V

Erstaunliche Leere. In Svens Kopf und ringsherum nur scheinbedeutungsschwangere Atmosphäre. Peters Blick und die arbeitssuchende Schar auf dem Präsentierteller. Bereits nackt, seelisch entkleidet, Stimmung im Keller. Peter macht sich rar und Sven bleibt allein in allumfassender Leere.

“Sie müssen zuerst eine Nummer ziehen!”, fauchte ihn die Empfangsfrau an, nachdem er gefühlt eine Stunde wie benommen im Wartezimmer saß und die Wand anstarrte.
“Aber ich habe einen Termin. Zimmer 113.”
“Der war vor ner halben Stunde.” Sie stieß einen monumentalen Seufzer aus. “Bitte nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Sie werden dann aufgerufen.”
“Ich muss zu Lydia.” Die Empfangsfrau schaut ihn teilnahmslos an. “Thomas würde auch gehen.” Leichtes Entsetzen machte sich auf dem Gesicht der Frau bemerkbar. “Bitte setzen Sie sich.”

Sven wurde das seltsame Gefühl nicht los, dass Peter ihm irgendwas verschweigt. Wenn er einen Bekannten beim Arbeitsamt hat, müsste dieser doch Lydia kennen. Das hätte Peter wiederum längst erfragen können, aber nun war er einfach verschwunden, so plötzlich wie er aufgetaucht war und dieses kranke Spiel mit ihm spielte. Die Vorstellung eines feindlichen Komplotts seines Freundes schien ihm jedoch unwirsch und er schmetterte den Gedanken so gut es ging ab. Dann ertönte sein Name. Es geht los, dachte er und folgte der Empfangsfrau durch einen schmalen Gang. Das Summen von Neonröhren begleitete die beiden, aber Sven konnte nicht ausmachen, ob es real war oder sich in seinem Kopf abspielte. “Da hinten, einmal die Tür links.”, sagte sie und verschwand wieder hinter ihrem Tresen. Unweigerlich musste er an Mo denken. Arbeitsamt und Bar, im Grunde das gleiche Klientel, nur sind betrunkene Kunden zufriedenere Kunden, wenngleich es sich um eine fragile Zufriedenheit handelt. Fragiles Säuferglück. Guter Name für eine Bar, dachte er. Was wird eigentlich jetzt aus dem Schmiedehammer? Hauptsache kein Tattooladen.

Er klopfte an die Tür. “Hereinspaziert!”, hallte es heiter zurück.
“Ach, Herr… , äh, Sven, kommen Sie doch rein. Nur keine falsche Scheu.”
Verdutzt trat Sven in das kleine Zimmer und schloss die Tür hinter sich. “Sagen Sie, kennen wir uns?”
“Wir? Uns? Nein, also wirklich, ich bin Ihr neuer Sachbearbeiter. Nennen Sie mich einfach Volker.”
Der korpulente Mann mit dem grauen Schnurrbart lächelte bis über beide Ohren und Sven konnte nicht anders, als auch ein wenig die Mundwinkel zu heben.
“Ja, Herr…, also Volker, ich hatte eigentlich einen Termin bei Lydia. Ist sie nicht hier?”
“Lydia?” Volkers Miene verfinsterte sich für den Bruchteil einer Sekunde, klarte dann aber umgehend wieder auf, so sehr, dass Sven glaubte, noch nie ein derart strahlendes Gesicht gesehen zu haben. “Kenn ich nicht. Aber ich hatte mal eine Großtante namens Lydia. Die war ein echter Drachen.” Er lachte laut auf und schien selbst derart überrumpelt von Svens Frage, dass sein Lachen ins Prusten überging.
“Das ist wirklich schade.”, warf Sven ein. “Ich hatte doch diesen Brief von ihr bekommen. Wo ist der denn gleich?” Sven stöberte in seinem Rucksack und ließ nach einer Weile enttäuscht davon ab. “Hab ich zu Hause vergessen.”
“Na na, Jungchen.”, entgegnete Volker gut gelaunt. “Behördenbriefe sind keine Liebesbriefe.” Er zwinkerte ihm mit dem linken Auge übertrieben zu.
“Sie hat rote Haare.”, erwiderte Sven.
“Papperlapapp! Frauen wechseln die Haarfarbe wie Unterwäsche. Da kann ja jeder kommen. Und überhaupt: Warum sind Sie eigentlich hier? Um einer fiktiven Frau nachzustellen oder um Arbeit zu finden?“ Sein Lächeln nahm jetzt unmenschliche Züge an. Sven starrte ihn ungläubig an. Wenn seine Mundwinkel noch einen Nanometer nach oben wanderten, würden seine Wangen sich unweigerlich über das gesamte Gesicht krempeln müssen. Ihm wurde angesichts dieser Vorstellung ganz mulmig.
“Geht’s Ihnen nicht gut? Nun, schauen wir mal, was wir für Sie tun können. Haben Sie sich fleißig beworben? Irgendwelche Rückmeldungen, positiv wie negativ? Immer raus damit. Sonstige Erfolge?”
Sven fühlte sich auf die letzte Frage angesprochen.
“Also ich habe neulich wieder ein Spiel auf PlayStation abgeschlossen. 100% – Platintrophäe. Darauf könnte ich verweisen.”
Volker tippte lachend irgendwas in seinen Rechner. “Interessen?”
“Biertittenforschung!”, brach es aus Sven raus.
“Fahren Sie fort.”
“Na, es wäre doch schön, wenn Frauen statt Milch auch Bier herstellen könnten. Die perfekte Zapfstation wird ja von der Natur bereitgestellt. So hätten Brüste ein Leben lang einen Nutzen.”
“Überqualifiziert!”, rief Volker erregt klatschend, während ihm die Gesichtszüge vollständig entglitten. “Sagen Sie, wollen Sie mich testen? Kein Wunder, dass Sie auf der Suche nach einer Frau sind.”
Plötzlich klopft es an der Tür. “Volker, kann ich reinkommen?”, tönte eine Frauenstimme.