XI

Alles in seinem Kopf war klar und die Bilder und Erinnerungen waren deutlich, gestochene Standbilder einer geträumten Nacht, die sich aneinanderreihen wollten, doch in diesen Momenten unsinnig zusammenstießen und zerbrachen. Was blieb war eine berauschende Leere, die jegliche Rationalität verloren hatte, und in deren Vollkommenheit sich Sven für den Moment geborgen fühlte. Geborgen und euphorisiert, wie an dem Tag nach einer durchzechten Nacht, stinkend und erschöpft, in der Gewissheit, dass sich im verkaterten Anblick die ganze Absurdität und Nichtigkeit menschlichen Lebens und Strebens widerspiegelt. Sven war alt genug, um zu wissen, dass diese Phase für gewöhnlich nicht lange andauerte, spätestens nachdem die letzten Glückshormone verschwunden waren, käme die Müdigkeit und auf sie würde die Nervosität folgen, Zittern der Finger, Bewusstseinstrübung, Nervenschwäche. Doch das wäre dann ein richtiger Kater und kein Gefühlskater, überlegte Sven, und konnte sich nicht erinnern, gestern überhaupt etwas getrunken zu haben, bis auf die zwei Bier bei Peter.

Zurück in seiner Wohnung legte Sven die Brötchen auf den Tisch und stellte die Milch in den Kühlschrank. Er spürte, wie sich die Leere langsam aber stetig mit einer abstoßenden Mischung aus Verwirrung und Alltag füllte. Gern hätte er jeglicher Art von Kater Vorsorge geleistet und sich ein Bier aufgemacht, doch mehr noch als unbestimmte Gefühle, für die es keine Heilmittel gab, hasste er Klischees. Arbeitslos und unorganisiert und dann noch Bier zum Frühstück, was nützt es da noch, wenn ich laufe, dachte Sven. Aber vielleicht sollte ich mich von sozialen, oder besser asozialen Verhaltensregeln emanzipieren. Bier zum Frühstück, nach dem Mittagessen laufen und dann Mittagsschlaf, überlegte er, so müsste es doch gehen. Mit einem Zischen öffnete er das Bier und wurde sich bewusste, dass er früher oder später über die letzte Nacht nachdenken sollte. Doch wozu eigentlich. Wahrscheinlich hatte er Sex mit einer Frau aus einem früheren Traum oder einer Erinnerung, definitiv Sex mit einer Fiktion. Wenn ich mich im echten Leben mit meiner Phantasie paare, muss das doch irgendwas großes für mein Leben bedeuten, dachte Sven. Peters Negativspirale als Positivspirale für das Schöpferische Genie. Wahrscheinlich, sollte man sich Zeit nehmen, eine Weile ganz genau selbst beobachten, und alle Veränderungen gründlich katalogisieren. So saß Sven geraume Zeit vor dem Spiegel und sah sich aufmerksam dabei zu, wie er sein Bier trank, als schließlich sein Handy klingelte und er erschrocken und überstürzt antwortete. „Hallo, hallo, hallo, hallo?“ Die Stille war vollkommen und erst da bemerkte Sven, dass er eine neue Nachricht von Peter hatte:

„Muss dir was Wichtiges erzählen, treffen uns heute bei mir oder bei dir. Lass uns danach mal was trinken gehen. Ist glaub ich ein guter Tag zum Trinken.“

Und darunter:

„Heute Nacht war ich Bruce Willis und hatte schon zwei oder dreimal die Welt bzw. eine Schule in der ich Hausmeister war gerettet. Diesmal die versuchte Flucht in meinem Auto. Die Finger zitterten und schließlich, bevor ich den Schlüssel herumdrehen konnte, war ein Panzer mit Dinosauriersoldaten eingetroffen. Hauptsächlich Flugsaurier. Warum überhaupt Saurier? Unser Dorf war schnell gefallen, doch der Weihnachtsmarkt im Nachbarort hielt den Widerstand aufrecht. Überall bewaffnete (menschliche) Soldaten, die patroullierten. Der Ort hatte auf einmal riesige weiße Stadtmauern und sah aus wie Dubrovnik.“

Sven war etwas überrascht, wollte aber auch nicht zu sehr ins Detail gehen. Er kannte die Tücken und Risiken von Kurznachrichten. Lange überlegte er nach einer passenden Antwort, schrieb schließlich: „Ok, heute um 8 bei mir. Bis dann“ und übersah in seiner Genugtuung, dass Peter ihm die Nachricht vor 5 Jahren geschickt hatte.