VIII

Die kleine Stadt lag schwarz und lautlos zu seinen Füßen, als er die schmalen Straßen entlangging, die in nahezu unsichtbare Feldwege übergingen; Abkürzungen, die man kennt, wenn man sein ganzes Leben am selben Ort verbracht hat. Seit frühester Kindheit war er mit Peter befreundet, doch an Tagen wie diesem konnte ihm dieser nicht fremder sein. Obgleich er wusste, dass Peters Ausflüge ins Metaphorische nur Gedankenexperimente waren, hinterließen sie doch meistens einen bitteren Nachgeschmack bei ihm.

Was wusste er eigentlich über die Welt? Die nächtliche Stille der Kleinstadt drehte die Lautstärke in seinem Gehirn auf. Gedanken schweiften darin und wurden an den knochigen Gefängniswänden brutal abgeschmettert, um wieder in dem dunklen Verlies zu verschwinden, aus dem sie kamen. Manchmal wähnte er von seinen Gedanken wie von Findlingen in einem Teich, in dem aus unerfindlichen Gründen stetig schwerer Wellengang herrscht. Einige große Findlinge stechen aus der Wasseroberfläche hervor – Erinnerungen, die sich tief in seinem Gedächtnis manifestiert haben – andere sind aufgrund des Wellenganges nur ab und zu sichtbar – Erinnerungen, die hin und wieder an die Oberfläche des Bewusstseins reichen, und wieder andere liegen so tief versunken, dass kein noch so starker Wellengang sie aufzudecken vermag. Oder gleichen diese nicht viel eher Truhen voll eingesperrter Erinnerungen, unliebsam, verdrängt – verdammt, ihr unerwünschtes Dasein unentdeckt auf dem Teichesgrund zu fristen? Sven dachte in dörflichen Maßstäben, sein Meer war ein Teich und dieser war bereits zu groß für ihn.

Sven hatte ungefähr die Hälfte des Weges bis zu seiner Wohnung zurückgelegt, als er sich unbedarft seines Alters bewusst wurde. 25 Jahre alt war er jetzt. Angst vor dem Altern erfasste ihn plötzlich, so sehr, dass er sich ausmalte, wie er später an Demenz erkranken und einsam, ohne jegliche Erinnerung an sein früheres Leben zugrunde gehen würde. Denn der Wellengang in seinem Gehirn wird Jahr für Jahr stärker. Globale Erwärmung des Bregens. Die großen Findlinge, sozusagen seine Premium-Erinnerungen, sind nämlich auch der Witterung ausgesetzt und erodieren durch konstante Umspülung, werden glatt und flach, verlieren an Wert. Unten am Grund rappelt es in den Truhen, denn die eingesperrten Gedanken wollen sich befreien und so muss er doch ständig an sie denken, obgleich er sich ihr Bild nicht vor Augen rufen will. Und in diesem konstanten Wettkampf der Gedanken, dieser flüchtigen, unwillkürlich aufflackernden Brut einst gemachter Erfahrungen, deren Geburt und Auslöschung er nicht vollends Herr sein kann, spiegelt sich seine ganze widersprüchliche Existenz zwischen Realität und Erwartungshaltung. Hinzu kommen die ständigen Eindrücke von außen, Peters wilde Theorien, traurige Nachrichten aus aller Welt, ein Katzenvideo im Internet, das er gar nicht gesucht hat; tausend wirre, sich widersprechende Informationen.

Just macht sich Erleichterung in ihm breit, darüber, dass er hier in dieser kleinen Stadt des Nachts in absoluter Einsamkeit, begleitet nur von den Geräuschen der unschuldigen Natur, seines Weges geht und ihm zumindest für den Moment die Informationsflut erspart bleibt. Eigentlich will ich gar nicht weg von hier, dachte Sven. Und überhaupt geht es mir doch alleine ganz gut. Von unten sah er die Wohnung zu seiner Überraschung in hellem Licht stehen. Er zögerte, ging dann aber doch vorsichtig in den zweiten Stock und schloss langsam die Tür auf.