigkeit einer Konfrontation mit den unausweichlichen Fragen. „Warum Mo?“, dachte Sven „Und warum jetzt.“ Sven stand im Wald und hörte, wie der Wind durch die Spitzen der Bäume und das trockene Gras einer nahen Lichtung wehte. Der Ruf eines Vogels, vielleicht einer Eule und das Bedauern, die Stimmen der Vögel und die Namen der Bäume nicht mehr zu kennen. „Degeneration der Sprache.“, dachte Sven. „Alles was ich sagen kann, ist: Der Ruf eines Vogels in den nahen Bäumen. Mit der Natur verlieren wir die Sprache und dann die Zivilisation. Devolution des Homo Sapiens Sapiens, der nichts mehr erkennt und wieder zu grunzen beginnt. Hardware, Software, Twitter, Facebook, Snapchat, Tumblr.“ „Degeneration der Sprache“, überlegte Sven wieder. „Es war einmal eine Lerche, die in Zedern schlief.“

Svens Füße waren mittlerweile kalt und er zitterte leicht. Als er das Haus verlassen hatte, war er nur in die Schlappen geschlüpft, in denen er sonst den Müll rausbrachte. Er meinte Tau auf seinen Zehen zu spüren und wusste nicht wie lange er noch so dastehen würde. Er wollte nach Hause und in sein Bett und fürchtete sich vor Peters massigem Körper in seinem Badezimmer, wie er sich in letzter Zeit überhaupt vor Peter fürchtete. Peter der Allwissende, das Orakel und der Mörder, der ihm mit seiner Einwilligung nach dem Leben trachten würde. Abwärtsspiralen und Erlösung und ein atheistischer Märtyrer, der auf das Paradies hoffte. Sven schüttelte sich, wusste, dass der Kater an seinen Nerven zehrte und dass dem Übermut, wie immer die Angst folgte. „Los nach Hause.“, rief Sven und der Vogel und der Wind verstummten. Er wusste, dass es am besten wäre, endlich zu gehen und doch schien ihm der Gedanke unmöglich, am Morgen oder gegen Mittag aufzustehen, sich zu waschen, Zähne zu putzen, Frühstück zu essen, zum Arbeitsamt zu gehen, weiter zu leben. Der Alltag war ihm eine angenehme Routine und doch schien sie ihm in diesem Augenblick als skurrile Absurdität, die es zu analysieren galt, bis er hinter der Fassade ein nagendes Mysterium erkannte oder sie einfach ganz verschwand.

Alle Rationalität verflüchtigte sich und es schien Sven, als wäre etwas Wichtiges verloren, wenn er sich in diesem Moment nicht umdrehte und zum Schmiedehammer zurückkehrte. Ein physischer Zwang, der zwischen Brustkorb und Bauch zu lokalisieren war, der sich ausdehnte und kribbelte und drückte und stach und nicht platzte bis er Mo sah, der ihm dann alles erklären würde. Alles. „Alles.“, dachte Sven und seine Gedanken machten ihn traurig. Er fühlte sich lächerlich, stand im Wald, drehte sich um, und machte sich endlich wieder auf den Weg zu Mo. Die Kneipentür war nur angelehnt und aus dem Treppenaufgang zu Mos Wohnung, drang nur ein Geruch, wie alte Häuser oder alte Menschen. „Mo“, rief Sven, doch niemand antwortete ihm. Er bereute jetzt, dass er wieder hier war und fühlte sich allein in dem dunklen Gastraum, in dem nur ein altes Neoschild einsam summte. „Mo“, rief Sven noch einmal, zapfte sich ein Bier, zündete sich eine Zigarette und ging langsam die Treppe zu Mo’s Wohnung hinauf. Aus der Küche drang Licht und Sven sagte jetzt etwas leiser: „Hi Mo, sorry, vielleicht schläfst du schon. Du das ist jetzt ne echt doofe Idee aber ich dachte, vielleicht kann ich mal mit dir reden. Ach Scheiße, jetzt ist es ja auch schon 4. So ne Kacke, also wahrscheinlich bist du noch nicht wach oder nicht mehr auf und überhaupt, naja… also… eigentlich dachte ich das ist ne gute idee, also auch irgendwie ne doofe. Aber, ich weiß auch nicht.“ In der Küchentür blieb Sven erschrocken stehen. Das Glas und die Zigarette fielen ihm aus der Hand und er schrie:“Mo, Mo, Mo. Scheiße nochmal, Mo, Mo. Scheiße, Scheiße, Scheiße.“ Mo lag ausgestreckt auf dem Rücken und hielt sich eine Hand auf die Brust gepresst. Seine Augen waren weit aufgerissen, seine Gesichtszüge starr und angespannt. Aus seinem offenen Mund lief Speichel und seine Hose war nass. Sven rannte zu Mo und begann wild und unregelmäßig auf seine Brust zu drücken und versuchte ihn auf eine Seite zu drehen. „Mo verdammt, Mo verdammt, Mo, Mo, Mo….“ Verzweifelt durchsuchte er seine Taschen nach seinem Handy, ließ es fallen und wählte die erstbeste Nummer, die ihm einfiel. Nach zweimaligen Klingeln hörte er die Stimme einer jungen Frau: „Schönen guten Morgen. Dies ist die Auskunft der deutschen Telekom, wie kann ich Ihnen…“ „Peter, Peter“, brüllte Sven „Peter, Mo ist krank, oder bewusstlos oder tot. Krankenwagen, Verdammte Scheiße. Peter, wir brauchen, nen Krankenwagen für Mo.“ „Die Nummer der örtlichen Ambulanz ist die 112. Vielen Dank für Ihren Anruf und einen angenehmen Tag.“ „Verdammte Scheiße“, dachte Sven. Und dann noch einmal „Verdammte Scheiße, die Alte war durchgeknallt oder gut.“ Mit zitternden Fingern wählte er die genannte Telefonnummer und stammelte Wortfetzen in das Telefon., als neben ihm, ein Röcheln und leises Stöhnen erklang. „Mo, Mo, Mo, alles klar, man, alles klar? Scheiße, ich ruf dir nen Krankenwagen.“ „Lass, lass“, hustete Mo. „Bringt… Bringt doch Nichts. Mir reichts.“ Sven legte das Ohr dicht an Mo’s Mund. „Mir reichts.“, fiepste Mo in einem langgezogenen, hohen Ton „Man Sven, manchmal….. sehe ich so Menschen….. Mann…… und Frau zusammen……Wie Menschen….. Wie richtige Menschen stehen die da……. Doch die bewegen sich nicht……. Sind keine Geister…. richtige Menschen wie wir…… doch rühren sich nicht…… Stehen da, wie Gedanken……. und gucken. Und wie die gucken…… weiß ich…….. dass die keine…… Menschen sind. Haben so… nen Blick… und der Blick weiß alles. Keiner sieht die…. doch ich sehe die manchmal….. zwischen uns. Reden die ganze Zeit… und ich weiß, die wissen alles….. aber ich verstehe sie nicht…. niemals…. nur krächzen…. und krächzen. Und neulich…… hab ich was verstanden. Die haben gesagt…. ist gut Mo….. ist gut…. ist nur ne Geschichte…. von vielen.“ Sven hielt Mo’s Hand in seiner, hatte die Augen geschlossen und lauschte dem Krächzen, dass unaufhaltsam aus Mo’s Kehle quoll, versuchte etwas zu verstehen, doch verstand nichts. „Ist schon gut Mo.“, wiederholte er immer wieder, saß vor dem offenen Kühlschrank und wartete.

IX

Was für eine schwachsinnige Idee. Jetzt noch zu Mo. Da ist doch eh keiner mehr. Sven war angestachelt von der Tatsache, dass er zu dieser späten Stunde nochmals rausging. Es widersprach seinem Wesen. Noch nie war er zweimal in einer Nacht im Schmiedehammer und noch nie hatte er sich dazu überwunden, einen derartigen Aufwand zu betreiben, um jemanden wegen einiger kaum relevanter Fragen bezüglich Arbeitsamt und griechischer Gottheiten zu behelligen. Doch er war sich sicher, dass die Begegnung Antworten parat hielt, die ihm von großem Nutzen sein würden. Feuer und Ekstase. Nicht gerade Begriffe, die man mit ihm in Verbindung bringen würde.

Ignoriere den Drachen
Erschlag zuerst die Wachen

Der Geruch von etwas Schönem in seiner Nase. Wovon? Jetzt mache ich mir mal ernsthaft Gedanken darüber. Von Bäumen. Wie geschnitten Bäume, Baumstämme. Baumstümpfe? Nasses Holz. Aber nichts Totes konnte so schön riechen. Oder sich im Tode Befindliches. Der Wald lebt, und so der Baum mit seinen Wurzeln.

Mystischer Leichtsinn
Quell der Gedanken
Im Unterholz ranken
schwankende Träume
still vor sich hin.

Wie am Ende, so zu Beginn
Menschen sich zanken
Die gesunden und kranken
Tief rankende Bäume
Pan, oh sieh, wer ich wirklich bin

Harz! Ja, das Baumblut. Es duftet nach Unsterblichkeit, aber wie kann das sein? Harz riecht gut, Hartz IV stinkt. Warum wollte er ausgerechnet mit Mo über solche Dinge sprechen? Er mochte den Umgang mit Menschen im Allgemeinen nicht sonderlich, aber Mo? Noch nie hatte er sich mehr als zwei Sätze allein mit ihm unterhalten. Immer nur im Schmiedehammer, mit anderen; und wenn Peter mal aufs Klo ging und er alleine mit Mo zurückblieb – kein Wort oder nur etwas völlig Belangloses. Er war kein Typ für diese Bargespräche wie sie andere führen konnten, z. B. Hannes oder Stammgäste, die sich mir nichts dir nichts an den Tresen setzen, eine Zigarette anzünden und stundenlang den Barkeeper mit ihren Lebensgeschichten bedienen. Die Hauptaufgabe eines Barkeepers ist wohl, diesen Geschichten zuzuhören und den Eindruck zu vermitteln, dass man versteht, was der andere meint und das Gespräch am Laufen zu halten. Wie man das glaubwürdig anstellt, war Sven ein Rätsel.

Übe Rache an seinen Gesandten
Geh über die Leichen seiner Verwandten

Sven verließ den Waldweg und erreichte die Straße zum Schmiedehammer. Von weitem sah er Licht in der Küche brennen. Er atmete tief durch. Blöde Idee. Die Tür war geöffnet, kein Gast mehr da. “Mo?”, rief er vorsichtig. Keine Antwort. Er wusste, dass Mo im ersten Stock des Gebäudes wohnte und blickte die Treppe herauf. “Mo?” Wirklich eine saudämliche Idee. Als er die ersten Schritte hinauf zu Mos Wohnung tat, hörte er ein lautes Poltern aus der Küche. “Scheiße!”, murmelte Sven und stürzte so schnell es ging die Treppe herunter zur Tür hinaus.

Mach auch vor seinen Kindern nicht Halt
Tu wie befohlen, Erlösung kommt bald.