X

Bald war das Licht des Schmiedehammers nur ein verblassender Schimmer. Dunkelheit und Nacht senkten sich von allen Seiten auf Sven hinab und mit der Schwärze kehrten die Gedanken wieder, die nichts Schweres mehr in sich trugen aber jetzt noch dringender schienen als zuvor. Verzweifelt kämpfte er mit dem inneren Widerwillen zu jeder Art von menschlichen Kontakt und der Gewissheit um die Aussichtslosigkeit einer Konfrontation mit den unausweichlichen Fragen. „Warum Mo?“, dachte Sven „Und warum jetzt.“ Sven stand im Wald und hörte, wie der Wind durch die Spitzen der Bäume und das trockene Gras einer nahen Lichtung wehte. Der Ruf eines Vogels, vielleicht einer Eule und das Bedauern, die Stimmen der Vögel und die Namen der Bäume nicht mehr zu kennen. „Degeneration der Sprache.“, dachte Sven. „Alles was ich sagen kann, ist: Der Ruf eines Vogels in den nahen Bäumen. Mit der Natur verlieren wir die Sprache und dann die Zivilisation. Devolution des Homo Sapiens Sapiens, der nichts mehr erkennt und wieder zu grunzen beginnt. Hardware, Software, Twitter, Facebook, Snapchat, Tumblr.“ „Degeneration der Sprache“, überlegte Sven wieder. „Es war einmal eine Lerche, die in Zedern schlief.“

Svens Füße waren mittlerweile kalt und er zitterte leicht. Als er das Haus verlassen hatte, war er nur in die Schlappen geschlüpft, in denen er sonst den Müll rausbrachte. Er meinte Tau auf seinen Zehen zu spüren und wusste nicht wie lange er noch so dastehen würde. Er wollte nach Hause und in sein Bett und fürchtete sich vor Peters massigem Körper in seinem Badezimmer, wie er sich in letzter Zeit überhaupt vor Peter fürchtete. Peter der Allwissende, das Orakel und der Mörder, der ihm mit seiner Einwilligung nach dem Leben trachten würde. Abwärtsspiralen und Erlösung und ein atheistischer Märtyrer, der auf das Paradies hoffte. Sven schüttelte sich, wusste, dass der Kater an seinen Nerven zehrte und dass dem Übermut, wie immer die Angst folgte. „Los nach Hause.“, rief Sven und der Vogel und der Wind verstummten. Er wusste, dass es am besten wäre, endlich zu gehen und doch schien ihm der Gedanke unmöglich, am Morgen oder gegen Mittag aufzustehen, sich zu waschen, Zähne zu putzen, Frühstück zu essen, zum Arbeitsamt zu gehen, weiter zu leben. Der Alltag war ihm eine angenehme Routine und doch schien sie ihm in diesem Augenblick als skurrile Absurdität, die es zu analysieren galt, bis er hinter der Fassade ein nagendes Mysterium erkannte oder sie einfach ganz verschwand.

Alle Rationalität verflüchtigte sich und es schien Sven, als wäre etwas Wichtiges verloren, wenn er sich in diesem Moment nicht umdrehte und zum Schmiedehammer zurückkehrte. Ein physischer Zwang, der zwischen Brustkorb und Bauch zu lokalisieren war, der sich ausdehnte und kribbelte und drückte und stach und nicht platzte bis er Mo sah, der ihm dann alles erklären würde. Alles. „Alles.“, dachte Sven und seine Gedanken machten ihn traurig. Er fühlte sich lächerlich, stand im Wald, drehte sich um, und machte sich endlich wieder auf den Weg zu Mo. Die Kneipentür war nur angelehnt und aus dem Treppenaufgang zu Mos Wohnung, drang nur ein Geruch, wie alte Häuser oder alte Menschen. „Mo“, rief Sven, doch niemand antwortete ihm. Er bereute jetzt, dass er wieder hier war und fühlte sich allein in dem dunklen Gastraum, in dem nur ein altes Neoschild einsam summte. „Mo“, rief Sven noch einmal, zapfte sich ein Bier, zündete sich eine Zigarette und ging langsam die Treppe zu Mo’s Wohnung hinauf. Aus der Küche drang Licht und Sven sagte jetzt etwas leiser: „Hi Mo, sorry, vielleicht schläfst du schon. Du das ist jetzt ne echt doofe Idee aber ich dachte, vielleicht kann ich mal mit dir reden. Ach Scheiße, jetzt ist es ja auch schon 4. So ne Kacke, also wahrscheinlich bist du noch nicht wach oder nicht mehr auf und überhaupt, naja… also… eigentlich dachte ich das ist ne gute idee, also auch irgendwie ne doofe. Aber, ich weiß auch nicht.“ In der Küchentür blieb Sven erschrocken stehen. Das Glas und die Zigarette fielen ihm aus der Hand und er schrie:“Mo, Mo, Mo. Scheiße nochmal, Mo, Mo. Scheiße, Scheiße, Scheiße.“ Mo lag ausgestreckt auf dem Rücken und hielt sich eine Hand auf die Brust gepresst. Seine Augen waren weit aufgerissen, seine Gesichtszüge starr und angespannt. Aus seinem offenen Mund lief Speichel und seine Hose war nass. Sven rannte zu Mo und begann wild und unregelmäßig auf seine Brust zu drücken und versuchte ihn auf eine Seite zu drehen. „Mo verdammt, Mo verdammt, Mo, Mo, Mo….“ Verzweifelt durchsuchte er seine Taschen nach seinem Handy, ließ es fallen und wählte die erstbeste Nummer, die ihm einfiel. Nach zweimaligen Klingeln hörte er die Stimme einer jungen Frau: „Schönen guten Morgen. Dies ist die Auskunft der deutschen Telekom, wie kann ich Ihnen…“ „Peter, Peter“, brüllte Sven „Peter, Mo ist krank, oder bewusstlos oder tot. Krankenwagen, Verdammte Scheiße. Peter, wir brauchen, nen Krankenwagen für Mo.“ „Die Nummer der örtlichen Ambulanz ist die 112. Vielen Dank für Ihren Anruf und einen angenehmen Tag.“ „Verdammte Scheiße“, dachte Sven. Und dann noch einmal „Verdammte Scheiße, die Alte war durchgeknallt oder gut.“ Mit zitternden Fingern wählte er die genannte Telefonnummer und stammelte Wortfetzen in das Telefon., als neben ihm, ein Röcheln und leises Stöhnen erklang. „Mo, Mo, Mo, alles klar, man, alles klar? Scheiße, ich ruf dir nen Krankenwagen.“ „Lass, lass“, hustete Mo. „Bringt… Bringt doch Nichts. Mir reichts.“ Sven legte das Ohr dicht an Mo’s Mund. „Mir reichts.“, fiepste Mo in einem langgezogenen, hohen Ton „Man Sven, manchmal….. sehe ich so Menschen….. Mann…… und Frau zusammen……Wie Menschen….. Wie richtige Menschen stehen die da……. Doch die bewegen sich nicht……. Sind keine Geister…. richtige Menschen wie wir…… doch rühren sich nicht…… Stehen da, wie Gedanken……. und gucken. Und wie die gucken…… weiß ich…….. dass die keine…… Menschen sind. Haben so… nen Blick… und der Blick weiß alles. Keiner sieht die…. doch ich sehe die manchmal….. zwischen uns. Reden die ganze Zeit… und ich weiß, die wissen alles….. aber ich verstehe sie nicht…. niemals…. nur krächzen…. und krächzen. Und neulich…… hab ich was verstanden. Die haben gesagt…. ist gut Mo….. ist gut…. ist nur ne Geschichte…. von vielen.“ Sven hielt Mo’s Hand in seiner, hatte die Augen geschlossen und lauschte dem Krächzen, dass unaufhaltsam aus Mo’s Kehle quoll, versuchte etwas zu verstehen, doch verstand nichts. „Ist schon gut Mo.“, wiederholte er immer wieder, saß vor dem offenen Kühlschrank und wartete.

VIII

Sven saß auf seinem Sofa und rauchte, schaute aus dem Fenster und versuchte sich auf die Dunkelheit zu konzentrieren. Dunkelheit und Nacht und kein Mond und keine Sterne. Schnee der alles unter sich begräbt. Zäune und Laternen und Häuser, die Landschaft und die Welt. Ein Sommerabend. Musik und Stimmen. Frühlingssüße in der Luft. Gesang und warmes Gras unter dem Rücken. Sich kreisende Sterne und sich kreisende Welt. Ein Gefühl von Glück, dass zu schwer ist um aufzustehen und das Versprechen, dass die Erde sich morgen nicht mehr bewegt und alles stillsteht. Wie können wir die Zeit anhalten, wenn alles relativ ist. Wann wache ich auf und wo werde ich dann sein?

Sven schüttelte sich. Die Zigarette in seiner Hand war fast vollständig herunter gebrannt und der Ascheturm drohte jeden Moment in sich zusammenzufallen. Er hasste es, wenn jemand in seiner Wohnung rauchte, hasste den Gestank in seinen Kleidern und an seinen Möbeln, der in jede Ritze zu kriechen schien, der sich auch in die Schränke schob, der allgegenwärtig war und sich überall hinbewegte nur nicht aus seiner Wohnung hinaus. Ihm grauste bei dem Gedanken daran, seine Laufkleidung anzuziehen und den kalten Rauch einatmen zu müssen. Es würde einige Kilometer dauern, bis der Geruch der frischen Luft des Waldes wich und er endlich wieder klar atmen und klar denken konnte. Und dann wieder in die Wohnung. Kalter Rauch. „Scheiß drauf, jetzt ist es auch zu spät“, dachte Sven. „Vielleicht sollte ich die Wohnung gleich ganz abfackeln. Kabelbrand und dann Versicherungsfall.“ Die Asche war mittlerweile auf Svens Hose gefallen. Angewidert blies er sie von sich. „Wenn man nur für oder gegen, so etwas versichert wäre. Ja was eigentlich.“, überlegte Sven. „Für oder gegen. Pro oder Contra. Versicherung oder Antiversicherung. Und selbst dann wenn diese Frage einmal geklärt ist, weiß man immer noch nicht wie man so etwas genau anstellt. Erklärungen, Briefe über Briefe, Behördengänge, die Suche nach einer neuen Wohnung, mehr Behördengänge…“ Sven bekam Angst und erleichtert stellte er fest, dass ihm dies alles erspart bliebe, wenn er nur nicht seine Wohnung in Brand setzte. „Nur nicht in Brand setzten. Nur nicht mehr Behördengänge.“, wiederholte er wie ein Mantra. „Feuer. Brand. Asche.“, dachte Sven. Er rannte in die Küche, suchte verzweifelt nach einem Kehrblech, fand es und machte sich eilig daran die Asche auf dem Teppichboden zusammenzufegen. Als er sich der Aussichtslosigkeit seines Vorhabens bewusst wurde, entschied er ins Badezimmer zu gehen, ein Wasserglas zu holen und es vorsorglich über den Wohnzimmerboden zu vergießen. Er öffnete die Tür und hörte ein Schnarchen, monströse Geräusche, zusammenhanglose Gesprächsfetzen und sah Peter, der zusammengerollt in seiner Badewanne lag. Wie ein fettes Walross, dachte Sven und schämte sich ein wenig. Fast hatte er vergessen, dass sie beide zusammen von Mo hierhergekommen waren. Sven fragte sich, warum Peter eigentlich nicht mehr zu sich nach Hause ging und warum er nicht auf der Couch oder in seinem Bett oder zumindest auf dem Fußboden schlief.

„Nana, mach dir mal keine Sorgen. Alles halb so schlimm. Ist nur der Alkohol. Sind nur die Nerven.“, nuschelte Peter vor sich hin.

„Sag mal Peter, schläfst du bei dir zu Hause auch in der Badewanne?“

Doch Sven bekam keine Antwort. Peter grunzte und rollte sich umständlich von einer Seite auf die Andere. Resigniert füllte Sven ein Wasserglas, trank die Hälfte, und kippte die andere über die Asche im Wohnzimmer. Müde setzte er sich wieder auf das Sofa, verrieb das Wasser mit seinen Füßen und zündete sich noch eine Zigarette an. Es war 2 Uhr und Sven musste an den Brief vom Arbeitsamt denken. Als sie vorhin nach Hause gekommen waren, hatte er im Internet nach dem Namen Lydia gesucht. Lydia, Bewohnerin Lydiens. Lydien Geburtsort des Dionysos. Die Mänaden, dem Wahnsinn verfallen, die ihren eigenen Sohn zerreißen, der Dionysos verhöhnte. Wahnsinn und Ekstase und Rausch. Die biblische Lydia, die als erste Person auf europäischen Boden, den christlichen Glauben annahm. „Wahnsinn oder Gottesfurcht.“, dachte Sven. „Keuschheit oder Ekstase.“ Sven drückte seine Zigarette aus, nahm seine Jacke und trat hinaus in die kalte Nacht. Kein Schnee. Keine Sommersüße. Hundegebell und rauchige Luft. „Vielleicht nochmal kurz zu Mo.“, dachte Sven. „Vielleicht hat Mo Facebook und wir können nach ner Lydia suchen, die beim Amt arbeitet. Und überhaupt Mo kann mir bestimmt weiterhelfen. Der scheint sich ja auszukennen mit dem Amt. Und wenn er kein Facebook hat, mach ich ihm ne Fanseite und dann finden wir die bestimmt.“ Sven beschleunigte seinen Schritt. „Dionysos.“, überlegte er. „Am besten ich frag Mo auch mal nach Dionysos.“

VI

Mo stand gedankenverloren in der Küche seiner Bar, ohne genau zu wissen, was er hier eigentlich wollte. „Scheiß Tag“, sagte er laut, um sich zu orientieren. Er öffnete den Kühlschrank und als sich die Erkenntnis noch immer nicht einstellte, fügte er lauter und aggressiver hinzu „Scheiß Nacht, Scheiß Morgen, Scheiß Mittag, Scheiß Abend!“ Aus dem Nebenraum erklang ein zu stimmendes Grunzen. Keine Resignation, keine Neuigkeit, Erkenntnis: „Wie immer.“

„Erkenntnis.“, dachte Mo, „Eier.“ dachte Mo. Die Fächer des Kühlschranks waren sauber und leer. Ein Joghurt und eine Apfelsine, ein Salatkopf, zwei Tomaten. Mo erinnerte sich an den Einkauf letzte Woche. Freudig irritiert hatte er den Einkaufswagen durch die Gänge geschoben. In der Hoffnung auf ein besseres Leben hatte er immer neue Wege entdeckt, immer neue Bereiche hatten sich in dem kleinen aber verwinkelten Supermarkt erschlossen, und am Ende hatte er lächelnd und triumphierend vor der Verkäuferin gestanden, hatte ihr tief in die blauen Augen geschaut und an eine Zukunft geglaubt. Nun lag der halbe Salat vor ihm. Die grünen Blätter hatten an einigen Stellen begonnen sich gelb zu verfärben. Der Bio-Aufkleber war von kleinen braunen Punkten umsprenkelt. „Scheiße.“ dachte Mo. Wütend holte er den Salakopf, die noch roten Tomaten und die frische Apfelsine aus dem Kühlschrank und schmiss sie fluchend in den Müll. Er öffnete den Joghurt nahm ein Bissen und dachte wieder „Scheiße, das bringt doch jetzt auch nichts mehr.“ Er warf den Joghurt an die Wand und fühlte sich erleichtert. Gerade als er den Kühlschrank wieder schließen wollte, entdeckte er in der hintersten Ecke eine kleine braune Verpackung. „Eier“, dachte Mo, „Strammer Max, na also“.

Das Ablaufdatum war nach seiner Kalkulation noch zwei Tage entfernt oder erst seit zwei Tagen überschritten. „So oder so“, dachte Mo, „Passt schon.“ und hatte die Hoffnung, dass der Tag vielleicht doch noch nicht verloren war. Als die Pfanne erhitzt war und das Öl, fettig und heiß um sich spritzte, gab er zwei Eier in die Pfanne. Er beobachtete das Eiweiß, dass am Rand erste Blasen aufwarf und sich langsam verfestigte. In der Mitte schwamm das Eigelb auf einem glasigen Film von zäher, durchscheinender Flüssigkeit. Mo schwenkte die Pfanne leicht von links nach rechts und das Eigelb folgte seiner Bewegung. „Pervers“, dachte Mo und fragte sich, ob er nicht gerade doch, in unbestimmter Weise ein Leben oder besser gesagt zwei Leben vernichtete. Also keine wirklichen Leben, aber die Möglichkeit auf Leben. „Wobei, es ohne mich, also mich als Endverbraucher, auch keine zwingende Notwendigkeit für dieses mögliche Leben, gegeben hätte.“, überlegte Mo. „Und gerade hier liegt die Schuld“, dachte Mo. „Kein Ei, also auch kein Huhn. Kein Leben, also auch kein Leiden. Oder ist es das wert, dachte er. Ein Leben im Leiden, um des Lebens Willen? Nur um gelebt zu haben und nur um sterben zu können?“ Der Gedanke verunsicherte ihn und ungeduldig schwenkte er die Pfanne in der Hoffnung, das Ei möge sich endgültig verfestigen und in der Hoffnung die Pfanne möge ihn nicht länger aus zwei missgebildeten gelben Augen anstarren. Der Geruch von Spiegelei stieg in Mo’s Nase und ein leichter Brechreiz kroch seine Kehle empor. Er musste an die letzte Woche denken, als Hannes mitten in der Nacht von seiner Freundin erzählt hatte. Mo hatte hinter der Bar gestanden und ins Bett gewollt aber Hannes wollte einfach nicht aufhören zu erzählen. Von Freunden und Affären, von der Bundeswehr und seiner Zeit als Berufssoldat am Horn vom Afrika, von seiner Mutter und seinem Stiefvater, von S&M und von Liebe und schließlich von seiner Freundin. Mo hasste Hannes nicht aber er mochte ihn auch nicht. Er mochte ihn eigentlich überhaupt nicht und wenn er länger darüber nachdachte, kam er doch zu dem Schluss, dass er ihn hasste. An diesem Abend war Mo müde gewesen und zu schwach um Hannes zu ignorieren. Anfangs hatte er nur Wörter und Wortfetzen aufgeschnappt wie beste Zeit, Sehnsucht, Bondage, Vaterland, Blasen, Gedenken und Tittenfick, doch mit der Zeit war es immer schwieriger geworden, sich auf etwas anderes als auf Hannes glückliche und dümmlich selbstbewusste Stimme zu konzentrieren. Und so hatte Mo von Hannes Freundin erfahren und nicht gewusst ob die Geschichte für ihn oder jemand anderen bestimmt war. Mo wusste nun, dass Yasmin es mochte zu Blasen. Zu Blasen und dann zu Schlucken, was, so Hannes, ganz ok und auch schön sei aber mittlerweile überhand nehme. Überall und jederzeit wolle Yasmin an Hannes Schwanz lutschen und sein Sperma aussaugen. Spermapir hatte Mo da gedacht und kurz gelacht, doch Hannes hatte sich nicht beirren lassen. Überall und immer wolle Yasmin blasen und neulich, als sie zu Hause waren, kam Hannes auf Yasmins Bauch. Als Yasmin dann aufstand, hatte Hannes gedacht, sie wolle sich die Wichse vom Bauch wischen, doch er hätte sie dann in der Küche gesehen, wie sie ein Ei in eine Schale gab, das Sperma von ihrem Bauch wischte und alles in einer Pfanne zu Rührei vermischte und schließlich aß. Hannes war erst verwirrt und dachte, dass er die einzelnen Versatzstücke dieses seltsamen Prozesses falsch auffasste oder zumindest falsch zusammensetzte, doch von dieser Nacht an wiederholte sich der gleiche Vorgang an jedem Abend und nun sei der Kühlschrank der gemeinsamen Wohnung gefüllt mit Sperma-ei und Yasmin versuche Hannes zu überreden, es doch wenigstens einmal zu probieren. Das sei schon alles etwas komisch und abartig, hatte Hannes zugegeben, doch nach zwei Wochen, habe Yasmin plötzlich ein rotes Gesicht, rote Arme und überhaupt eine rote Haut mit nässenden Ausschlag bekommen. Yasmin sei verzweifelt gewesen und schließlich zum Arzt gegangen. Dieser hätte dann festgestellt, dass Yasmin eine Eiweiß-Allergie habe. Seitdem befinde sich Yasmin in einem persönlichen Dilemma. Haut oder Sperma.

Der Kopf in Mo’s Händen hatte sich da schon schwer angefühlt und seine Augen waren geschlossen, um nicht weiter in Hannes Gesicht starren zu müssen. Er war zu müde gewesen um irgendetwas zu denken oder die aufkeimenden Bilder in seinem Kopf zu verscheuchen. Nach einer Weile hatte er die Schürze in die Ecke geworfen, hatte sich die Treppen hinauf gekämpft und schließlich schlaflos in seinem Bett gelegen. Allein mit Hannes albernen Geschichten, die noch immer von unten aus der Bar erklangen und den unsinnigen Phantasien in seinem Kopf.

Als Mo jetzt am Herd stand, die Pfanne in der Hand, erinnerte er sich an Hannes‘ Geschichte und stellte sich vor, wie sich eines Tages, das Hühnerei mit dem Sperma verband, und durch Hitze und Öl als Katalysator ganz unerwartet ein unwahrscheinlicher biologischer Prozess in Gang gesetzt wurde. Er sah Hannes‘ Kühlschrank vor sich, aus dem eines Nachts ein seltsames Zwitterwesen fiel. Hühnerkopf und Menschengestalt. Oder Menschenkopf und Hühnerkörper. Mo stellte sich diese Gestalt vor, wie sie mit traurigen Augen in seine Bar kam, auf seinen Tresen sprang und ihn vorwurfsvoll ansah.

Der Brechreiz in Mo’s Kehle wurde stärker und er rettete sich noch zum Waschbecken, in dass er sich übergab. Die Pfanne qualmte und das Ei war zu einem schwarzen Klumpen zusammengefallen, als Mo die Herdplatte abstellte. Er war erleichtert und füllte zum ersten mal an diesem Tag so etwas wie Glück und Erleichterung. Aus dem Barraum hörte er wie die Tür ins Schloss fiel und jemand „Hi Hannes, ist Mo da?“ sagte. Kurze Zeit später hörte er Peters Kichern und dann: „Hi Mo wir sinds, alles klar bei dir? Stinkt hier ja schlimmer als bei Sven zu Hause! Zwei Bier und Svens Brief!“

 

IV

Als er wieder zu sich kam, Schwindel, Sprache und Denken sich endlich aus ihrem Netz lösten und schließlich in Apathie aufgingen, merkte Sven, dass er vor seiner Haustür stand und im Kreis lief. Unsinnig darüber nachzudenken, wie lange er sich so, beobachtet von einigen missmutigen Hühnern auf der anderen Straßenseite, um seine eigene Achse bewegt hatte. War er schon laufen oder war es nur die Idee des Laufs, die die Hormone überschwänglich in seinen Körper gepumpt hatte und ihn das Bild eines perfekten Waldes phantasieren ließ. Sven blickte an sich hinab. Seine Schuhe und Kleidung waren von einer dunkelbraunen Schlammschicht überzogen. Allerdings, dachte Sven, sind das nicht meine Laufschuhe und überhaupt überlegte er, warum besteht meine Laufkleidung aus Jeans und Lederjacke. Verwirrt und lachend schloss Sven die Tür auf, riss sich seine Klamotten vom Leib und lief nackt durch die Wohnung. Schweiß rann warm und prickelnd an seinem Rücken hinab und als er sich für einen Moment auf sein Sofa setzte, freute er sich auf den nassen Abdruck den er auf dem Polster hinterlassen würde. Er saß und lauschte seinem Herzschlag. Laut und wild und schnell aber auch beruhigend, dachte er. Gut wenn man sein Herz hört. Dann weiß man das man noch lebt. Er dachte daran, dass sich manchmal, wenn er nachts aufstand und aufs Klo ging, sein Körper seltsam unwirklich anfühlte. Wie der Körper eines fremden, überlegte er, der Geist funktioniert und motorisch gibt es auch keine Probleme aber die Hände und Beine und auch der Kopf fühlen einfach nichts, sind einfach nur da und erledigen ihre Arbeit pflichtbewusst und der Verstand nimmt das alles nur wahr. Kennt gewissermaßen die Befehle aber erhält wenn man es so will keine Antwort. Ich sehe mir selber dabei zu wie ich mich bewege, wie ich von der Toilette aufstehe, wie ich abschüttele, Hose hochziehe, Hände wasche und bin erstaunt, dass ich mich bewege. Oder das sich jemand bewegt, wenn ich denke er sollte sich bewegen, auch wenn ich nicht wirklich Teil der Bewegung bin. Natürlich, überlegte Sven dann, gibt es dafür unzählige Erklärungen. Der Verstand oder Körper, oder das Nervensystem oder irgendwas, ist halt noch nicht richtig wach, also schon funktionsfähig aber nicht vollständig oder vielleicht schon aber irgendetwas ist eben noch nicht so ganz richtig verknüpft. Oder nicht mehr, je nachdem, wie lange man davor geschlafen hat. Aber meist kommt, dass immer nach dem Tiefschlaf, dieses Gefühl. Wenn man abrupt erwacht und Körper und Geist keine Vorbereitungszeit haben und dann doch so ganz plötzlich auf sich angewiesen sind. Also, versuchte Sven nun endlich etwas Klarheit zu schaffen, natürlich macht das Sinn, aber gerade dieser Sinn macht mir Angst. Wenn es Raum für Zweifel und Unklarheit gäbe, würde ich mich besser fühlen, dachte Sven, die Gewissheit vernichtet die Hoffnung und die Ungewissheit bietet eine Chance. Sven war mittlerweile aufgestanden und hatte sich in Richtung Badezimmer bewegt. In der Wohnung war es warm und er fühlte eine angenehme Erschöpfung und gelassene Euphorie. Er war nicht mehr weit von der Tür entfernt, als sich diese plötzlich öffnete und Peter nackt vor ihm stand. Sein Bauch strahlte rot und groß wie ein Planet und aus seinem Bauchnabel sprossen unbändig die Haare in alle Richtungen. Er sah aus wie ein verwahrloster Bär der langsam sein Fell verliert und von seinen Artgenossen gemieden wird. In seiner rechten Hand hielt er die leere Schokomilch. Sven war gleichermaßen erschrocken und schockiert, fühlte aber auch Mitgefühl mit sich selbst und tiefe Trauer. „Ver….“, setzte er an, brach dann aber erschöpft ab. So war es schließlich Peter, der Sven freudig begrüßte: „Ach Mensch Sven, hab mich schon gefragt, wo du eigentlich bist. Naja macht ja nichts. Bist ja auch nackt.“ Peter musterte Sven argwöhnisch „na Mensch, dass ist ja das erste mal, das wir uns so sehen. Hätte aber schon gedacht, dass du mehr hast.“ Sven der sich auf einmal sehr müde fühlte, wollte Einwände erheben: „Peter, das muss doch nicht sein. Weißt du, so Männerkörper. Das ist doch ekelig.“ Peter jedoch ließ sich nicht beirren „Ach Sven, du kleinbürgerlicher Wicht, schwul ist scheiße, Sex zur Fortpflanzung, du arbeitsloser Spießer! Du weißt doch was die Leute über uns sagen. Es gibt keinen Ruf mehr zu verlieren!“ Sven fragte sich ob Peter in seinem Kopf wohnte und jeden seiner Gedanken notierte. Oder vielleicht teilen wir uns zeitweise einen Kopf und darum fühle ich mich manchmal auch nicht wie ich selbst, sondern beobachte nur Peter wie er meine Gedanken und dann Bewegungen ausführt, ohne dass ich die Kontrolle habe. Vielleicht ist das seine Art und Weise vorzugeben, dass er nicht da ist, und dabei ist er doch immer da oder zumindest meistens und weiß alles was ich weiß und dann auch noch das was Peter weiß und ich nicht weiß. Sven wurde wieder schwindelig und nur der Anblick der Schockomilch und die aufkeimende Wut hieten ihn auf den Beinen.

II

Die winzigen Füße kitzelten auf der Haut und kämpften sich ihren Weg durch das flaumige und unregelmäßig verteilte Haar, das wild und traurig mehr zu sein vorgab als es eigentlich war. Verzweifelt suchten die schwarzen und zuckenden Augen nach der vertrauten Schwere des erdigen, von Gras bedeckten Bodens, der Schutz bot vor den panischen und hasserfüllten Blicken und auf dem das Vibrieren und der Hauch des Windes vor nahender Gefahr kündeten. Doch der Untergrund über den sich der fast schwarze Körper in verzweifelter Hast bewegte, war in ständiger Bewegung und ständig war die Gefahr und ständig war ein pfeifender und donnernder Sturm. Rastlos arbeiteten die Gefäße und produzierten das Adrenalin und rastlos pumpten sie das Blut, das den für seine Größe erstaunlich leichten Körper über die fleischigen Hügel und Täler bewegte, bis ein Beben schließlich die lebendige Ebene erschütterte und der Schock alle Bewegung lähmte. Unter dem Körper hatte sich eine tiefe Spalte aufgetan, in der von schleimigen Wasser bedeckt, eine strahlend blaue und in der Mitte schwarze Kugel lag, deren Ränder weiß und von unzähligen blutig-roten Linien durchzogen waren. Es war ein magischer Anblick, der mystische und religiöse Assoziationen gebar und so verharrte der kleine und glatte Körper im Angesicht der Größe dieses Augenblicks und im Angesicht der Größe der Verzweiflung.

Sven erwachte und sah wenig mehr als einige brennende Lichtstrahlen, die durch die Blätter eines Baumes schienen und deren Helligkeit an den Rändern seiner Augen schmerzten. Das Zentrum seines Gesichtsfeldes war Schwärze und für einen Moment war er erleichtert, dass die Kraft des Lichtes durch einen dunklen Fleck verdeckt wurde. Doch als sich die schwarze Fläche auch nach einigen Augenblicken nicht verkleinert oder zumindest bewegte, kam die Angst. Zitternd versuchte er sich die Ereignisse der letzten Nacht ins Gedächtnis zu rufen und überlegte, ob er gestürzt war oder geschlagen wurde. Undeutlich erinnerte er sich an die Disco, die Toilette und einen Schlag und er fühlte wie sich seine Adern, Arterien und Venen zusammenzogen und das Blut mit übermütiger Geschwindigkeit in alle Körperteile gepumpt wurde. Sven fragte sich ob er nun auf einem Auge blind war und wie das sein zukünftiges Leben beeinflussen würde. Schritt für Schritt ging er seinen normalen Tagesablauf durch und stellte erleichtert fest, dass er wohl auch mit einem Auge ganz gut leben könnte. Er fuhr kein Auto und sofern es das Laufen nicht sonderlich beeinflusste, sollte es keine größeren Probleme geben. Bleibt nur der Schmerz, überlegte Sven, Hauptsache der Schmerz bleibt mir verschont. Aber so lange mir nur jemand gegen den Kopf geschlagen hat und irgendetwas in Unordnung geraten ist, sollte es eigentlich gehen. Ich bin ein zweiäugiger Zyklop, dachte Sven. Ein zweiäugiger Zyklop, verloren in der Nacht, gestrandet auf einem Hügel, fernab von seinem Heim, auf einer Irrfahrt durch das Leben. Wenn man sich mutwillig verliert, ist es dann noch eine Irrfahrt oder eine Reise, überlegte er, als sich das Schwarz vor seinen Augen langsam erhob, bis es schließlich immer kleiner wurde und Sven erkannte, dass nicht der Schlag sondern eine Kakerlake ihn vorübergehend geblendet hatte. Fasziniert und leicht irritiert sah er der Küchenschabe nach, die langsam höher stieg und schließlich zehnt Meter von ihm entfernt wieder landete, als plötzlich ein Vogel vom Baum hinabschoß und die Kakerlake verschlang.

Die Situation ließ Sven schockiert zurück und erinnerte ihn an etwas, an das er sich nicht erinnern konnte. Mühsam zog er sich am Baum in eine sitzende Haltung empor und merkte erst jetzt, wie kalt es war und wie sehr er fror. Das Gras war noch vom morgendlich Reif bedeckt und die Sonne stand noch nicht sehr hoch. Er versuchte sich zu orientieren, doch erblickte er nur einen massigen Körper der mit hinter dem Kopf verschränkten Armen und lächelnd, neben ihm lag. Routinemäßig betastete er Peters Puls der in einem ruhigen Takt schlug. „Peter“, fragte Sven schließlich „seit wann können Kakerlaken eigentlich fliegen?“ Und als dieser eine ganze Weile nicht antwortete, fügte er hinzu „Peter, auch wenn ich keine Zyklop bin, vielleicht sollte ich mich auf eine Irrfahrt begeben.“

VIII

Als Sven fluchtartig die Disco verlassen hatte, wieder und wieder über unsinnig den Weg versperrende Beine gestolpert, gefallen und wieder aufgesprungen war, hatte Peter stolz und triumphierend auf seinem Barhocker gesessen. Er hatte das absurde Schauspiel, das sich vor seinen Augen entfaltet hatte aus nächster Nähe verfolgt. Von seiner Loge aus hatte er innerlich dem Sieg der Romantik über die Schwärze der Apathie und Teilnahmslosigkeit applaudiert. An einem undenkbaren Ort zu einer undenkbaren Zeit hatte ein betrunkener Casanova der Rationalität und Stumpfsinnigkeit der Welt, schwankend den Krieg erklärt. Taumelnd hatte er sich einer debil grinsenden Ophelia genähert, ihr tief in die vom Alkohol glasigen Augen geschaut, ihr samten rotes Haar beiseite gestrichen und unbekannte Worte gegen den Bass und die Logik angeflüstert. Es folgte ein langer Blick. Verständnislos, abschätzig, verächtlich und schließlich hingebungsvoll. Ein Kuss und die alternativlose Flucht. Für einen Moment hatte Peter überlegt, ob er seinem Freund folgen sollte, doch in den Augen der Ophelia meinte er durch den Rauch seiner Zigarette den ersten Hauch des Wahnsinns zu erkennen und instinktiv hatte er gefühlt, dass diese Bühne keiner weiteren Mimen bedurfte und jede Unachtsamkeit den zarten Keim der Tollheit zerstören konnte, der in diesem Moment und in diesem Dorf zu keimen begann. Peter hatte stumm vor sich hingekichert und sich triumphierend ein weiteres Bier und einen weiteren Kurzen bestellt. Tief hatte er den Rauch seiner Zigarette eingesogen und ihn schließlich, als sich langsam verblassende Ringe in Richtung Paradies geblasen. Eine ganze Weile hatte er schweigend da gesessen und glücklich die letzten Züge seiner Zigarette und die letzten Züge der Nacht genossen. Dann war er aufgestanden, hatte sich geräuspert und sich schweigend einen Weg durch die tanzenden Menschen und in die Mitte des Raumes gekämpft. Unterschwellig lallend aber mit der Zeit immer sicherer werdend, hatte er begonnen zu sprechen:

„Die Pest tritt in die niedren Türen ein.
Vorm Kruzifix zergeißelt sich das Fleisch,
Blut netzt des neuen Gottes bleichen Fuß.

Kehr wieder, Gott. Kehr wieder aus dem Reich
Des grünen Waldes. Denn erfüllt ist nun
Des neuen Gottes kummervolles Reich.

Sie passen in die Königskleider nicht,
Die Zwerge, die wie kleine Affen hocken
Im Götterpurpur auf der Blitze Thron.

Kehr wieder Gott, dem Pentheus einst erlag.
Du Gott der Feste und der Jugendzeit.
Kehr wieder aus des Waldes grünem Reich.

Kehr wieder, Gott. Erlösung, rufen wir.
Erlöse uns vom Kreuz und Marterpfahl.
Tritt aus dem Walde. Finde uns bereit.

Wir wolln dir wieder Tempel bauen, Herr.
Wir wollen Feuer an die Kirchen legen,
Vergessen sei des Lebens ‚Traurigkeit.

Wir flehn zu dir in mancher stillen Nacht.
Wir sehen hoffend zu den Sternen auf.
Tritt aus den Sternen. Hör das Rufen, Herr.

Georg Heym“

Die Musik hatte einige Passagen übertönt und doch hatte sich die Menge schließlich zu ihm gedreht und ihn fassungslos angeschaut. Viele der ihn Umstehenden hatten nur ein monotones Rauschen in den Ohren, dass die Musik mit Peters vor Anspannung zitternder Stimme verschmelzen ließ. Und auch wenn niemand seine Worte verstanden hatte oder verstehen wollte, so war sich Peter doch der Bedeutung seiner Rede bewusst gewesen. Es war der Epilog einer langen Nacht.

Nachdem er sich verbeugte hatte, war er langsam und mit erhobenen Armen zu seinem Barhocker gegangen und hatte in genussvollen Zügen sein Bier geleert. Die Musik war verstummt und der Raum hatte ihn, wie ein tiefer Schlund schwarz und leer und verängstigend angestarrt. Für einen Moment hatte er die Augen geschlossen und die Stille genossen. Als er sie nach kurzer Zeit wieder geöffnet hatte, waren die Türsteher zusammengekommen, hatten sich versammelt um dem Wahnsinnigen zu überwältigen. Doch sie waren unschlüssig. Und so hatten sich plötzlich drei wütend blickende Jungen vor ihm aufgerichtet. Ihre Gesichter waren von Wut und Angst verzerrt und Peter hatte einen Moment lang nicht gewusst, ob sie ihn anlachten. Einer der drei hatte ihn angerempelt und ihm gegen die Schulter geschlagen.

„Du bist doch der Penner, der mit diesem dummen Wichser hier war, der meine Freundin angebaggert hat. Ihr Arschlöcher. Und dann so ne beschissene Aktion hier. Ihr Dreckstypen. Du fetter Wichser. Bis du Terrorist? Ich mach dich fertig du Wichser!“

Peter hatte ihn aus müden Augen angeschaut und seine Flüche ignoriert. Dann hatte er ruhig gesagt: „Mein junger Freund. Der Wahnsinn naht. Schau in die Augen deiner Freundin und du weißt, dass sie verloren ist. Wenn die schwitzenden Affen in deiner Badewanne sitzen, wirst du alles begreifen.“

Dann hatte er ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen, und war losgelaufen, auf der Flucht und auf der Suche nach seinem heroischen Freund.

VI

Ein feiner Nebel zog über die Landschaft. Das Pochen und die gedämpfte Musik waren hier nicht mehr zu hören. Es war kalt und Sven beobachtete seinen Atem wie er weiß und schwerelos zum Himmel stieg. Die Geister der Nacht auf dem Weg ins Paradies. Oder in die Hölle, wenn oben unten ist. Überhaupt, dachte Sven, wenn eine Seele tatsächlich 23 Gramm wiegt, würde sie dann nicht nach unten fallen. Denn 23 Gramm sind 23 Gramm und 23 Gramm steigen nicht einfach so nach oben, es sei denn sie würden nach oben gezogen. Und wer gezogen wird, der geht nicht freiwillig. Und das eine Seele etwas wiegen muss, schien Sven gewiss. Schwer wiegt ein Leben auf der Seele, überlegte er und schwer fällt sie ins Paradies. Er lief mittlerweile wieder langsam in eine unbestimmte Richtung. Nachdem er für einen Moment stehengeblieben war, um sich auszuruhen und zu orientieren, meinte er, hinter sich noch immer die wütenden Rufe der bloßgestellten und um eine bedeutungslose Nacht betrogenen Männer zu vernehmen. Der Alkohol, der Rauch und der Rausch hatten seine emotionale Empfänglichkeit zum Vorschein gebracht und so wusste er selbst nicht ob er verängstigt, glücklich oder wütend war. Eine Vielzahl von Gefühlen drangen auf ihn ein, die sonst erfolgreich von einer kühlen Rationalität und beruhigenden Monotonie begraben waren. Am Horizont erschienen die ersten Strahlen der Sonne, die durch den Nebel gebrochen wurden und so, undeutlich und verschwommen auf dem bis dahin dunklen Grund der unbewegten Landschaft hervortraten.

Nach einer Weile erreichte Sven einen Hügel von dem aus er die Landschaft bis zum Horizont überblicken konnte. Die Welt schien zweigeteilt. Knapp über dem Boden zog der Nebel unbestimmt durch die Dörfer und über die Felder. Das Licht, von Wassertropfen und Staub tausendfach gebrochen, schien in den Wolken wie gefangen. Gischt die über meine Heimat zieht, dachte Sven und richtete seinen Blick weiter nach oben, wo die Sonne mittlerweile deutlich hervortrat und alles was über dem Nebel lag in ein orangefarbenes Licht hüllte. Sie steigt, dachte Sven. Sie steigt, bis sie wieder sinkt. Irgendwo im Wald zu seiner rechten stieß ein Vogel einen seltsamen Ruf aus und Sven wünschte sich seinen Namen zu kennen. Immer noch sah er auf die Welt zu seinen Füßen, wo der Nebel nun immer deutlicher von einem gelben Schein eingehüllt wurde. Ein alter Hahn stieß einen kraftlosen Schrei aus, das Läuten der Kirchenglocken. Spuren der Zivilisation. Sven spürte eine stille Euphorie, die schließlich von einer tiefen Ruhe abgelöst wurde. Er dachte daran, dass diese Landschaft und die ganze Welt eines Tages wieder menschenleer sein würden. Die Menschheit wäre vergangen doch die Erde würde immer noch existieren. Die weit entfernten Berge, die gebrochen und zerklüftet den Rand seines Gesichtsfeldes markierten, die nur von vereinzelten Lichtstrahlen beschienen Täler und der morgendliche Geruch des Taus auf den von Betrunkenen zertrampelten und von Autos platt gefahrenen Wiesen, überzeugten ihn von der eigenen Bedeutungslosigkeit und vielmehr noch von der befriedigenden Bedeutungslosigkeit der Menschheit. Irgendwann wird alles vergangen sein, dachte Sven, und unser Leben besitzt kein Gewicht.

Sven erinnerte sich an Peters Worte und seinen Plan und dachte, dass er vielleicht niemanden aus der Abwärtsspirale befreien aber doch der Menschheit ein Beispiel geben könnte. Aber wofür, überlegte Sven. Beispiel für den Untergang? Er wusste es nicht und wollte die Minuten der Erkenntnis und Erlösung nicht durch ernüchternde Gedanken vertreiben. Er setzte sich auf den Boden und lehnte sich an einen alten Baum, dessen einer Ast, vom Blitz getroffen zu Boden hing. Es fiel ihm schwer den Blick von der Landschaft abzuwenden, doch schließlich zog er seine Jacke enger und erinnerte sich an den Brief vom Arbeitsamt. Erregt durchwühlte er seine Jacken- und Hosentaschen, doch fand nichts außer einer handvoll Kronkorken und einer fast leeren Zigarettenschachtel. Er sprang auf, entdeckte sein Handy und seine Haustürschlüssel, warf sie abschätzig zu Boden und lief auf der Suche nach dem Brief zweimal ziellos um den Baum. Ohne etwas zu finden, setzte er seinen Lauf fort, übersah eine Wurzel und fiel unsanft zu Boden. Mühsam wälzte er sich auf den Rücken, blickte in den Himmel und lachte. Erst jetzt merkte er wie müde er war und begann sich zu fragen, was mit Peter geschehen war. Für einen Moment schloss er die Augen. Was wird wohl morgen noch von heute übrig bleiben, dachte Sven. Kurz darauf schlief er ein.

IV

„Was meinst du eigentlich damit: „Vielleicht sollte ich ihn suchen?“, sagte Peter lachend. „Und wenn du ihn findest, machst du was? Nett fragen, ob du ihn schlagen darfst, oder ob er dir noch eine reinhaut? Für Schlägereien sind wir doch gar nicht die Typen. Stell dir doch mal vor, wie das aussehen würde, wenn wir zum Schlag ausholen. Bestenfalls würden wir günstig stolpern, dem Gegenangriff so ausweichen und uns den Schädel beim ungebremsten Fall gegen die Wand nur anbrechen. Vielleicht hätte die Menge dann ein Einsehen und würde sich angeekelt oder gar belustigt abwenden.“

„Oder sie treten mich blutig und pissen mich an.“, sagte Sven verbittert. Der Schlag hatte ihn nicht allzu hart getroffen und die Wange schmerzte nur unmerklich, doch irgendetwas war ihm bewusst geworden, als er auf dem Toilettenboden aufschlug und für einige Minuten mehr resigniert als gekränkt liegen geblieben war. Es war offensichtlich und unbenennbar und stand entweder direkt mit seinem Leben oder dem Leben an sich in Verbindung. Sven wusste es nicht und wollte nicht darüber reden. Lose Fäden wurden von seinem Verstand nach allen Seiten ausgeworfen und auch wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Schöpfung ein Ziel hatten, fielen sie jetzt bedeutungslos und umso schwerer zu Boden. Sven kniff die Augen zusammen und hoffte, dass durch die verengte Perspektive alles Unnütze an seinen Augenlidern abprallen möge und nur die Erkenntnis bliebe und seinen Verstand erreiche. Sven sah sich als fadenlose Marionette, die das Laufen gelernt hat aber nicht sehen kann.

„Nana, jetzt mal nicht so pessimistisch!“, warf Peter gut gelaunt ein. „Und warum guckst du eigentlich so bescheuert? Sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?“

Sven saß mit zusammengekniffenen Augen neben Peter. Ein rotes Licht ruhte auf seinem Gesicht, seine Arme bewegten sich ruckartig und ungelenkig. Die Musik war für einen Moment verstummt, doch Sven vollzog weiter mit größtem Ernst einen stummen Tanz. Wie einer dieser japanischen Roboterhunde, musste Peter unwillkürlich denken. Oder ein Schamane. Entweder er hat jetzt etwas Wichtiges erkannt oder er erkennt gar nichts mehr. Unterwerfung oder Erlösung. In ersterem Fall würde ich ihn angewidert streicheln, überlegte Peter. In zweitem, in den Tanz einstimmen. Plötzlich fielen Peter ein Gemälde und die Zeilen eines Gedichtes ein. Auf dem Bild waren in abwechselnder Reihenfolge Menschen und Skelette zu sehen, die sich an den Armen und Händen hielten und vor einer idyllischen mittelalterlichen Landschaft einen bewegungslosen Tanz vollführten. Betrachtet man das Bild von links nach rechts, sind die Bewegungen auch irgendwie abgehackt, dachte Peter. Ein gemalter Film. Ist das Svens Totentanz? Peter wusste es nicht und als Sven sein Bier für eine ganze Zeitlang nicht anrührte und nur immer weiter tanzte, begann Peter schließlich auch zuckend auf seinem Barhocker zu tanzen.

Das Leben ist wie die Lampe, die auch schon anfängt auszubrennen, wenn sie angezündet wird! So alt wie jeder von euch ist, so viele Jahre habe ich schon mit euch getanzt. Jeder hat seine eigenen Touren, und der eine hält den Tanz länger aus als der andere. Aber die Lichter verlöschen zur Morgenstunde, und dann sinkt ihr alle müde in meine Arme.“

Das Klassenzimmer ist still. Niemand traut sich zu lachen, doch in den Augen der Kinder und Erwachsenen glitzert der Spott. Genüsslich und verächtlich. Direkt neben Mo steht Karl als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener, als Greis. Als Mo ihn für längere Zeit ansieht, erkennt er, das es eigentlich sein eigenes Gesicht ist, in das er da blickt. Mo als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener, als Greis. Das Gesicht jedoch ist immer das Gleiche. Jeden Tag blickt es ihn mitleidig aus dem Spiegel an. Mo schaut in seine eigenen Gesichter und in seinen Augen glitzert der Spott. Genüsslich und verächtlich. Er steht im Klassenzimmer, der Boden unter seinen Füßen ist nass. Seine Mutter hält einen Zeigestock in der Hand, an dessen Spitze ein Licht erscheint, das Mo anstrahlt. Sie geht auf Mo zu und das Licht wird immer heller und blendender und ist gelb und blau und rot und hüllt schließlich seinen ganzen Körper ein, der pulsiert und aus dem eine blendende Flüssigkeit läuft. Mo versucht vor sich selbst zu entkommen, doch schließlich ist da nur noch blendendes rotes Licht.

Als er schließlich erwachte saß Mo noch immer auf der Toilette. Der Boden vor dem Klo war nass und fluchend machte er sich daran seine Pisse aufzuwischen. Der Raum stank und er war müde, seine Beine schmerzten. Schließlich schleppte er sich deprimiert in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Vor ihm auf dem Tisch lag der Brief. „Was solls?“ dachte sich Mo und öffnete den Umschlag.

 

II

„Nana!“, brachte Peter schließlich mühsam hervor, während er sich er sich keuchend vom Boden hochkämpfte. „Nana!“ wiederholte er und hätte fast vergessen, den Satz fortzuführen. „Nana! Jetzt mal nicht so aufgeregt! Rote Haare, roter Himmel, Hauptsache die Affen frieren nicht.“ Sven, dessen Verstand sich durch die frische Luft langsam lichtete, sah Peter missmutig an. „Das bringt uns jetzt auch nicht weiter. Verstehst du überhaupt irgendetwas von dem, was ich gerade gesagt habe.“ Langsam schüttelte Peter den Kopf und verrieb das Gras auf seiner hellen Jeans. „Natürlich, verstehe ich das. Aber das ist doch albern, meinst du nicht? Erst betrinken wir uns weil du verwirrt bist wegen des Beischlafs mit einer roten Arbeitsamtuschi die es gar nicht gibt und dann treffen wir sie hier in der Dorfdisco? Mit so nen Klischees hab ich es nicht so. Und was meinst du eigentlich wer diese Geschichte erzählt? Bezichtigst du Mo offen der Trivialität?“

Sven seufzte und schaute unsicher zu dem blauen Neonlicht, das die vor der Tür stehenden Gestalten einhüllte. Rote Haaren waren hier blau, die Gesichter blickten kalt und geheimnisvoll durch den Rauch der Zigaretten. Hin und wieder schwangen seltsame Geräusche durch die Nacht. Abgehackte Rufe, ein wildes Röhren, totalitäre Semantik der Tonalität. Peter kicherte und als sich Sven zu ihm umdrehte, glaubte er auf Peters Lippen seine eigenen Worte zu lesen. Totalitäre Semantik der Tonalität. „Ach Sven, nun guck nicht so schockiert. Wird schon. Du solltest wieder mehr schreiben. Oder mehr schlafen. Oder mehr trinken. Oder irgendwas. Lass uns mal hier reingehen, vielleicht finden wir ja wen mit grünen Haaren. Manchmal glaube ich, dass es besser für dich wäre, wenn wir mehr soziale Kompetenz hätten.“

„Soziale Kompetenz?“ wiederholte Sven fragend „Eigentlich mag ich Menschen nicht so sehr…“

An der Tür angelangt warf der Türsteher einen langen Blick auf Peters Hose und musterte die beiden skeptisch, winkte sie schließlich aber mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung hinein. Dreckig und angetrunken aber harmlos, die bestzahlende Kundschaft. „So, Bier?“, versuchte Peter gegen die Musik anzukämpfen und ging schließlich zielstrebig zur Bar. Erleichtert ließen die beiden sich auf die letzten freien Hocker sinken und leerten ihr erstes Bier und den Vodka-E und bestellten schnell eine zweite Runde. Die Musik war laut und bewahrte vor unnötigen Gesprächen. Unsinnige Popmusik und unsinnige Menschen, die sich unsinnig bewegten. Das Licht flackerte und Peter und Sven genossen es gedankenlos auf die Tanzfläche zu starren und wortlos zu trinken und zu rauchen. Vielleicht sollte man das öfter machen, dachte Sven insgeheim und war froh, dass er nicht allein war und dass sich die Lichter langsam zu drehen begannen und er endlich laut über die unfreiwillige Komik der Tänzer lachen konnte. Doch am meisten amüsierte ihn der unbedingte Wille zum Spaß. Vor ihm bildete sich eine eintönige Traube von Teilzeithedonisten, die ihren Tanz auf Grund der Kürze der ihnen gegebenen Ekstase mit größtem Ernst verfolgten. Lachend bestellte sich Sven ein neues Bier und sagt zu Peter: „Ich geh mal tanzen.“ Mit schwingenden Armen und wild wirbelndem Kopf sprang Sven in die Menschenmenge, verkippte die Hälfte seines Bieres und hoffte laut lachend, dass Mo ein Einsehen hätte und irgendetwas passierte.

XV

„Grimmig ging der alte Barkeeper zurück zu seinem Tresen und stieß dabei leise, längst vergessene Flüche aus. Das Gesicht zuckte rhythmisch im Takt seines Ganges und im Takt der abscheulichen Musik die den Raum für sich einnahm und die ohnehin belanglosen Gespräche übertönte und schließlich erstickte. Seit vielen Jahren arbeitete Mo nun schon in der schäbigen Dorfkneipe und seit vielen Jahren schon vegetierten seine Träume und Hoffnungen zum Klang der immer gleichen Partyhits. Niemand hier erinnerte sich an seine Vergangenheit oder den Tag an dem er plötzlich, wie aus dem Nichts an diesem Ort aufgetaucht war. Seine Gestalt hatte sich, in der schwülen Hitze eines vergessenen Sommertags manifestiert und existierte seitdem in der unbeschwerten Belanglosigkeit der immer gleichen Tage und Nächte.“

„Zuckend schleppte der alte Mann seinen Körper, der ihm schon lange nicht mehr gehorchte, zum Tresen. Es blieb den meisten, der wenigen Gäste verborgen, doch wirkte sein Gang wie ein unmöglicher, gottloser Tanz. Die Schritte waren lautlos, es schien als schwebe ein heiliger Bettler in göttlichem Wahnsinn, währenddessen der Chor der Engel, lieblich singend „10 nackte Friseusen“ intonierte.“

„Mo wollte sich wieder an die Arbeit machen, doch verharrte er im Anblick des großen Spiegels, der an der Stirnseite der Bar hing und den Raum größer erschienen ließ, als er eigentlich war. Betrunkene Gäste mochten es, ihre eigenen, im Suff verzerrten Gesichter, zu betrachten, an denen sie sahen, wie gut oder schlecht es ihnen morgen gehen würde und an denen sie einschätzen konnten, ob es Sinn machte, auf die nächste Runde zu verzichten und nach Hause zu gehen oder sich doch erst richtig zu betrinken.“

„Mo jedoch sah in diesem Spiegel nicht nur die immer gleichen Gesichter, sondern einen Schimmer von Wahrheit. In ihm zeigte sich ein Bruchstück der Wirklichkeit und in diesem Moment, erkannte Mo sich selbst, jung und voller Träume. Seine erste und zweite Ehe waren noch in unerreichbarer Ferne und ein Gefühl nahender Vollkommenheit breitete sich als physisch greifbares Phänomen im Raum aus. Pulsierende, psychedelische Lichter, blau und grün und rot flackernd, schwebten in der Luft und sanken durch die Schwere ihres Glücks zu Boden. Sie bedeckten Stühle, Bar und Fußboden und auch die Gäste wurden von ihnen eingehüllt.“

„Einen Augenblick lang war alles still, doch schließlich zerbrachen die gefallenen Lichter und ein rot-schwarzer Schein hüllte den Raum in Zwielicht. Flammen schossen aus der Wand und unter mühevollen Qualen krochen die Gäste unter der nun dunklen Decke aus Licht hervor. Ihre Gesichter waren verändert, die Haut rot und nackt und aus ihren Köpfen wuchsen Hörner und aus ihren Rücken Schwänze. Mo jedoch war immer noch in weißes Licht gehüllt und er sah sich, wie er wirklich war, jung und schön, der weiße Barkeeper des Lichts, der für und gegen die Kreaturen der Hölle anschenkt.“

„Im Wissen um eine endgültige, unumstößliche Wahrheit, wandte sich Mo mit einem Seufzer vom Spiegel ab. „Was für Kurze sollen’s denn für euch sein?“, rief er resigniert. „Dein Spezialgetränk mit Stroh 80.“, nuschelten die beiden Teufel friedvoll zurück.“

Sven und Peter hatten Mo mittlerweile völlig aus den Augen verloren und waren gleichermaßen überrascht und erschrocken, ihn nun dabei zu beobachten, wie er Bier- und Schnapsgläser auf ihren Tisch abstellte.

„Hier ihr Knallköpfe. Zwei Bier und zwei Kurze.“, sagte Mo leicht gereizt. „Und jetzt ex und raus. Euer Gelaber kann sich ja keiner anhören. Das ist ja ganz großer Scheiß. Und was redet ihr eigentlich wieder für nen Dreck über mich. Ihr zwei denkt wohl ihr seid ganz toll. Pseudo-Intelektuellen-Scheiß nenn ich das. Seid froh, das ich nicht alles mit angehört habe. Was glaubt ihr eigentlich wer ihr seid?“

„Ach Mo nun hab dich nicht so, wir kennen uns jetzt schon so lange. Ist doch nicht so gemeint.“, versuchte Sven die Situation zu bereinigen.

„Ach Mo“, fügte Peter laut lachend hinzu „wir sind halt freigeistige Künstler und so. Das musst du doch verstehen, auch wenn du es nicht verstehen willst. Was ist das eigentlich für Schnaps?“

„Mein Spezialgetränk. Stroh 80, Kirschsaft und der Rest ist geheim. Eigentlich zünde ich ihn an aber ihr zwei vergesst doch bestimmt das Zeug auszupusten und verbrennt euch. Auf sowas hab ich heute echt keinen Bock mehr. Krankenwagen, vielleicht noch Polizei. Nene lass ma…“

„Also hast du unser Gespräch doch belauscht!“, sagte Peter vorwurfsvoll.

„Belauscht!? Belauscht?! Was soll das denn jetzt wieder. So einen Scheiß belauscht doch keiner freiwillig. Künstler, ja?! Arschkünstler.“

Peter und Sven brachen in lautes Gelächter aus und konnten sich lange Zeit nicht beruhigen „Arschkünstler!?“, riefen sie immer wieder freudig erregt. Mo’s Gesicht und Bein begannen langsam auszuschlagen.

„Na wegen dem Schnaps. Da musst du uns doch belauscht haben.“, erklärte Sven schließlich.

Mo’s Gesicht zuckte immer wilder. Seine Augen waren glasig, wie immer wenn er wütend war. „Wird’s jetzt bald, aus und raus!“

Sven wollte Einspruch erheben, doch Peter hielt ihn zurück und deutete stumm auf ihre Gläser. Schweigend tranken sie erst Schnaps, dann Bier, bezahlten und verließen mit einem prägnanten „Tschüss, dann“ die Kneipe. Auf der Straße schauten sie sich an und begannen laut zu lachen. „Aus und raus!“, rief Sven. „Ich laufe also bin ich!“, antwortete Peter. Als sie sich wieder einigermaßen beruhigt hatten, sagte Sven schließlich „Na irgendwas sollte man jetzt schon noch machen!“. „Auf jeden Fall.“, stimmte ihm Peter zu „ heute und morgen sind eh verloren, da sollte man die Zeit jetzt schon nutzen!“

Inzwischen hatte Mo die Gläser der beiden abgeräumt. Ihr Lachen und ihre Rufe hatten sich noch eine ganze Weile, mit dem Lärm der Musik vermischt bevor beides letztendlich verklungen war. Mo war allein. Skat-Rentner und der einsame Trinker waren kurz nach Sven und Peter aufgebrochen und so wischte Mo die Tische ab und spülte die von Händen und Lippen fettigen Gläser. Als er mit allem fertig war, streckte er sich und gähnte laut. Er betrachtete sich im Spiegel und sah die unförmigen und tiefen Falten, die grau-blonden Haare und den vom Zigarettenrauch gelben Bart. Keine Lichter und keine Jugend. Keine Teufel und keine Engel. Er schloss die Tür hinter sich und machte sich auf den Heimweg. Die Luft war kalt und nass und roch nach etwas Vergangenem. Langsam hinkte Mo nach Hause und sprach dabei zu sich selbst. „Zwei trunkene Gestalten gingen durch die Nacht. Die Lichter der Straßenlaternen flackerten und in den Schatten verbargen sich Engel und Teufel. Die Zukunft war für die beiden nächtlichen Wanderer ungewiss und unausweichlich. An der nächsten Straßenecke angelangt, bestellten sie sich ein Taxi und fuhren in die Dunkelheit. Die Nacht war noch nicht vorbei und würde Überraschungen bereithalten, an die sie sich am nächsten Tag kaum erinnern könnten. Auch sie würden versuchen das Puzzle aus Wirklichkeit und Phantasie zusammenzusetzen, bis sie schließlich merkten, dass nicht einmal die Puzzleteile existierten.“

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