VIII

Sven saß auf seinem Sofa und rauchte, schaute aus dem Fenster und versuchte sich auf die Dunkelheit zu konzentrieren. Dunkelheit und Nacht und kein Mond und keine Sterne. Schnee der alles unter sich begräbt. Zäune und Laternen und Häuser, die Landschaft und die Welt. Ein Sommerabend. Musik und Stimmen. Frühlingssüße in der Luft. Gesang und warmes Gras unter dem Rücken. Sich kreisende Sterne und sich kreisende Welt. Ein Gefühl von Glück, dass zu schwer ist um aufzustehen und das Versprechen, dass die Erde sich morgen nicht mehr bewegt und alles stillsteht. Wie können wir die Zeit anhalten, wenn alles relativ ist. Wann wache ich auf und wo werde ich dann sein?

Sven schüttelte sich. Die Zigarette in seiner Hand war fast vollständig herunter gebrannt und der Ascheturm drohte jeden Moment in sich zusammenzufallen. Er hasste es, wenn jemand in seiner Wohnung rauchte, hasste den Gestank in seinen Kleidern und an seinen Möbeln, der in jede Ritze zu kriechen schien, der sich auch in die Schränke schob, der allgegenwärtig war und sich überall hinbewegte nur nicht aus seiner Wohnung hinaus. Ihm grauste bei dem Gedanken daran, seine Laufkleidung anzuziehen und den kalten Rauch einatmen zu müssen. Es würde einige Kilometer dauern, bis der Geruch der frischen Luft des Waldes wich und er endlich wieder klar atmen und klar denken konnte. Und dann wieder in die Wohnung. Kalter Rauch. „Scheiß drauf, jetzt ist es auch zu spät“, dachte Sven. „Vielleicht sollte ich die Wohnung gleich ganz abfackeln. Kabelbrand und dann Versicherungsfall.“ Die Asche war mittlerweile auf Svens Hose gefallen. Angewidert blies er sie von sich. „Wenn man nur für oder gegen, so etwas versichert wäre. Ja was eigentlich.“, überlegte Sven. „Für oder gegen. Pro oder Contra. Versicherung oder Antiversicherung. Und selbst dann wenn diese Frage einmal geklärt ist, weiß man immer noch nicht wie man so etwas genau anstellt. Erklärungen, Briefe über Briefe, Behördengänge, die Suche nach einer neuen Wohnung, mehr Behördengänge…“ Sven bekam Angst und erleichtert stellte er fest, dass ihm dies alles erspart bliebe, wenn er nur nicht seine Wohnung in Brand setzte. „Nur nicht in Brand setzten. Nur nicht mehr Behördengänge.“, wiederholte er wie ein Mantra. „Feuer. Brand. Asche.“, dachte Sven. Er rannte in die Küche, suchte verzweifelt nach einem Kehrblech, fand es und machte sich eilig daran die Asche auf dem Teppichboden zusammenzufegen. Als er sich der Aussichtslosigkeit seines Vorhabens bewusst wurde, entschied er ins Badezimmer zu gehen, ein Wasserglas zu holen und es vorsorglich über den Wohnzimmerboden zu vergießen. Er öffnete die Tür und hörte ein Schnarchen, monströse Geräusche, zusammenhanglose Gesprächsfetzen und sah Peter, der zusammengerollt in seiner Badewanne lag. Wie ein fettes Walross, dachte Sven und schämte sich ein wenig. Fast hatte er vergessen, dass sie beide zusammen von Mo hierhergekommen waren. Sven fragte sich, warum Peter eigentlich nicht mehr zu sich nach Hause ging und warum er nicht auf der Couch oder in seinem Bett oder zumindest auf dem Fußboden schlief.

„Nana, mach dir mal keine Sorgen. Alles halb so schlimm. Ist nur der Alkohol. Sind nur die Nerven.“, nuschelte Peter vor sich hin.

„Sag mal Peter, schläfst du bei dir zu Hause auch in der Badewanne?“

Doch Sven bekam keine Antwort. Peter grunzte und rollte sich umständlich von einer Seite auf die Andere. Resigniert füllte Sven ein Wasserglas, trank die Hälfte, und kippte die andere über die Asche im Wohnzimmer. Müde setzte er sich wieder auf das Sofa, verrieb das Wasser mit seinen Füßen und zündete sich noch eine Zigarette an. Es war 2 Uhr und Sven musste an den Brief vom Arbeitsamt denken. Als sie vorhin nach Hause gekommen waren, hatte er im Internet nach dem Namen Lydia gesucht. Lydia, Bewohnerin Lydiens. Lydien Geburtsort des Dionysos. Die Mänaden, dem Wahnsinn verfallen, die ihren eigenen Sohn zerreißen, der Dionysos verhöhnte. Wahnsinn und Ekstase und Rausch. Die biblische Lydia, die als erste Person auf europäischen Boden, den christlichen Glauben annahm. „Wahnsinn oder Gottesfurcht.“, dachte Sven. „Keuschheit oder Ekstase.“ Sven drückte seine Zigarette aus, nahm seine Jacke und trat hinaus in die kalte Nacht. Kein Schnee. Keine Sommersüße. Hundegebell und rauchige Luft. „Vielleicht nochmal kurz zu Mo.“, dachte Sven. „Vielleicht hat Mo Facebook und wir können nach ner Lydia suchen, die beim Amt arbeitet. Und überhaupt Mo kann mir bestimmt weiterhelfen. Der scheint sich ja auszukennen mit dem Amt. Und wenn er kein Facebook hat, mach ich ihm ne Fanseite und dann finden wir die bestimmt.“ Sven beschleunigte seinen Schritt. „Dionysos.“, überlegte er. „Am besten ich frag Mo auch mal nach Dionysos.“