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„Körperlicher Schmerz macht dir also Angst, ja? Na, wie gefällt dir das?“
Er lag mit offenen Augen im Bett und halluzinierte im Halbschlaf vor sich hin. Die Frau krümmte sich vor Schmerzen, denn er drosch nur so auf sie ein. Dann erwachte er kurz, war aber zu müde, um aufzustehen, und schloss die Augen wieder. Im Flur des Arbeitsamtes flimmerte eine LED-Lampe. Niemand dort, nur ein grässliches Summen, das sein Hirn marterte. Spiegel an jeder Wand, darin die Umrisse der Frau, rotstichig, nebulös. Er fühlte sich unwohl, soweit das im Traum möglich war, ein rothaariges Mädchen klettert aus dem Spiegel und kriecht auf hin zu. Moment mal, dachte Sven und riss die Augen auf. Das ist doch jetzt albern. Schwungvoll stemmte er seinen Körper in eine aufrechte Position, rieb sich die Lider, streckte seine Glieder und lief so der Versuchung des Wiedereinschlafens zuwider.

Er reimte wirklich sehr gerne, zumeist behielt er es aber für sich, schrieb es auch nur selten auf und vergaß daher die meisten seiner kleinen Poeme, von denen einige enormes Potential hätten, wie er fand, und so bedauerte er seine Vergesslichkeit oder vielmehr die lästige Angewohnheit, sich keine Notizen zu machen und auch aus dem tausendsten gescheiterten Versuch, den Gedanken bis zum rettenden Notizbuch im Gedächtnis zu behalten, nicht schlauer zu werden. Abgelenktheit und Müßiggang, das waren seine Schwächen. Ihn interessierte immer alles auf einmal, doch gleichzeitig war er zu faul, einer Sache konsequent hinterherzugehen. Um Geistesblitze besser aufzeichnen zu können, hatte er sich ein Tonbandgerät gekauft, welches er aber so gut wie nie mit sich führte. Irgendwie unwohl war ihm bei dem Gedanken, so etwas ständig am Körper zu haben. Und wie sollte er es auch an sich tragen? Er hasste unnötigen Ballast und leider auch seine eigene Stimme. Je mehr man an sich trägt, desto eingeschränkter ist man. Es war ihm ein großes Rätsel, wie vor allem Leute in Großstädten mit allerlei Zeug und Behang, Frauen in unbequemen Schuhen und Riesenabsätzen und dem ganzen Klimbim herumlaufen konnten. Man müsste doch jederzeit bereit sein, um sein Leben zu rennen, glaubte er.

Sven beschloss, zum Bäcker zu gehen. Das tat er fast jeden Morgen, um dem Vorwurf seiner Mutter zuvorzukommen, dass er nicht oft genug vor die Tür gehen würde. Manchmal rief sie ihn besorgt an, ob er schon an der frischen Luft gewesen sei und warum er sie nicht einmal besuchen würde, obwohl sie ja nur knapp einen Kilometer voneinander entfernt wohnten. An diesem Morgen nieselte es leicht und das Dorf lag im kargen Grau miesepetrigen Dunstes eingemummt und unscheinbar am Fuße des Mittelgebirges, dessen Name außerhalb des Dorfes niemand kannte oder auch nur im entferntesten interessierte. Würde die Dunstglocke das Dorf heute einfach verschlingen, würde wohl niemand etwas davon bemerken, geschweige denn bedauern. Die Straße war menschenleer, als ein Jogger mit Kopfhörern und Trinkgürtel schnaufend an Sven vorbeilief. Angewidert schaute er ihm nach, denn er verachtete Jogger. Dabei lief er selbst sehr gerne, unterschied aber strikt zwischen Laufen und Joggen. Man läuft erst ab einer gewissen Geschwindigkeit. Jogger hingegen sind Schnecken, Kriechtiere, die eine heuchlerische Schleimspur nach sich ziehen. Ob, dieser Logik folgend, nicht jeder einmal als Jogger angefangen hätte? Nein, entweder man meint es ernst, oder man joggt. So einfach war das für ihn.

Beim Bäcker dann das übliche: zwei Brötchen, eins hell, eins dunkel, und eine Glasflasche Kakaodrink, seiner Meinung nach ein Relikt aus einer anderen Zeit. Drei Cent Trinkgeld, was da wohl über die Jahre zusammengekommen ist? Die Bäckersfrau bedankte sich schon gar nicht mehr dafür. Er seufzte und ging wieder nach Hause. Schelmisch grinsend realisierte er die Ereignisse der letzten Nacht. Oh, ihr Gedanken! Wo treibt ihr euch nur rum?