XIV

Es war eine dieser Spätherbstnächte: dunkel, feucht, mucksmäuschenstill. Durch sie hindurch torkelten zwei angeheiterte Gestalten ihres Weges zur einzig passablen Kneipe des Ortes, euphorisiert schwatzend, kichernd und mit hochroten Köpfen.

„Ich laufe, also bin ich.“, hören wir Sven sagen. „Ich laufe, also bin ich.“, so als wäre es eine Eingebung. Seine Stimme überschlug sich leicht bei der Wiederholung des Satzes, was wohl auf eine Reaktion der Frischluftzufuhr in seinen absinthgeschwängerten Blutbahnen zurückzuführen ist.

„Bescheuert bis du!“, entgegnete Peter intuitiv.

Sie betreten den ‚Schmiedehammer’, die Kneipe mit dem überzogen urigen Namen, der trotz oder eher aufgrund seines Namens kaum Besucher anlockt.

„Na, was läuft, ihr Turteltäubchen?“, rief ihnen der Aushilfsbarkeeper beim Eintreten entgegen. Sven schaute Peter an, unterdrückte einen Lachanfall und prustete heraus: „Ich laufe!“ Johlend setzten sie sich an einen Tisch und gackerten Unverständliches vor sich hin, als Mo, wie alle den Aushilfsbarkeeper nannten, nach ihrem Getränkewunsch fragte.

„Zwei Bier und zwei Tequila, bitte. Aber eisgekühlt, ja?“

Mo nahm die Bestellung schweigend entgegen. Die Kneipe war fast leer. Nur ein weiterer Tisch war besetzt von Skat-Rentnern und an der Bar saß ein einsamer Mann, der gelegentlich an seinem Bier nippte und rauchte. Sven und Peter kannten ihn vom Sehen, wahrscheinlich war er jeden Tag hier. Im CD-Spieler lief irgendeine Uralt-Partyrock-Compilation auf Zimmerlautstärke. Man hörte, wie Mo die Biere und Tequilas auf ein Tablett stellte und damit langsam zu Sven und Peter schlurfte. Er zog das linke Bein ein bisschen nach und machte immer ein grimmiges Gesicht beim Gehen. Sven vermutete, dass bei ihm linkes Bein und linke Gesichtshälfte direkt miteinander verbunden seien und er deshalb beim Gehen Grimassen zöge.

„Dankeschön!“, sagten Sven und Peter unisono, während Mo wortlos von dannen zog.
“Hast du gesehen, wie der schon wieder drauf ist?”, fragte Sven.
“Wie immer halt.”, erwiderte Peter gleichgültig.
“Irgendwie muss ich bei seinem Anblick an diesen auto-, äh, autkro-, na diesen asozialen Erzähler denken.”
“Auktorial!”, warf Peter ein. “Du bist asozial.”
“Mo, der asoziale Barkeeper. Die ganze Zeit kein Bock und immer voll schlecht drauf.” Sven lachte laut auf.

Peter, der noch nicht betrunken genug war, um auf derartige Albernheiten einzugehen, wendete den Blick Richtung Bar, wo Mo sich gerade am Hintern kratzte. Er spuckte reflexartig das Bier aus seinem Mund zurück ins Glas, woraufhin beide in schallendes Gelächter ausbrachen.

Mo und die Skat-Rentner blickten nun argwöhnisch auf.

“Hast du Murmeln da?”, rief Sven Mo zu, als beide sich kurzzeitig beruhigt hatten. “Wir wollen murmeln!”.

Mo war die Sache sichtlich unangenehm, aber er war verantwortlich für den Kneipenfrieden, wenn auch nur zur Aushilfe. “Reißt euch mal ein bisschen zusammen hier.”, sagte er und sah seine Aufforderung im Winde verwehen, da die beiden, mit einer Hand auf den Tisch klopfend und mit der anderen den Bauch vor Lachen haltend, diese nicht vernommen haben.

“Jetzt passt mal auf, ihr Kasperköppe. Hier sind auch noch andere Gäste. Seid ihr auf Drogen oder was?”

“No, Mo!”, brach es aus Sven heraus. “Wir haben Durst. Mach mal noch zwei Bier und zwei Kurze.”

XII

Sven schaute aus dem Fenster. Der graue Dunst hatte sich zu einem Schleier ausgebreitet, der das Dorf eingehüllt hielt. Wenn heute irgendetwas Schreckliches hier passierte, keiner würde es bemerken, dachte Sven und wehrte in Gedanken Peters Verlangen ab, von ihm umgebracht zu werden. Es war genau dieses Wetter, das ihn eigentlich aufmunterte, solange er keine Verpflichtungen hatte. Und solche waren nicht in Sicht. Darum nahm er sich vor, den ganzen Tag über die Wohnung nicht zu verlassen, die Welt draußen ihrem Schicksal zu überlassen und erwartete sehnsuchtsvoll den Anbruch der Nacht.

Zehn nach Acht klingelte es an seiner Tür. Sven kam gerade aus der Dusche und wollte sich eigentlich was zu essen machen, als ihm klar wurde, dass Peter vor der Tür stehen musste. Er hatte so ziemlich den ganzen Tag Playstation gespielt und einige schwierige, zeitintensive Missionen geschafft, daher störte ihn der verdrängte Besuch nicht sonderlich.

„Hallo Peter!“
„Hallo Sven! Deine Haare sind nass.“
„Ja, ich war gerade duschen. Komm doch rein. Deine Haare sind aber auch nass.“
„Regnet.“
„Ach so, ja, komisches Wetter heute. Aber ich mag das.“
„Ja, super Zockwetter.“
„Genau.“

Sie gingen ins Wohnzimmer, wo noch die Spuren des durchspielten Nachmittags zu sehen waren.

„Ein ganz schöner Saustall hier!“, sagte Peter.
„Das musst ausgerechnet du sagen!“, entgegnete Sven. „Ich hatte auch eigentlich nicht mit dir gerechnet. Mal ehrlich, was schickst du mir für bekloppte SMS?“
„Welche SMS? Hab ich doch gar nicht. Du hast geschrieben, ich soll um 8 bei dir sein.“
„Ja, stimmt, deine Nachricht war vor 5 Jahren. Irgendwas mit Dinosauriern auf dem Weihnachtsmarkt in Dubrovnik. Und das heute ein guter Tag zum Trinken wäre. Ich denke, davon bist du wohl nach wie vor überzeugt, oder?“
„Ja klar, ist ja auch scheißegal, ich wäre wahrscheinlich eh vorbeigekommen. Hast du ein Bier?“

Sven ging an den Kühlschrank und entnahm zwei Bier. Überrascht erblickte er die Schokomilch und freute sich, dass er morgen keine kaufen brauchte.

„Und? Was lag an heute?“, fragte Sven.
„Nichts, wie immer eigentlich.“
„Hast du auch gezockt, ja?“
„Ja, ein bisschen. Bei dem Wetter.“
„Bei so einem Wetter bin ich froh, jetzt und hier zu leben.“
„Jetzt und hier?“
„Ja, ich meine in der heutigen Zeit. Mit einem Dach überm Kopf und allen Annehmlichkeiten. Weder Kälte, noch Hunger, noch Durst oder sonst irgendwas können mir was anhaben. Da hatten die Leute früher in ihren feuchten Höhlen bestimmt nichts zu lachen.“
„Feuchthöhlenspastis!“, entgegnete Peter ernst.
„Nun sei nicht gleich wieder so negativ.“, erwiderte Sven mit einem Hauch Ironie in der Stimme, von der er glaubte, dass Peter sie heraushören könnte, waren sie doch so ziemlich auf einer Wellenlänge, was gegenseitige Kommunikation betraf.
„Die Geschichte mit dem Arbeitsamt lässt mich nicht los, fuhr Sven fort, nachdem beide an ihrer Flasche genippt hatten. „Gestern hatte ich im Traum Sex mit der Rothaarigen vom Arbeitsamt. Wir hatten tiefgründige Gespräche geführt und so, und dann ist es einfach passiert. Dabei weiß ich nicht mal, ob es diese Frau gibt, mir ist immer noch nicht klar, ob ich überhaupt auf dem Amt war und diese Frau dort arbeitet, oder ob all das ein Produkt meiner Fantasie ist.“
„Traumsexnutte!“, sagte Peter in einem Anflug von Resignation.
„Weißt du, ich mache mir schon Sorgen wegen dieser Geschichte. Mein Leben verläuft in einigermaßen geordneten Bahnen, da sollte so was nicht passieren. Nicht, dass ich nicht Herr der Lage wäre, aber irgendwie ist das alles komisch.“
Nach einer kurzen Pause sagte Peter plötzlich: „Vielleicht hilft dir das ja auf die Sprünge. Habe ich unten aus dem Briefkasten gezogen.“
Verdutzt blickte Sven auf den Brief mit dem Absender: Arbeitsamt.

X

„Körperlicher Schmerz macht dir also Angst, ja? Na, wie gefällt dir das?“
Er lag mit offenen Augen im Bett und halluzinierte im Halbschlaf vor sich hin. Die Frau krümmte sich vor Schmerzen, denn er drosch nur so auf sie ein. Dann erwachte er kurz, war aber zu müde, um aufzustehen, und schloss die Augen wieder. Im Flur des Arbeitsamtes flimmerte eine LED-Lampe. Niemand dort, nur ein grässliches Summen, das sein Hirn marterte. Spiegel an jeder Wand, darin die Umrisse der Frau, rotstichig, nebulös. Er fühlte sich unwohl, soweit das im Traum möglich war, ein rothaariges Mädchen klettert aus dem Spiegel und kriecht auf hin zu. Moment mal, dachte Sven und riss die Augen auf. Das ist doch jetzt albern. Schwungvoll stemmte er seinen Körper in eine aufrechte Position, rieb sich die Lider, streckte seine Glieder und lief so der Versuchung des Wiedereinschlafens zuwider.

Er reimte wirklich sehr gerne, zumeist behielt er es aber für sich, schrieb es auch nur selten auf und vergaß daher die meisten seiner kleinen Poeme, von denen einige enormes Potential hätten, wie er fand, und so bedauerte er seine Vergesslichkeit oder vielmehr die lästige Angewohnheit, sich keine Notizen zu machen und auch aus dem tausendsten gescheiterten Versuch, den Gedanken bis zum rettenden Notizbuch im Gedächtnis zu behalten, nicht schlauer zu werden. Abgelenktheit und Müßiggang, das waren seine Schwächen. Ihn interessierte immer alles auf einmal, doch gleichzeitig war er zu faul, einer Sache konsequent hinterherzugehen. Um Geistesblitze besser aufzeichnen zu können, hatte er sich ein Tonbandgerät gekauft, welches er aber so gut wie nie mit sich führte. Irgendwie unwohl war ihm bei dem Gedanken, so etwas ständig am Körper zu haben. Und wie sollte er es auch an sich tragen? Er hasste unnötigen Ballast und leider auch seine eigene Stimme. Je mehr man an sich trägt, desto eingeschränkter ist man. Es war ihm ein großes Rätsel, wie vor allem Leute in Großstädten mit allerlei Zeug und Behang, Frauen in unbequemen Schuhen und Riesenabsätzen und dem ganzen Klimbim herumlaufen konnten. Man müsste doch jederzeit bereit sein, um sein Leben zu rennen, glaubte er.

Sven beschloss, zum Bäcker zu gehen. Das tat er fast jeden Morgen, um dem Vorwurf seiner Mutter zuvorzukommen, dass er nicht oft genug vor die Tür gehen würde. Manchmal rief sie ihn besorgt an, ob er schon an der frischen Luft gewesen sei und warum er sie nicht einmal besuchen würde, obwohl sie ja nur knapp einen Kilometer voneinander entfernt wohnten. An diesem Morgen nieselte es leicht und das Dorf lag im kargen Grau miesepetrigen Dunstes eingemummt und unscheinbar am Fuße des Mittelgebirges, dessen Name außerhalb des Dorfes niemand kannte oder auch nur im entferntesten interessierte. Würde die Dunstglocke das Dorf heute einfach verschlingen, würde wohl niemand etwas davon bemerken, geschweige denn bedauern. Die Straße war menschenleer, als ein Jogger mit Kopfhörern und Trinkgürtel schnaufend an Sven vorbeilief. Angewidert schaute er ihm nach, denn er verachtete Jogger. Dabei lief er selbst sehr gerne, unterschied aber strikt zwischen Laufen und Joggen. Man läuft erst ab einer gewissen Geschwindigkeit. Jogger hingegen sind Schnecken, Kriechtiere, die eine heuchlerische Schleimspur nach sich ziehen. Ob, dieser Logik folgend, nicht jeder einmal als Jogger angefangen hätte? Nein, entweder man meint es ernst, oder man joggt. So einfach war das für ihn.

Beim Bäcker dann das übliche: zwei Brötchen, eins hell, eins dunkel, und eine Glasflasche Kakaodrink, seiner Meinung nach ein Relikt aus einer anderen Zeit. Drei Cent Trinkgeld, was da wohl über die Jahre zusammengekommen ist? Die Bäckersfrau bedankte sich schon gar nicht mehr dafür. Er seufzte und ging wieder nach Hause. Schelmisch grinsend realisierte er die Ereignisse der letzten Nacht. Oh, ihr Gedanken! Wo treibt ihr euch nur rum?

VIII

Die kleine Stadt lag schwarz und lautlos zu seinen Füßen, als er die schmalen Straßen entlangging, die in nahezu unsichtbare Feldwege übergingen; Abkürzungen, die man kennt, wenn man sein ganzes Leben am selben Ort verbracht hat. Seit frühester Kindheit war er mit Peter befreundet, doch an Tagen wie diesem konnte ihm dieser nicht fremder sein. Obgleich er wusste, dass Peters Ausflüge ins Metaphorische nur Gedankenexperimente waren, hinterließen sie doch meistens einen bitteren Nachgeschmack bei ihm.

Was wusste er eigentlich über die Welt? Die nächtliche Stille der Kleinstadt drehte die Lautstärke in seinem Gehirn auf. Gedanken schweiften darin und wurden an den knochigen Gefängniswänden brutal abgeschmettert, um wieder in dem dunklen Verlies zu verschwinden, aus dem sie kamen. Manchmal wähnte er von seinen Gedanken wie von Findlingen in einem Teich, in dem aus unerfindlichen Gründen stetig schwerer Wellengang herrscht. Einige große Findlinge stechen aus der Wasseroberfläche hervor – Erinnerungen, die sich tief in seinem Gedächtnis manifestiert haben – andere sind aufgrund des Wellenganges nur ab und zu sichtbar – Erinnerungen, die hin und wieder an die Oberfläche des Bewusstseins reichen, und wieder andere liegen so tief versunken, dass kein noch so starker Wellengang sie aufzudecken vermag. Oder gleichen diese nicht viel eher Truhen voll eingesperrter Erinnerungen, unliebsam, verdrängt – verdammt, ihr unerwünschtes Dasein unentdeckt auf dem Teichesgrund zu fristen? Sven dachte in dörflichen Maßstäben, sein Meer war ein Teich und dieser war bereits zu groß für ihn.

Sven hatte ungefähr die Hälfte des Weges bis zu seiner Wohnung zurückgelegt, als er sich unbedarft seines Alters bewusst wurde. 25 Jahre alt war er jetzt. Angst vor dem Altern erfasste ihn plötzlich, so sehr, dass er sich ausmalte, wie er später an Demenz erkranken und einsam, ohne jegliche Erinnerung an sein früheres Leben zugrunde gehen würde. Denn der Wellengang in seinem Gehirn wird Jahr für Jahr stärker. Globale Erwärmung des Bregens. Die großen Findlinge, sozusagen seine Premium-Erinnerungen, sind nämlich auch der Witterung ausgesetzt und erodieren durch konstante Umspülung, werden glatt und flach, verlieren an Wert. Unten am Grund rappelt es in den Truhen, denn die eingesperrten Gedanken wollen sich befreien und so muss er doch ständig an sie denken, obgleich er sich ihr Bild nicht vor Augen rufen will. Und in diesem konstanten Wettkampf der Gedanken, dieser flüchtigen, unwillkürlich aufflackernden Brut einst gemachter Erfahrungen, deren Geburt und Auslöschung er nicht vollends Herr sein kann, spiegelt sich seine ganze widersprüchliche Existenz zwischen Realität und Erwartungshaltung. Hinzu kommen die ständigen Eindrücke von außen, Peters wilde Theorien, traurige Nachrichten aus aller Welt, ein Katzenvideo im Internet, das er gar nicht gesucht hat; tausend wirre, sich widersprechende Informationen.

Just macht sich Erleichterung in ihm breit, darüber, dass er hier in dieser kleinen Stadt des Nachts in absoluter Einsamkeit, begleitet nur von den Geräuschen der unschuldigen Natur, seines Weges geht und ihm zumindest für den Moment die Informationsflut erspart bleibt. Eigentlich will ich gar nicht weg von hier, dachte Sven. Und überhaupt geht es mir doch alleine ganz gut. Von unten sah er die Wohnung zu seiner Überraschung in hellem Licht stehen. Er zögerte, ging dann aber doch vorsichtig in den zweiten Stock und schloss langsam die Tür auf.

VI

Peter starrte leeren Blickes auf den Fußboden, ehe er sich erhob, ans Fenster schritt, es einen Spalt öffnete und sich eine Zigarette anzündete. Nach einigen kräftigen Zügen fragte er: „Kennst du die Legende vom 100. Affen?“ Sven schüttelte verlegen den Kopf, doch Peter beachtete ihn gar nicht und fuhr fort. „Im Prinzip ist es eine Geschichte über sogenannte morphogenetische Felder. Das sind unsichtbare Energiefelder, über die Lebewesen Energie und Informationen austauschen können. Ende der 50er Jahre hat man auf irgendeiner japanischen Insel einem Makaken gezeigt, dass er sein Essen vor dem Verzehr waschen muss. Andere Affen folgten seinem Verhalten, bis beim 100. Exemplar plötzlich ein Bewusstseinssprung stattfand und die ganze Population, ja sogar Affen der anderen Inseln dieses Verhalten nachahmten.“

„Meinst du die japanischen Badeaffen?, warf Sven ein. „Ja!“, schnaufte Peter leicht enttäuscht, dass dies die Hauptinformation zu sein scheint, die sein Freund aus der Geschichte gezogen hat. „Schöne Geschichte, aber was hat das mit der Art und Weise zu tun, wie du mich umbringen würdest?“

„Die Frage ist nicht wie, sondern wann.“ Svens Blick verfinsterte sich etwas. „Wenn die Zeit reif dafür ist. Wenn ein kollektives Bewusstsein für deine Ermordung entstanden ist. Wenn 100 Leute dir nach dem Leben trachten. Vielleicht sogar dann, wenn du es wagen solltest, mit japanischen Makaken zu baden.“

„Jetzt wirst du aber albern. Davon hättest du ja nichts. Ich dachte, wir reden hier über dein verkorkstes Leben und dass du einen Auslöser brauchst, um die Negativspirale zu durchbrechen. Wie kannst du dann davon reden, mich im Kollektiv umbringen zu wollen? Klingt wie so ein perverser Killer-Klub. Ich hoffe, du verkehrst nicht heimlich mit zwielichtigen Gestalten.“

„Nein, nur mit dir, keine Sorge. Aber du verstehst nicht. Angenommen, es gäbe diese morphogenetischen Felder; dann wäre der Mord an dir vielleicht eine Möglichkeit, weltweit Gleichgesinnte aus der Negativspirale zu katapultieren.“

„100 Typen, die genauso krank drauf sind wie du? Und danach alle geläutert? Und dann Weltfrieden oder was?“ Sven hielt sich den Bauch vor Lachen.

„Du kennst doch die uralte medizinische Diskussion, ob man zum Wohle der Menschheit das Recht besäße, nur einem einzelnen Menschen Leid anzutun oder ihn sogar umzubringen. Findest du es nicht ungemein egozentrisch von einem Individuum, sich dieser Aufgabe zu verschließen? Der einmaligen Chance, sich in den Dienst zum Fortschritt der Menschheit zu stellen, inklusive der namentlichen Überlieferung und Überdauerung irdischer Lebenszeit als Held?“

Nun ja, manche Menschen hängen vielleicht an ihrem Leben. Ich fände es im Übrigen sehr schön, wenn du mich vor einem solchen Vorhaben fragen würdest, ob ich überhaupt Lust habe, für dich oder irgendjemanden den Märtyrer zu spielen. Außerdem glaube ich, dass es zum Wohle der Menschheit auch immer freiwillige Probanden geben wird, die ihr Leben dem höheren Zweck opfern würden, weil sie den höheren Zweck in ihrem eigenen Leben nicht mehr erkennen.

Gut gesprochen, mein Freund. Da du aber es warst, der das Thema seiner Ermordung überhaupt erst angeregt hat, sollten wir anfangen, an deiner Freiwilligkeit zu arbeiten.

IV

„Was ist das denn?“, fragte Sven irritiert.

„Ach, nur so ein Gedankenspiel. Hatte ich gerade notiert, als du geklingelt hast. Ist noch nicht ganz zu Ende gedacht.“

„Hmm“, seufzte Sven und las laut vor: „ewiger Misserfolg ohne Ausnahme – minus x minus = plus – Trigger.“ Nach kurzem Schweigen sah er Peter nichtssagend an.

Peter kannte den Blick seines Freundes, der irgendwo zwischen ratlos und abschätzig lag. „Nun ja“, begann Peter voreilig, „ich habe mir Gedanken gemacht, wie ich meinem Leben etwas Positives abgewinnen kann. Kurz gesagt glaube ich, dass ich, bei der enormen Menge an Misserfolgen, die sich wie ein roter Faden durch mein Leben ziehen, irgendwann die Chance habe, alles schlagartig in einen riesigen Erfolg umzuwandeln, wenn nur ein gewaltiger negativer Einfluss auf mich einwirkt, der mir quasi den Rest gibt. Wenn ich ganz unten angekommen bin, also so, dass nach unten kein Platz mehr ist, ändert sich mein Leben vielleicht auf einmal zum Besseren.

„Enorm, riesig, gewaltig; das sind immense Worte“, erwiderte Sven, der spitzbübisch die Mundwinkel anzog. Und überhaupt, bist du nicht schon längst ganz unten angekommen?“ Peter reagierte gelassen auf die Provokation seines Freundes, denn er wusste um die sarkastische Art Svens und seine Vorstellung davon, jemanden „aufzuheitern.“
„Aber interessant ist das schon, muss ich zugeben. Ich hab’ mal ein Buch gelesen, das „Vom Nachteil geboren zu sein“ hieß. Geiler, deprimierender Scheiß.

„Ach, ich hab’ die Schnauze voll vom ewigen Lesen. Mein ganzes Leben hab ich damit verschwendet, doch wohin hat es mich gebracht? Lesen stattet dich vielleicht mit geistiger Munition aus, aber was bringt es dir, wenn du daraus keinen praktischen Bezug herstellen kannst, beziehungsweise nicht mal herstellen willst, weil du ein faules, weltfremdes Schwein bist. Aber ist schon in Ordnung, ich habe mich damit abgefunden. Und daraus ziehe ich jetzt meine Kraft. Wenn sich die Abwärtsspirale nur beschleunigen ließe, entstünde ein Sog, der mich schneller nach unten zöge.

„Musst du schon wieder so geschwollen reden?“, erwiderte Sven genervt. „Klar, dass dich bei den ganzen Konjunktiven keiner versteht oder mag. Wie willst du das überhaupt alles anstellen? Welcher Auslöser könnte stark genug sein, deinem Leben die positive Wende zu geben? Du hast doch niemanden außer mir. Moment mal, willst du mir ans Leben?“ Er lachte laut auf.

Peter, dem Svens Vorschlag kurzzeitig sehr einleuchtend war, wandte enttäuscht den Kopf zur Seite, weil ihm diese Idee nicht selber gekommen war und weil dessen Umsetzung jetzt nicht mehr originell war, obgleich nur die beiden davon wussten. „Ja, ich werde dich wohl umbringen müssen“, entgegnete er mit schwachem Lächeln. „Warum bist du eigentlich hier?“, brach er mit seinen unanständig wechselnden Gedanken.

„Weiß auch nicht. Brauche ich neuerdings einen Grund, um bei dir vorbeizukommen?“

„Nee, alles gut. Dann lass uns erstmal nach oben gehen. Wie soll man denn die Probleme der Welt auf dem Flur lösen? Achso, wie war’s denn nun auf dem Amt?

II

Hatte er das wirklich gerade gesagt? Er konnte es beim besten Willen nicht genau erinnern, als er am Frühstückstisch seinen lauwarmen Kaffee schlürfte und wahllos in der Zeitung blätterte. Überhaupt konnte er sich nicht entsinnen, ob er gestern oder an diesem Morgen wirklich auf dem Arbeitsamt war, das heißt, er konnte auch keinen genauen Zeitpunkt festlegen, der diesem Ereignis entspräche. Hat er das nur wieder geträumt?

In seinen Träumen flucht er gern und viel. Scheint eine Art Verdrängungsmechanismus zu sein, weil sein Leben in relativ eintönigen Bahnen verläuft und Aufmerksamkeit erregende Ereignisse wie das Fluchen einfach selten in seinen Alltagssituationen vorkommen, geschweige denn angemessen erscheinen.

Er zermaterte sich noch eine Weile sein Gehirn darüber, ob er die Sache nun geträumt hatte oder nicht, ließ dann aber gelangweilt ab, da seine Bemühungen im Sande zu verlaufen schienen. Ein Artikel in der Zeitung machte ihn neugierig. Da hieß es: „10 Gründe, warum Ohrenschmalz in jedes Ohr gehört – Ein HNO-Spezialist packt an und aus! Ohrenschmalz, das unterschätzte Schmiermittel der Querhörergesellschaft.“ Die reißerische Überschrift überforderte ihn, daher überflog er die einzelnen Punkte nur. Ohrenschmalz bei Ratten stelle eine bereichernde Füllsubstanz zum Gehirn dar. Ohrenschmalz als Puffer zum sensiblen Innenohr. Das Penetrieren der Ohren mit Wattestäbchen sei Todsünde. Menschen, die anderen Menschen in die Ohren sähen und dies als eklig empfänden, seien nicht ganz sauber. Ohrenschmalz – Gott erhalt’s! Ohrenschmalz aufs Brot usw. Sven machte die Fingerprobe und schaute erleichtert auf den schmierigen, gelben Fleck an seiner Fingerspitze. Hauptsache gesund!

Er beendete sein Frühstück, frischte sich auf und überlegte beim Blick in den Spiegel, welcher Tag heute war und was er vorhatte. Das Leben in Arbeitslosigkeit war geprägt von Momenten der tiefen Zerstreutheit und Gleichgültigkeit, aber auch Momenten der Eingebung und Motivation. Jedoch schien das Gleichgewicht gestört und er fühlte sich an diesem Morgen sehr lethargisch und generell antriebslos. Dennoch fasste er den Entschluss, den heutigen Tag sinnvoll zu gestalten. Seinen Freund Peter wollte er besuchen. Dieser wohnt nicht weit entfernt und teilt das gleiche, arbeitslose Schicksal. Er wird von allen nur Quadratpeter genannt, weil er so dick ist, also doppelt so dick wie normale Menschen. Er war wirklich ziemlich raumeinnehmend, fand Sven, der dies Peter aber nicht ins Gesicht sagen würde, weil ihm Äußerlichkeiten seit jeher relativ egal waren. Peter freute sich bestimmt über seinen Besuch, denn er hat kaum Freunde, eigentlich gar keine außer Sven.

Es war kurz nach 10 Uhr. Sven wollte sich gerade aufmachen, als er einen Notizzettel auf dem Küchentisch bemerkte, auf dem vorher die Zeitung lag. Darauf stand: Wichtig! Heute, 11:15 Uhr, Termin beim Arbeitsamt. Hatte er den Amtsbesuch also vorausgeträumt? Bei der Vorstellung lief ihm ein kurzer Schauer über den Rücken. Oder war heute gestern? Oder morgen? Unsicher, ob er zum Amt oder zu Peter gehen sollte, verließ er die Wohnung.

Prolog

Wer mit infernaler Lust über Leichen schreitet
Damit Tod und Hass den Weg bereitet
Dem ist gänzlich zuzutrauen
Dass er will zusammenbauen
Ein Reich regiert von niederhöchster Gewalt
Von einem Gott in schlichter Menschengestalt

Vom Olymp her dröhnt ein Widerhall
Löst sich scheppernd mit wuchtigem Knall
Formt sich zuckend zum blitzenden Ball
Und bringt auf der Erde alles zu Fall

Ein Pferd zum Senator
Dem Gaul am Gemächte
Erhebt er seine Rechte
Streckt schwingend die Faust empor
Duldet neben sich niemand’, kein’ T(h)or
Wacht allerorts durch finstere Nächte
Macht sich nicht lustig, nein, führt alle vor

Frauen verlieren im Angesicht seiner
Jeglich’ Besinnung, und anzüglich Kleider
Ob Tier, ob Gemahlin, ob Schwester
Oder gottverdammter Zwitter
Nichts ist ihm heilig, dem groben Inzester
Die göttliche Kraft verzehrt Anstand und Sitte
Menschliche Gräuel, erbärmliche Bitte
Sehnte sich auch einst ein sterbliches Wesen
Nach seiner zerstörerischen Macht der Gewitter
Ward er bestraft, doch sei’s drum gewesen
Die Erde erschüttert
Gegner zersplittert
Jugend verwittert
Alles erzittert
Vor Zeus, dem Zerficker

Wir sind immer noch da!

… Immer noch am Leben. Wir sind immer noch da! Immer noch durch nichts und niemand stumm zu kriegen, so wie es immer war. Wir sind immer noch da!

Wem bei diesen Worten ein Melodiechen durchs Oberstübchen weht, dem fließen wahrscheinlich jetzt Tränen vor lauter Glück, denn:

Visitors J sind zurück, nur sind wir keine Besucher Japans mehr, obwohl irgendwie schon, ach wenn ihr nur wüsstet, es ist echt viel passiert, und überhaupt, wo soll man anfangen?

Heute vor drei Jahren brachen wir nach Tokio auf. Leicht beschwipst und abgesegnet von unseren Eltern sowie tausenden Sternschnuppen. Jetzt heißen wir Wanderers X, sind Herumirrer, Wandersmänner auf der Suche nach irgendwas.

Im Prinzip bleibt alles beim Alten. Wir verschonen euch weiterhin mit tiefgreifenden Erklärungen zu unseren Auswürfen und erwarten im Gegenzug stille Bewunderung eurerseits. Falls ihr noch da seid, oder jemals da wart. Wer seid ihr eigentlich… Hallo?

Aber gut, dass uns der Medienhype bisher verschont hat und wir Geheimtipp in unseren eigenen Köpfen blieben. Auch deshalb haben wir Visitors J jetzt unter Denkmalschutz gestellt und die Seite sollte, wenn überhaupt, nur noch als touristisches Ziel angesteuert werden, als ein Ort, an den man immer gerne zurückkehrt oder Urlaub macht, als ein ewiges Paradies. Wanderers X wird der blasphemische Versuch, ein zweites Paradies zu errichten. Welch törichtes, zum Scheitern verurteiltes Unterfangen.

Auf, auf, ihr Narren!

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Hey there,

It’s us. Visitors J. It’s been three years since we left for Japan, you know? We’re Wanderers X now, wandering around and stuff.

Something’s changed about the English translations here, did you notice? Hope you realised that I’d spoilt you all the time? Giving you word-by-word translations every time. Gosh, that’s tiring. It really is. You’ve had enough time to learn German until now, hadn’t you?

Well ok, I might make a few exceptions for you guys every now and then, but not this time! Who are you anyway? Were you even here when…?

Ahh, screw it, let’s do it again!

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