XV

„Herrmann, du dumme Sau!“ Schulz’ Stimme dröhnte durch die Lautsprecher im Korridor. Ein furchterregendes Stöhnen folgte, einem gepeinigten Monster gleich. Daraufhin eine Frauenstimme: „Meister! Das Mikrofon ist noch an.“ Und dann ein “Verdammte Scheiße!”, als die Durchsage abrupt verklang.

Sven und Peter nahmen Platz im opulenten Speisesaal, nachdem sie sich ohne weitere Vorkommnisse in ihrem Zimmer etwas frisch machten. Auf Peters Aussage, dass dies schon ein komischer Laden sei, reagierte Sven erst jetzt, eine halbe Stunde später: „Das ist schon echt ein komischer Laden.“, sagte er, aber Peter winkte desinteressiert ab. Er deutete stattdessen auf die Briefe in Svens Hosentasche.
„Na, willste sie nich öffnen?“
„Nee, das bringt nur wieder Unglück. Ich versteh nich, wie die hierher gekommen sind. Alter, da steht sogar als Empfänger mein Name drauf. Wie geht denn das?“
„Komm, mach schon auf. Das nennt sich Schicksal.“
Am gegenüberliegenden Tisch bemerkte Sven eine hagere Frau mit hohlen Augen, die ihn ansah wie ein weidendes Schaf, während sie emotionslos auf einem Salatblatt herumkaute.
„Okay, einen mach ich auf. Den anderen erstmal nicht. Aber welchen? Lass uns ne Münze werfen. Hast du eine dabei?“
Peter kramte unter Anstrengung eine Kupfermünze aus seiner Gesäßtasche an seiner zum Bersten gespannten Hose.
„Kopf, den grauen, Zahl, den weißen Umschlag. Kopf oder Zahl?“
„Zahl!“, sagte Sven und schmiss die Münze nach oben.

H: „Müssen wir wegen der ganzen Sache nicht erst den Chef um Erlaubnis bitten?“
D verärgert: „Halt doch’s Maul, du Möchtegern-Herkules. Was meinst du, warum wir uns ausgerechnet an diesem Ort zusammenfinden? Weil er nichts, aber auch gar nichts von unseren Plänen erfahren soll!“
H: „Aber das Menschenprojekt beenden ohne sein Wissen? Wie soll das gehen?“
Plötzlich veränderte sich die Atmosphäre der dimensionslosen Kneipe. Die Decke riss auf und gab den Blick frei auf einen pechschwarzen, sternlosen Himmel, oder ein Loch im Raum-Zeit-Gefüge oder irgendetwas anderes Unerklärliches.
H: „Scheiße, was ist denn jetzt los?“
Violette Blitze durchzuckten lautlos das schwarze Nichts. Hannes tippelte nervös mit den Fingern auf dem Tresen herum. Pan und Dionysos sahen besorgt dem entgegen, was sich dort anbraute. Mo zapfte unentwegt Bier, aber nicht mehr in Gläser, sondern auf den Fußboden. Ein leichtes Grollen wurde hörbar.
P zu D: „Er kommt.“
D: „Scheiße! Wie zum Teufel hat er uns gefunden?“ Panisch zu den Halbgöttern: „Verkriecht euch, schnell. Wenn er euch hier sieht, seid ihr geliefert.“
Ein Blitzschlag krachte mit ohrenbetäubendem Lärm ins Fragile Säuferglück, das sich mehr und mehr auflöste.

Sehnte sich auch einst ein sterbliches Wesen
Nach seiner zerstörerischen Macht der Gewitter
Ward er bestraft, doch sei’s drum gewesen
Die Erde erschüttert
Gegner zersplittert
Jugend verwittert
Alles erzittert
Vor Zeus, dem Zerficker

„Zahl!“ Sven nahm den weißen Umschlag und öffnete ihn vorsichtig. Im selben Moment betraten Schulz, Herrmann und eine rothaarige Frau den Saal, während sich seine Jünger erhoben und ehrerbietend verbeugten.
„Was steht drin?“, drängte Peter.
Sven überflog, während er mit seinen Augen gebannt dem seltsamen Trio folgte. „Ihre persönlichen Zugangsdaten für das Jobcenter-Trainingsportal. Microsoft Office spielerisch lernen. Bei Nichtanwendung droht eine Kürzung Ihrer Sozialleistungen.“
Peter sah ihn lange Zeit nichtssagend an.
„Was für eine dumme Scheiße!“

XIII

„Was machst du denn?“, fragte Sven.
„Ja!“, sagte Peter. „Was wissen wir denn schon von dir, außer dass du ne Kneipe hattest und samstags aufm Fußballplatz ausgeschenkt hast?“
Schulz musterte die beiden scharfäugig und erwiderte mit einer gewissen Genugtuung in der Stimme: „Na, das halt. Ich schenke aus, alles mögliche, nur jetzt jeden Tag.“ Er lachte und zog eine Schublade an seinem Massivholzschreibtisch auf. Er griff hinein und holte drei Zigarren heraus. „Lange nicht gesehen, Jungs. Schön, dass ihr mal vorbeischaut. Hier, kubanische.“
Sven verzog das Gesicht. „Nein, danke.“ Peter griff beherzt zu.
„Nun“, sagte Schulz, während er sich und Peter die Zigarren anzündete und ein paar Mal genüsslich paffte, „eines schönen Tages ging ich gutgelaunt zu meiner Gaststätte, machte mich daran, das Essen zu kochen, bereitete das Tagesgeschäft vor, alles wie immer, als mir plötzlich schwindelig wurde und ich in Ohnmacht fiel. Als ich wieder zu mir kam, standen viele Leute um mich rum, alles Dorfnasen, die mir schielend und lallend auf die Schulter klopften und ins Gesicht, und die ekelhaft lachten, als ich mich wieder aufrappelte. Alle dachten, ich hätte zu viel gesoffen und keiner von denen hatte es fertiggebracht oder wäre auch nur auf die Idee gekommen, einen Krankenwagen zu rufen.“
Er inhalierte einen tiefen Zug Zigarrenrauch und ließ den Blick schweifen. Sven und Peter folgten gespannt seinem Blick.
„An diesem Tag wurde mir etwas klar. Er blies einen großen Rauchschwaden fast in Zeitlupe aus. Auf Menschen ist kein Verlass, außer auf dich selbst.“
Nach einer merkwürdigen Pause sagte Sven plötzlich: „Das ist die banalste Geschichte, die ich je gehört habe. Was hat das mit diesem Haus hier oder überhaupt mit irgendwas zu tun?“
Schulz schlug mit den Fäusten auf den Tisch. „Natürlich ist das banal, du Schlaumeier! Das ganze verfickte Leben ist banal. Aber was bist du blöd, mitten in meiner Geschichte sowas zu sagen? Gut, habe verstanden, dann kürze ich die Sache ab: An diesem Tag schwor ich mir, das stumpfe Dorfleben, den Fußball und das ganze undankbare Pack hinter mir zu lassen. Dann ließ ich meine abgewrackte Kneipe in diesen Hochglanztempel umbauen; die Gesichter der ganzen Klappspaten während der Bauarbeiten hättet ihr sehen sollen. Ich sag nur: strengste Geheimhaltung. Die Gerüchteküche war natürlich am Brodeln. Ob ich völlig übergeschnappt wäre und einen Schlachthof bauen würde, um meine eigenen Würstchen zu verkaufen, so wie der Hoeneß. Ha, diese Deppen. Ich lief indes nur noch incognito rum, um die Verunsicherung weiter voranzutreiben. Es ging sogar soweit, dass die Bauarbeiter bedrängt wurden, ihnen zu erzählen, was mit mir passiert sei. Die glaubten wahrscheinlich, dass ich entführt oder verstorben sei und dass auf meinem Grundstück eine riesige Beautyfarm entstehen würde. Jedenfalls“, holte Schulz mit einem breiten Grinsen aus, „jetzt sitze ich hier, seht mich an, von überall her strömen stumpfe Gestalten in mein Kunstkloster und bezahlen ein Heidengeld dafür, sich den Großteil des Tages anschweigen und mir ab und zu bei meinen Gesangsübungen zuhören zu dürfen. Denn ich verfolge seit jenem schmachvollen Tag der Erkenntnis nur ein Ziel, nämlich mein Leben voll und ganz auszukosten.“ Ein Windzug umwehte seine schüttere Mähne. Peter kniff die Augen zusammen, als würde er geblendet.
„Zwei Dinge sind es, die mich antreiben: Geld und die bedingungslose Hingabe an Classic Rock.“
Schweigen breitete sich im Raum aus. Nach einer gefühlten Ewigkeit sagte Sven: „Ach ja, war n schöner Auftritt vorhin. Das Lied kannte ich irgendwoher.“
„Ja, wer da keinen Ständer kriegt, hat kein Herz!“, erwiderte Peter und beide lachten hysterisch los.
„Wollt ihr euch über mich lustig machen? Nun gut, dann geht zurück auf euer Zimmer. Bald ist Abendbrot, es wird eine Durchsage geben. Noch irgendeinen Wunsch? Vielleicht ne Lebensweisheit?“
„Ja, Schnee wär jetzt geil!“, sagte Peter.
Verdutzt starrte Schulz ihn an. Dann fuhr er sich stürmisch durchs Haar und durchsuchte mehrere Schubladen. „Ihr nun wieder“, sagte er, „muss gucken, ob ich noch was da hab. Das Zeug ist nicht so leicht zu bekommen, wisst ihr.“
Sven und Peter schauten sich fragend an und signalisierten diskret, dass der alte Schulz einen an der Klatsche hatte.
„Ich würd noch ne Lebensweisheit mit auf den Weg nehmen, wenn’s recht ist.“, sagte Sven schmunzelnd.
„Also gut!“, entgegnete Schulz, nachdem er sich wieder geordnet hatte. „Hier die Weisheit des Tages: Bleibt unbeweibt! Die Fickerei bringt nur Probleme.
Und jetzt husch husch!“

Auf dem Weg zurück zum Zimmer wussten die beiden nicht, was sie sagen sollten. So liefen sie wortlos die sprechenden Gänge entlang, während draußen unbemerkt dicke, weiße Flocken vom Himmel fielen.

XI

D: „Mo, jetzt sag schon.“
Mo, eine Kerze anzündend: „Ich glaube, ich wurde langsam verrückt. Musste weg. Hab wahrscheinlich nen Doppelgänger da unten.“
D, H und P gleichzeitig: „Doppelgänger!?“
Mo: „Ja, vielleicht ein Agent, auf mich angesetzt. Ich sag’s euch: Die Dinge laufen aus dem Ruder.“
D: „Mal langsam, Mo. Wie muss ich mir das vorstellen? Läuft da jetzt noch einer wie du rum, so…“
H: Lachend „…Mit Hinkebein und allem Drum und Dran?“
P: „Sei still. Hast deinen Auftrag schließlich auch vermasselt. Inzestuöses Halbgötter-Pack!“
D. „Haltet beide die Schnauze! Mo, was kannst du berichten?“
Und Mo erzählte von einem Mann namens Herrmann Mann, einem vom Leben bitter enttäuschten Idealisten, der aufgrund seiner perversen Neigungen ins Exil flüchten musste, wo er sich mit anderen gescheiterten Existenzen einer falschen Gottheit verschrieben hat. Seltsame Dinge gingen dort vor sich, gefährliche Dinge, die die göttliche Schöpfung durcheinanderbringen vermochten.
Betroffenes Schweigen machte sich im ‚Fragilen Säuferglück‘ breit, an dem Ort, wo es keine Zeit gab, wo alles nichts war und alles alles sein konnte.
D, finster und mit ernstem Ton an die Runde: „Das Menschenprojekt wird eingestellt.“

„Achtung, Achtung! Einleitung der Plauderphase. In zehn Minuten ist es wieder soweit: Unser Meister tritt im Saal der Verheißung auf. Alle Bewohner sind aufgefordert, sich unverzüglich auf den Weg dorthin zu begeben. Das Reden ist ab jetzt für eine Stunde erlaubt. Vielen Dank!“

Sven und Peter sahen sich verdutzt an.
„Was ist das hier nur für eine Freakshow?“, fragte Peter.
„Klingt doch toll!“, entgegnete Sven. „Lass uns schnell diesen Saal suchen.“
Plötzlich ertönte sanfte Rockmusik aus den Lautsprechern im Korridor. Peter und Sven verließen den Raum und sahen, wie weiß gekleidete Menschen wahllos aus ihren Zimmern und wie am Faden gezogen Richtung Wendeltreppe nach unten strömten.
„Mensch, Peter!“, sagte Sven aufgeregt. „Lass uns denen anschließen.“
„Ich weiß nicht! Irgendwie hab ich kein gutes Gefühl dabei, mich der Zombieparade anzuschließen.“
„Komm schon, wir wollen doch zum Meister, also zum Schulz. Komm!“
Der Weg verlief im Grunde unspektakulär, runter in die erste Etage, vorbei an den bizarren Kunstwerken und Parolen, zur Eingangshalle, wo eine Abzweigung in einen weiteren, prächtigen Korridor führte, an dessen Ende sich ein riesiges Tor befand, das mit einer weißen Schlange verziert war.
„Warum redet keiner von denen?“, bemerkte Peter, an den Hacken der übrigen Bewohner trottend. „Die hat doch gesagt, es sei erlaubt.“
„Wir genießen die Musik.“, sagte Sven. „Irgendwie kommt sie mir bekannt vor. Wunderschön!“
„Wir? Die, betonte er überdeutlich, haben uns noch nicht mal eines Blickes gewürdigt. Ich glaub, die sind nicht ganz sauber.“
„Lass dich einfach drauf ein.“, grinste Sven.

Am Schlangentor stand die Empfangsfrau und wartete auf die Bewohner. Lächelnd vergewisserte sie sich, dass auch alle anwesend waren. Dann öffnete sie die Pforte und sogartig ließen sich alle Bewohner hineinziehen. Sven und Peter trabten etwas vorsichtiger hinterher, an der Frau vorbei, die sie völlig auszublenden schien, denn sie schloss sogleich das Tor, als die beiden den Saal betreten hatten.

“I should have known better than to let you go alone.”, ertönte es auf einmal von der Bühne am Ende des komplett weißen Saales.
“It’s times like these I can’t make it on my own.”
Und zwischen den Rauchschwaden einer Nebelmaschine erschien schemenhaft der Umriss eines Mannes.
“Wasted days and sleepless nights.”
Weißes Stoffhemd und weiße Stoffhose, barfuß, lange, goldene Mähne, leicht schütter, aber geschmeidig, Bierbauch und Drei-Tage-Bart, kurzum: die Erscheinung eines sündigen Engels.
“And I can’t wait to see you again.”
Die Bewohner hatten sich derweil schon mit hochgerissenen Armen um die Bühne verteilt und bewegten diese leidenschaftlich von links nach rechts, als der Sänger zur zweiten Strophe ansetzte.
„Meister!“, stieß es aus Sven heraus, bei dem die Musik und generell das ganze Ambiente einen Nerv getroffen zu haben schien.
„Der alte Schulz!“, sagte Peter trocken und lachte lautstark gegen die Geräuschkulisse an.

IX

„Eine kleine Blutfontäne stieß aus Peters Schädelplatte hervor und besprenkelte den weißen Marmorboden.“ Sven tat so, als würde er aus einem Buch vorlesen.
Peter fasste sich hastig an den Kopf und schimpfte: „Lass den Quatsch! Der behinderte Hippie hat mir voll eine verpasst.“
„Entschuldigen Sie bitte die etwas rüde Art von Herrn Hermann“, meldete sich die junge Frau zu Wort, „aber wir befinden uns hier in einem Schweigekloster. Lautstarkes Reden sowie hektische Bewegungen sind untersagt und selbst im Eingangsbereich unerwünscht. Einige unserer Langzeitgäste reagieren dementsprechend ungehalten auf intensive äußere Einflüsse, wie eben Herr Hermann, der Sie für Ihre Entgleisung gerügt hat.“
„Gerügt?“, stammelte Peter ungläubig.
„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Wir haben Kokoswasser und stilles Wasser mit Elektrolytpulver zur Auswahl.“
„Nein, danke!“, sagte Peter.
„Ich versuch’s mit nem stillen Wasser, ohne Elektro…“
„Das Elektrolytpulver ist nicht optional. Hier bitte. Ich schreibe es auf Ihr Zimmer.“
„Zimmer?“, fragten beide unisono.
„Ja, folgen Sie mir bitte.“

Und so gingen die drei, angeführt von der mysteriösen jungen Frau, den Korridor entlang, vorbei an Skulpturen und Gemälden, von denen eins seltsamer anmutete als das andere. Hin und wieder hielten Peter und Sven inne, um eines dieser Werke näher zu betrachten, so zum Beispiel das Triptychon: Einhorn mit Hut, Einhorn mit Glatze & Einhorn ohne Horn, welches keine Unterschiede zwischen den drei Einzelbildern aufwies, denn auf jedem war ein gewöhnliches Pferd zu sehen. Sie erreichten eine Wendeltreppe, die sie zur zweiten Etage hinaufführte.
„Dies ist der Wandelgang der Inspiration.“, sagte die junge Frau euphorisch, verzichtete aber auf weitere Details. Sven und Peter nahmen sie kaum wahr, denn ein langer Schriftzug an der Wand erhaschte ihre Aufmerksamkeit. Da stand: Müßiggänger aller Länder, vereinigt euch!
„Och!“, murmelte Sven vor sich hin.
„Es ist schon verrückt!“, sagte die junge Frau plötzlich. „Wir sind umgeben von diesen grandiosen Errungenschaften der Technik, aber wissen nicht, wie und warum sie funktionieren. Telefonie, Internet, Motor, Batterie, Radio, Fernsehen, Elektrizität, Atomkraftwerke. Es ist schon erstaunlich, wie wenig wir hinterfragen und als selbstverständlich hinnehmen, oder?“
Peter und Sven nickten zurückhaltend.
„Aber all hat uns hier nicht zu kümmern.“, sagte sie fröhlich. „Herr Schulz entgeht all diesen bedrückenden Fragen durch die totale Hingabe an die Kunst. Aus diesem Grund schuf er dieses Refugium der Künste, in dem alle Warum-Fragen und überhaupt die meisten W-Fragen unbeantwortet, ja sogar ungestellt bleiben. Er entzieht durch die Schönheit und Indifferenz der Kunst jedweder menschlicher Egomanie und allzu rationalen Weltanschauungen die Kraft, zugunsten eines ungezügelten, kreativen Spiels der Sinne. Sie können sich wahrlich glücklich schätzen, den Weg zu unserem Meister gefunden zu haben.“, quietschte sie vergnügt.
„Meister Schulz? Also kein Regent und auch kein Guru…“, staunte Sven, aber niemand reagierte darauf.

An einer weiteren Wendeltreppe ankommend, sagte die Frau: „Hier hoch geht es zu den Zimmern. Sie sind im ‚Glücklichen Hirten‘ untergebracht.“ Sie kamen zum Stehen und sahen neben der Zimmertür einen eingerahmten Spruch:

Glück gestalten und bewahren! Das Glück wohnt nicht mit niederen Zielen, Selbstsucht und Verstimmung unter einem Dach. Es ist ein Freund von Harmonie, Treue, Schönheit, Liebe und Einfachheit. Glück ist eine Folgeerscheinung. Davor kommt stets das, was wir tun und getan haben, kommt stets in der Liebe eben die Liebe und im Leben die Leistung.“ (Schulz)

„Das soll der Schulz gesagt haben“?, fragte Peter nach kurzem Schweigen.
„Nein, der Meister hat sich dieses Zitat einverleibt; das ist künstlerische Freiheit. Ich lasse Sie dann vorerst alleine. Melden Sie sich doch einfach bei Gelegenheit wieder an der Rezeption, sobald Sie sich eingerichtet haben.“ Daraufhin verschwand sie die Wendeltreppe hinunter.
„Einrichten?“, fragte Peter. „Womit denn? Wir haben doch gar nichts dabei.“
Sven guckte Peter freudestrahlend an. „Also mir gefällt es hier.“, sagte er und Peter spürte, dass in diesen merkwürdigen Hallen Kräfte auf seinen gutgläubigen Freund wirkten, die ihn einzunehmen drohten.

VII

„Guru ist doch Neusprech, oder?“, bemerkte Sven vorwurfsvoll.
„Dann ist Regent Uraltsprech!“, donnerte Peter. „Mal ehrlich, Sven, du mit deinen archaischen, romantisierenden Begriffen. Regent klingt so unterwürfig und passt irgendwie zu dir. Oh, Herr Regent, darf ich Ihnen die Füße küssen? Oh, Seine Durchlaucht der Regent, darf ich Ihnen die Arschhaare kämmen?“
Peter machte eine frivole Körperbewegung und schnitt dazu abschätzige Grimassen. Er bemerkte aber schnell, wie Sven leicht den Kopf hängen ließ.
„Ach, bevor es dir wieder die Sprache verschlägt, zurück zum Thema. Ich habe für heute einen Termin beim Guru veranlasst. Nicht, dass du denkst, ich wäre schlecht vorbereitet.“
Sven schüttelte ungläubig mit dem Kopf.
„Wieso Termin? Was soll das denn schon wieder?“
„Ja, wusstest du das nicht?“, fragte Peter. „Der werte Herr Schulz ist doch zum Gesundheitsapostel mutiert, hat jeglichem Laster abgeschworen und schwimmt jetzt im Geld, das ihm seine Jünger quasi freiwillig vor die Türe schmeißen.“
„Der Reg…, äh, der Guru?“
„Ja, der Schulz! Wer hätte das gedacht, oder? Aber dumm war der nie. Hat sich immer abgehoben von der Masse.“
„Aber wie? Ich meine, hier im Dorf, wie geht das? Und überhaupt hatte ich mir unter ‘mal hier rauskommen’ was anderes vorgestellt, als eine Pilgerreise zum Schulz.“ Sven blickte enttäuscht zu Boden.
„Tja, wie der das macht, werden wir gleich herausfinden. Und du müsstest mich doch mittlerweile eigentlich ganz gut kennen. Ich habe dieses Dorf in meinem ganzen Leben nur einmal verlassen und dabei wird es auch bleiben. Lass uns weiterfahren.“

So stiegen die beiden wieder auf ihre Fahrräder und radelten den altbekannten Weg zum Schulz, während in Sven wieder einmal eine kleine Welt zusammenstürzte. Er fürchtete sich geradezu vor dem Treffen mit Schulz, den er so heroisch in seiner Erinnerung trug, und der sich über die Jahre so verändert haben soll. Beobachten konnte er den Wandel im Dorf natürlich schon länger. Die Männer mit den Geschichten und den Bierbäuchen wurden älter, zum Teil opulenter, zum Teil hagerer. Die Geschichten blieben meist dieselben. Sven spürte, wie dieses gefühlt jahrhunderteübergreifende Bild des Dorfmenschen mit all seinen Facetten ins Wanken geriet. Dabei fühlte er sich seit jeher als passiver Beobachter dieses Verfalls, geduldet und integriert, aber dennoch fehl am Platz. Zwar spürte er die stillschweigende Akzeptanz der Gemeinschaft, zugehörig fühlen konnte oder wollte er sich aber nur selten. Er fragte sich oft, warum er immer bei den Alten stand und nicht bei den Gleichaltrigen. Auch ihnen fühlte er sich nicht zugehörig, noch weniger sogar, außer den paar, die bereits vor Jahren weggezogen waren.

Gedankenverloren erreichten sie die steile, lang gewundene Auffahrt zu Schulz’ Haus, als zarte Schneeflocken auf seine Hände fielen. Sie stiegen ab und Sven schaute glücklich in den Himmel. Solche Momente, dachte er, sind genau der Grund, warum er noch hier ist. Wozu einem flüchtigen Versprechen nach Glück hinterherjagen, das einem irgendwo in der Ferne zu warten suggeriert wird, wenn die ganze Reinheit der Existenz in den ersten Schneeflocken des Jahres auf heimischen Gefilden wie Balsam auf einen herabrieselt?

Sie schoben ihre Räder schwer atmend den restlichen Weg hoch und kamen an einem hohen, alles umspannenden, mannshohen und blickdichten Zaun zum Stehen. Sven sah ungläubig zu Peter, der ebenfalls überfordert schien.
„Tja, sagte Peter, Schulz hat scheinbar aufgerüstet. Mag wohl keine spontanen Besuche mehr. Hier ist die Klingel.“
Er betätigte sie und eine Frauenstimme ertönte: „Schulz’ Oase der Erholung, was kann ich für Sie tun?“
„Ähm, Peter und Sven hier, wir hatten einen Termin bei Schulz.“
„Kleinen Moment, bitte. Ah ja, Sie haben sich für das Schweigeretreat angemeldet, treten Sie ein.“
„Schweige-was?“, stammelte Peter, aber Sven fasste bereits den Türknauf und stieß die massive Eingangstür auf.

V

“Zeig mal her!”, sagte Peter und riss Sven das Buch aus der Hand.
31.10. Gebrauchsanweisung zum Schreiben eines Bestsellers.
Schritt 1: Bringen Sie möglichst viele Anspielungen zur griechischen Mythologie ein.
Schritt 2: Verwenden Sie Fremdsprachen, am besten Französisch.
Schritt 3: Vermeiden Sie…
“Bullshit!”, unterbrach Sven. Das denkst du dir doch gerade aus, du Hund! Nicht schon wieder diese Buchscheiße! Gib her!“
Also, 31.10. Gestern kamen doch tatsächlich diese verkleideten Bratzen hierher und kommen mir mit ‘Süßes oder Saures’. Unmotivierter und klischeehafter geht es nicht. Hätte ihnen gerne beides in Form von Schlägen gegeben, aber der Anstand, ja dieser verdammte Anstand… Habe stattdessen ein paar alte Dauerlutscher aus der hintersten Küchenschublade gekramt. Sollen sie sich doch daran die Zähne ausbeißen.
„Mo, unser Kinderfreund! Peter lachte lautstark und das Echo vibrierte im leeren Raum.
3.11. Vermeiden Sie unbedingt genaue Zeitangaben, z. B. die Abfolge von Daten.
Sven sah auf zu Peter, dieser lächelte nach kurzem Schweigen anerkennend zurück.
„Chapeau, mein Freund. Ein erster wichtiger Schritt deiner Besserung auf dem Weg zur Erkenntnis.“
„Jaja!“, sagte Sven und fuhr fort. „Aber das war’s. Die letzte Seite scheint zu fehlen, wurde rausgerissen.“
„Hmm, vielleicht der komische Zettel, den Hannes dabeihatte?“
„Hmm, gut möglich…“
„Und keine Adressen in dem Buch?“
„Warte, ich schaue weiter vorne. Boah, Mo hat echt viel geschrieben. Hier, ganz vorne ist ein Kapitel Stammgäste. Aber hier steht nur ganz wenig, die meisten Namen kenn ich gar nicht. Wer ist Werner?“
„Wahrscheinlich son Skatrentner.“, sagte Peter.
„Und Martin, Horst, Dieter?“
„Auch, denk ich mal.“
„Kein Wort von uns oder Hannes!“ Verzweifelt warf Sven das Buch in eine Ecke. „Das darf doch nicht wahr sein.“ Sven schluchzte jämmerlich.
„Ich hab eine Idee!“, frohlockte Peter.
„Bitte nicht!“
„Doch, das wird dir gefallen! Wir spielen ein Spiel. Wir gehen jetzt zum Bäcker und du bestellst Brötchen. Doch anstelle von Brötchen sagst du jedesmal Fotze, z. B.: Hallo, ich hätte gerne vier Fotzen. Ja, welche sollen’s denn sein? Eine Mehrkornfotze, zwei Käsefotzen, eine Kürbiskernfotze und zwei normale Fotzen. Aber das sind doch sechs. Und dann laufen wir schnell raus.“
Sven starrte regungslos zu Boden.
„Oder, noch besser, wir gehen ins Restaurant. Herr Ober, in meiner Suppe ist eine Fotze. Hat die Fotze denn gemundet? Ganz vorzüglich, danke. Darf ich Ihnen noch eine Fotze zum Nachtisch bringen? Gern, zwei bitte.“
Peter sah zu dem in sich gekauerten Sven herunter, trank sein Bier aus und sagte: „Hast ja recht; ist eher unwahrscheinlich, dass der Kellner da mitspielt.“
„Ich will nach Hause.“, wimmerte Sven.
Nachdem Peter sich noch einen großzügigen Schluck Bier gezapft hatte und diesen gekonnt exte, verkündetet er großmütig: „Ja, lass uns nach Hause gehen. War ein anstrengender Tag.“

Am nächsten Morgen riss Peter die Augen wie besessen auf und hievte sich aus Svens Badewanne. Seine Knochen ächzten, die Keramik knarzte, aber er musste Sven etwas extrem Wichtiges mitteilen. Er stürmte ins Wohnzimmer, wo dieser, noch immer völlig leblos, einfach rumstand und die Raufasertapete streichelte.
„Sven, ich weiß vielleicht, wo wir Antworten auf unsere Fragen erhalten. Ich habe erst kürzlich von jemandem gehört, der von sich behauptet, dass die Welt nur wegen seiner Existenz noch nicht komplett aus den Fugen geraten sei. Ein echter Guru, zu dem die Leute geradezu hinströmen. Mensch, Sven, das wird uns guttun, wenn wir hier mal rauskommen. Ne, Sven, ne!“

III

“Was heißt vom Dach gestürzt?”, fragte Sven entsetzt. “Und dann? Hast du ihn einfach liegen lassen?
“Achso!”, sagte Peter und fasste sich an den Kopf. “Lass uns mal hinschauen.” Er lachte künstlich, als würde er sich eines ziemlich dummen, vermeidbaren Fehlers bewusst.
Sven schüttelte sprachlos mit dem Kopf. In seinem Hirn ging alles drunter und drüber. Aufgeregt stammelte er: “Scheiße, los! Fahrrad!” und holte sein Mountainbike sowie ein altes Damenrad aus dem Keller. Peter musterte letzteres skeptisch. “Dein Ernst?”, fragte er. “Mein Ernst!”, sagte Sven. “Und jetzt los!”
Bis zum Schmiedehammer war es nicht weit, doch als Peter seinen massigen Körper auf das klapprige Rad bugsierte, dieses zu ächzen und stöhnen begann und der Reifendruck sich derart schnell verflüchtigte, als wären die Reifen geplatzt, sagte Sven einsichtig: “Wir tauschen.” Und so fuhren unsere Helden die kurze Strecke in gemächlichem Tempo, da Sven immer wieder auf Peter warten musste, bis sie nach wenigen Minuten am Schmiedehammer angekommen waren. Die Bar stand einsam und verschlossen an diesem grauen Novembernachmittag, von Hannes keine Spur. Peter stieg schnaufend von dem vor Erleichterung aufatmenden Mountainbike ab und schmiss es seitlich von sich in den Dreck.
“Peter!”, sagte Sven ernst, “Wenn das wieder so ne scheiß Luftnummer ist, ich schwöre dir, dann kriegst du bei mir Hausverbot.”
“Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass der vorhin noch hier lag.”, erwiderte Peter.
“Und warum hast du ihm dann nicht geholfen? Wie kommst du darauf, dass er vom Dach gestürzt ist?“
Peter warf die Stirn in Falten und überlegte einige Sekunden, was er antworten sollte.
“Willst du wissen, was in dem Brief steht?”
“Ist das denn wichtig?” Sven lachte hysterisch.
“Nee, aber komisch. Also, da steht…“:

An die Menschheit!
Als Exemplar deiner Gattung sowie Art- und Leidensgenosse, ist es mir ein besonderes Anliegen, ein paar Worte an dich zu richten. Wenn ich könnte, würde ich ab jetzt ohne Floskeln sprechen, ausnahmslos, ohne Kitsch und ohne Zweideutigkeit. Aber es wird mir nicht gelingen, so viel weiß ich bereits. Mit dir zu reden, ist wie Jonglieren mit brennenden Bällen. Selbst wenn du Handschuhe trägst, verbrennst du dich früher oder später und lässt sie fallen. Womit ich mein Versprechen, ohne Floskeln auszukommen, bereits gebrochen habe. Tut mir leid.
Mit dem Wort kommt die Perspektive, die Subjektive, die Anmaßung. Du kannst noch so viel Wahrheit in deine Rede mengen, am Ende stellt jemand alles Gesagte auf den Kopf. Gleichgesinnte – ja! Aber bleibt nicht die Gier deine treibende Kraft, die alles andere mit sich in den Abgrund reißt?
Hüte dich vor den ellenbogenschwingenden, leichenreitenden Großmäulern unter dir – dieses mit leeren Worthülsen um sich werfende, ewig zu dick auftragende, jedem etwas verkaufen wollende und nimmersatte Gesindel – und besinne dich auf dich selbst. Greif nicht nach den Sternen, sondern höre in dich rein.
Wer bist du?
Ich bin der, der lauthals lachen können möchte, ehrlich und ungezwungen, so dass es jeder hört und mitlacht, einschließlich meiner selbst, der von außen auf die lachende Person schaut; so dass mein Lachen alles vereinnahmt, auch mich. Und wenn mein Bauch dann schmerzt vor Lachen, trete ich hin zu mir und lasse den Beobachter herein, so wie es vorher noch nie ganz war, so wie es göttlich wäre. Siehe, dass ich du bin und du bist ich.
Hoffnung – vielleicht! Doch am Ende ist der Mensch ist dem Menschen… ein Mensch.

Ein Rascheln drang aus dem zugewucherten Blumenbeet vorm Schmiedehammer an die Ohren unserer Helden. “Ist das nicht…”, fragte Sven und näherte sich einem dichten Gebüsch, “…ein Fuß?” Das Rascheln wurde lauter und plötzlich erhob sich Hannes wie Phönix aus der Asche und erbrach an sich herunter. “Ihr…”, sagte er vorwurfsvoll, “…Esoterik-Schwuchteln!” Er wedelte abschätzig mit der Hand. “Ach, leckt mich am Arsch!”, bemerkte er und zog schwankend von dannen.

I

Es begab sich also zu einer Zeit, in der „Gott“ aus dem Fokus der Menschen gewichen war. An falschen Gottheiten mangelte es jedoch nicht. Es waren ihrer religiöse, kriegstreibende und konsumistische weitverbreitet. So taten sich im “Fragilen Säuferglück” echte Gottheiten zusammen und philosophierten über eben die unsägliche Zeit, in welche sie die Menschen hineinmanövrieren hatten lassen.

Dionysos, Hannes und Pan auf Barhockern am Tresen. Mo bedient.
D: “Mo, vier Wein und vier Kurze. Das muss gefeiert werden, dass du wieder da bist.”
Mo sieht verdutzt auf.
M: “Wieso ‘wieder’? Wo soll ich denn gewesen sein?”
P: “Ich hätte lieber ein Bier.”
H: “Pan, altes Gerippe, sprichst mir aus der Seele. Für mich auch Bier.”
Mo serviert einmal Wein, zwei Bier und drei Schnäpse.
D: “Auf die Rückkehr unseres V-Mannes. Auf Mo!“
Alle: “Auf Mo!”
Alle klopfen mit den Schnapsgläsern und verkippen einen Teil auf dem Tresen.
M: „Ich versteh kein Wort. Was soll der Scheiß?“
Die drei tauschen verschmitzte Blicke untereinander aus.
D: „Scheinst nicht mehr derselbe zu sein, Mo. Konnte man aber auch nicht erwarten, die ganze Zeit unter Menschenpack.“
H: „Ach, der hat nur Druck aufm Schlauch, hat bestimmt keine abgekriegt da unten, mit der Visage.“
P: „Im Gegenteil! Wer will schon mit gewöhnlichen Sterblichen…“
H: „Dass ausgerechnet du das sagen musst. Würdest doch auf alles springen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.“
P: „Wer im Glashaus sitzt…“
D: „Na na, die Herren, Contenance. Wir wollen Mo doch noch all den Jahren nicht gleich maßlos überfordern. Und außerdem, steht das V in V-Mann wohl kaum für Vögeln. Mo, mach uns nochmal vier Schnäpse und dann erzähl uns in aller Ruhe von deinen Erlebnissen auf der Erde.“
Mo schenkte den dreien Schnaps nach, presste die Handgelenke vom Körper weg auf den Tresen und beugte sich tief hinüber. Mit bebender Stimme: “Is hier Fasching oder was? Wie seht ihr eigentlich aus, ihr Vogelscheuchen? Schluss jetzt mit dem Affentheater oder ich schmeiß euch ein für allemal raus.“
P: „Oh je, den Guten hat’s ja voll erwischt. Paranoia, Schizophrenie oder schlimmer: Hirnfäule.“
D: „Ruhig Blut, junger Freund. Wir wollen dir nichts Böses. Eins nach dem anderen.“
H: „Ich sag’s doch: Der hat keine abgekriegt.“
Mos Kopf jetzt karmesinrot.
D zu H: Schweig, du hohler Klotz! Und dann verständnisvoll zu Mo: „Kannst du dich noch deiner Mission auf Erden entsinnen?

Dionysos holte tief Luft und beschrieb dem erzürnten Aushilfsbarkeeper, warum man ihn zu den Menschen entsandte. Als er endigte, schien Mo entgeistert und den Tränen nahe. Er, ein Spion der Götter auf Erden, nachdem diese auf einen anderen Planeten flüchten mussten? Die Menschen immer spitzfindiger bei der Erschließung des Himmels und seiner Sphären? Göttliche Frequenzen von NSA abgehört? Auf göttlicher Seite Schwierigkeiten bei der Überwachung der Menschen aufgrund starker Luftverschmutzung? Das Menschenprojekt außer Kontrolle geraten?

Mo geht theatralisch zu Boden.
P: „Und, Mo? Sag schon, was hat sich getan da unten? Was hast du die ganze Zeit gemacht?”
H: „Ja, rück endlich raus mit der Sprache.“
D: „Mo, wir können auch morgen darüber reden. Kein’ Stress.“
Mo, sich aufrichtend, eine Uralt-Partyrock-CD in den Player legend. „Life is life“ von Opus ertönt.
„Alles beim Alten. Nichts als Theater.“

V

Erstaunliche Leere. In Svens Kopf und ringsherum nur scheinbedeutungsschwangere Atmosphäre. Peters Blick und die arbeitssuchende Schar auf dem Präsentierteller. Bereits nackt, seelisch entkleidet, Stimmung im Keller. Peter macht sich rar und Sven bleibt allein in allumfassender Leere.

“Sie müssen zuerst eine Nummer ziehen!”, fauchte ihn die Empfangsfrau an, nachdem er gefühlt eine Stunde wie benommen im Wartezimmer saß und die Wand anstarrte.
“Aber ich habe einen Termin. Zimmer 113.”
“Der war vor ner halben Stunde.” Sie stieß einen monumentalen Seufzer aus. “Bitte nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Sie werden dann aufgerufen.”
“Ich muss zu Lydia.” Die Empfangsfrau schaut ihn teilnahmslos an. “Thomas würde auch gehen.” Leichtes Entsetzen machte sich auf dem Gesicht der Frau bemerkbar. “Bitte setzen Sie sich.”

Sven wurde das seltsame Gefühl nicht los, dass Peter ihm irgendwas verschweigt. Wenn er einen Bekannten beim Arbeitsamt hat, müsste dieser doch Lydia kennen. Das hätte Peter wiederum längst erfragen können, aber nun war er einfach verschwunden, so plötzlich wie er aufgetaucht war und dieses kranke Spiel mit ihm spielte. Die Vorstellung eines feindlichen Komplotts seines Freundes schien ihm jedoch unwirsch und er schmetterte den Gedanken so gut es ging ab. Dann ertönte sein Name. Es geht los, dachte er und folgte der Empfangsfrau durch einen schmalen Gang. Das Summen von Neonröhren begleitete die beiden, aber Sven konnte nicht ausmachen, ob es real war oder sich in seinem Kopf abspielte. “Da hinten, einmal die Tür links.”, sagte sie und verschwand wieder hinter ihrem Tresen. Unweigerlich musste er an Mo denken. Arbeitsamt und Bar, im Grunde das gleiche Klientel, nur sind betrunkene Kunden zufriedenere Kunden, wenngleich es sich um eine fragile Zufriedenheit handelt. Fragiles Säuferglück. Guter Name für eine Bar, dachte er. Was wird eigentlich jetzt aus dem Schmiedehammer? Hauptsache kein Tattooladen.

Er klopfte an die Tür. “Hereinspaziert!”, hallte es heiter zurück.
“Ach, Herr… , äh, Sven, kommen Sie doch rein. Nur keine falsche Scheu.”
Verdutzt trat Sven in das kleine Zimmer und schloss die Tür hinter sich. “Sagen Sie, kennen wir uns?”
“Wir? Uns? Nein, also wirklich, ich bin Ihr neuer Sachbearbeiter. Nennen Sie mich einfach Volker.”
Der korpulente Mann mit dem grauen Schnurrbart lächelte bis über beide Ohren und Sven konnte nicht anders, als auch ein wenig die Mundwinkel zu heben.
“Ja, Herr…, also Volker, ich hatte eigentlich einen Termin bei Lydia. Ist sie nicht hier?”
“Lydia?” Volkers Miene verfinsterte sich für den Bruchteil einer Sekunde, klarte dann aber umgehend wieder auf, so sehr, dass Sven glaubte, noch nie ein derart strahlendes Gesicht gesehen zu haben. “Kenn ich nicht. Aber ich hatte mal eine Großtante namens Lydia. Die war ein echter Drachen.” Er lachte laut auf und schien selbst derart überrumpelt von Svens Frage, dass sein Lachen ins Prusten überging.
“Das ist wirklich schade.”, warf Sven ein. “Ich hatte doch diesen Brief von ihr bekommen. Wo ist der denn gleich?” Sven stöberte in seinem Rucksack und ließ nach einer Weile enttäuscht davon ab. “Hab ich zu Hause vergessen.”
“Na na, Jungchen.”, entgegnete Volker gut gelaunt. “Behördenbriefe sind keine Liebesbriefe.” Er zwinkerte ihm mit dem linken Auge übertrieben zu.
“Sie hat rote Haare.”, erwiderte Sven.
“Papperlapapp! Frauen wechseln die Haarfarbe wie Unterwäsche. Da kann ja jeder kommen. Und überhaupt: Warum sind Sie eigentlich hier? Um einer fiktiven Frau nachzustellen oder um Arbeit zu finden?“ Sein Lächeln nahm jetzt unmenschliche Züge an. Sven starrte ihn ungläubig an. Wenn seine Mundwinkel noch einen Nanometer nach oben wanderten, würden seine Wangen sich unweigerlich über das gesamte Gesicht krempeln müssen. Ihm wurde angesichts dieser Vorstellung ganz mulmig.
“Geht’s Ihnen nicht gut? Nun, schauen wir mal, was wir für Sie tun können. Haben Sie sich fleißig beworben? Irgendwelche Rückmeldungen, positiv wie negativ? Immer raus damit. Sonstige Erfolge?”
Sven fühlte sich auf die letzte Frage angesprochen.
“Also ich habe neulich wieder ein Spiel auf PlayStation abgeschlossen. 100% – Platintrophäe. Darauf könnte ich verweisen.”
Volker tippte lachend irgendwas in seinen Rechner. “Interessen?”
“Biertittenforschung!”, brach es aus Sven raus.
“Fahren Sie fort.”
“Na, es wäre doch schön, wenn Frauen statt Milch auch Bier herstellen könnten. Die perfekte Zapfstation wird ja von der Natur bereitgestellt. So hätten Brüste ein Leben lang einen Nutzen.”
“Überqualifiziert!”, rief Volker erregt klatschend, während ihm die Gesichtszüge vollständig entglitten. “Sagen Sie, wollen Sie mich testen? Kein Wunder, dass Sie auf der Suche nach einer Frau sind.”
Plötzlich klopft es an der Tür. “Volker, kann ich reinkommen?”, tönte eine Frauenstimme.

III

“Und hier die Nachrichten um halb eins. Dreister Diebstahl: Auf der Baustelle des neuen Piercing- und Tattookomplexes in der Marktstraße wurden über Nacht mehrere hundert Kilogramm Stahl gestohlen. Die Polizei steht bisher vor einem Rätsel, vermutet die Täter aber in Beziehung mit illegalen Altmetall- und Rohstoffverwertungskreisen, die vor allem in Osteuropa Hochkonjunktur haben. Hinweise aus der Bevölkerung werden an das zuständige Polizeikommissariat erbeten.”
Ein zweiter Sprecher mischt sich ein.
“Unglaublich, diese Stahldiebe.”
“Nein, Diebstahl.”
“Ja, sobald die Diebe den Stahl stahlen, begingen sie Diebstahl.”
“Achso, dann macht einen das Stehlen von Stahl also zum Stahldieb.”
“Genau. Der Diebstahl begeht.”
Sven schaltete entnervt das Küchenradio aus. Er bereute die Entscheidung, es überhaupt eingeschaltet zu haben, aber in schwachen Momenten wünschte er sich nichts Anderes als Berieselung, harmloses Gedudel und ein bisschen Lokalkolorit, in der Hoffnung, es möge ihm die Sorgen des bevorstehenden Tages mildern, während er sein spätes Frühstück einnahm. Doch nach wenigen Minuten wurde er meistens furchtbar aggressiv, angesichts debiler Radiomoderatoren, die neben dümmlichen Diskussionen und altbackenen Alliterationen popartige Pissmusik anpriesen, als gäbe es nichts Besseres. Er dachte kurz darüber nach, das Radio einfach aus dem Fenster zu schmeißen, aber brachte es nicht übers Herz, schließlich war es ein Geschenk seiner Mutter zur letzten Weihnacht.

So holte ihn die Eingebung, dass er heute Nachmittag das Gespräch beim Arbeitsamt hatte, zurück auf den Boden der Tatsachen. Wie bereitet man sich auf ein solches Gespräch vor? Nicht, dass es Neuland für ihn wäre, aber das letzte lag schon eine Weile zurück. Zusätzlich die Nervosität, von dieser Lydia empfangen zu werden und die bange Frage, ob es sie überhaupt gibt oder ob er nicht schon komplett verrückt geworden sei. Zimmer 113. Vielleicht ein Code? Sven versuchte angestrengt, mit der Zahl im Kopf zu spielen, aber zu viel mehr, als die Quersumme zu bilden und genauso dumm dazustehen wie vorher, war er nicht imstande. Rote Haare – Satan? Hexe! Zu einfach! Es war wie immer, er kam nicht über kleine, harmlose Gedankenspiele hinaus und verlor sogleich die Lust daran. Es musste daher, wie so oft in seinem Leben, mit der altbewährten Methode klappen, die zu einer Art Lebensphilosophie für ihn geworden ist: ‘Augen zu und durch!’ Nein, zu einfach. ‘Das Glück kommt zu den Wartenden.’ Ja, schon besser. Das ganze Schlamassel ließe sich schon auseinanderklamüsern; davon war er überzeugt. Diese Lebenseinstellung war auch sehr erfolgreich bei der Abwehr störender Gedanken, z. B. bezüglich der Kürzung seiner Leistungen. Ohne das Geld wäre er echt in der Bredouille und er sah seine Mutter ihn schon vom Küchenfenster aus ins Elternhaus zurückwinken. Ach was, dachte er, und vertrieb die Vorstellung mit einer fächernden Handbewegung, als wäre sie eine Dunstwolke. Egal welche Demütigung heute von ihm abverlangt würde, Ein-Euro-Job, Sinnlosfortbildung oder Basteln mit Rentnern, er würde sein Lächeln nicht verlieren, im Gegenteil, er würde dem Teufel ins Gesicht lachen und zu allem Ja sagen. Denn das war seine stärkste Waffe: Andere glauben machen, dass ihm eine bestimmte Sache nichts ausmacht und dann subtil zurückschlagen. So hatte er einmal, während einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in einer Werkstatt, kleine Werkzeuge und -teile peu à peu in die eigene Tasche gesteckt, so viel, wie er für den Eigenbedarf brauchte und so wenig, dass es niemandem auffiel. Wenn er schon schlecht bezahlt würde, dann müsse er sich halt das zusammenklauben, was er verdiene. Das Wort Diebstahl kam ihm dabei gar nicht erst in den Sinn. Dann endete die Maßnahme und er zog mit einem guten Gefühl weiter. Sven grinste, als wäre beim Onanieren die Uhr stehengeblieben. “Oh, Gott, ich muss los!”, keuchte er und stürzte zur Tür hinaus.

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