II

Die winzigen Füße kitzelten auf der Haut und kämpften sich ihren Weg durch das flaumige und unregelmäßig verteilte Haar, das wild und traurig mehr zu sein vorgab als es eigentlich war. Verzweifelt suchten die schwarzen und zuckenden Augen nach der vertrauten Schwere des erdigen, von Gras bedeckten Bodens, der Schutz bot vor den panischen und hasserfüllten Blicken und auf dem das Vibrieren und der Hauch des Windes vor nahender Gefahr kündeten. Doch der Untergrund über den sich der fast schwarze Körper in verzweifelter Hast bewegte, war in ständiger Bewegung und ständig war die Gefahr und ständig war ein pfeifender und donnernder Sturm. Rastlos arbeiteten die Gefäße und produzierten das Adrenalin und rastlos pumpten sie das Blut, das den für seine Größe erstaunlich leichten Körper über die fleischigen Hügel und Täler bewegte, bis ein Beben schließlich die lebendige Ebene erschütterte und der Schock alle Bewegung lähmte. Unter dem Körper hatte sich eine tiefe Spalte aufgetan, in der von schleimigen Wasser bedeckt, eine strahlend blaue und in der Mitte schwarze Kugel lag, deren Ränder weiß und von unzähligen blutig-roten Linien durchzogen waren. Es war ein magischer Anblick, der mystische und religiöse Assoziationen gebar und so verharrte der kleine und glatte Körper im Angesicht der Größe dieses Augenblicks und im Angesicht der Größe der Verzweiflung.

Sven erwachte und sah wenig mehr als einige brennende Lichtstrahlen, die durch die Blätter eines Baumes schienen und deren Helligkeit an den Rändern seiner Augen schmerzten. Das Zentrum seines Gesichtsfeldes war Schwärze und für einen Moment war er erleichtert, dass die Kraft des Lichtes durch einen dunklen Fleck verdeckt wurde. Doch als sich die schwarze Fläche auch nach einigen Augenblicken nicht verkleinert oder zumindest bewegte, kam die Angst. Zitternd versuchte er sich die Ereignisse der letzten Nacht ins Gedächtnis zu rufen und überlegte, ob er gestürzt war oder geschlagen wurde. Undeutlich erinnerte er sich an die Disco, die Toilette und einen Schlag und er fühlte wie sich seine Adern, Arterien und Venen zusammenzogen und das Blut mit übermütiger Geschwindigkeit in alle Körperteile gepumpt wurde. Sven fragte sich ob er nun auf einem Auge blind war und wie das sein zukünftiges Leben beeinflussen würde. Schritt für Schritt ging er seinen normalen Tagesablauf durch und stellte erleichtert fest, dass er wohl auch mit einem Auge ganz gut leben könnte. Er fuhr kein Auto und sofern es das Laufen nicht sonderlich beeinflusste, sollte es keine größeren Probleme geben. Bleibt nur der Schmerz, überlegte Sven, Hauptsache der Schmerz bleibt mir verschont. Aber so lange mir nur jemand gegen den Kopf geschlagen hat und irgendetwas in Unordnung geraten ist, sollte es eigentlich gehen. Ich bin ein zweiäugiger Zyklop, dachte Sven. Ein zweiäugiger Zyklop, verloren in der Nacht, gestrandet auf einem Hügel, fernab von seinem Heim, auf einer Irrfahrt durch das Leben. Wenn man sich mutwillig verliert, ist es dann noch eine Irrfahrt oder eine Reise, überlegte er, als sich das Schwarz vor seinen Augen langsam erhob, bis es schließlich immer kleiner wurde und Sven erkannte, dass nicht der Schlag sondern eine Kakerlake ihn vorübergehend geblendet hatte. Fasziniert und leicht irritiert sah er der Küchenschabe nach, die langsam höher stieg und schließlich zehnt Meter von ihm entfernt wieder landete, als plötzlich ein Vogel vom Baum hinabschoß und die Kakerlake verschlang.

Die Situation ließ Sven schockiert zurück und erinnerte ihn an etwas, an das er sich nicht erinnern konnte. Mühsam zog er sich am Baum in eine sitzende Haltung empor und merkte erst jetzt, wie kalt es war und wie sehr er fror. Das Gras war noch vom morgendlich Reif bedeckt und die Sonne stand noch nicht sehr hoch. Er versuchte sich zu orientieren, doch erblickte er nur einen massigen Körper der mit hinter dem Kopf verschränkten Armen und lächelnd, neben ihm lag. Routinemäßig betastete er Peters Puls der in einem ruhigen Takt schlug. „Peter“, fragte Sven schließlich „seit wann können Kakerlaken eigentlich fliegen?“ Und als dieser eine ganze Weile nicht antwortete, fügte er hinzu „Peter, auch wenn ich keine Zyklop bin, vielleicht sollte ich mich auf eine Irrfahrt begeben.“