VII

„Guru ist doch Neusprech, oder?“, bemerkte Sven vorwurfsvoll.
„Dann ist Regent Uraltsprech!“, donnerte Peter. „Mal ehrlich, Sven, du mit deinen archaischen, romantisierenden Begriffen. Regent klingt so unterwürfig und passt irgendwie zu dir. Oh, Herr Regent, darf ich Ihnen die Füße küssen? Oh, Seine Durchlaucht der Regent, darf ich Ihnen die Arschhaare kämmen?“
Peter machte eine frivole Körperbewegung und schnitt dazu abschätzige Grimassen. Er bemerkte aber schnell, wie Sven leicht den Kopf hängen ließ.
„Ach, bevor es dir wieder die Sprache verschlägt, zurück zum Thema. Ich habe für heute einen Termin beim Guru veranlasst. Nicht, dass du denkst, ich wäre schlecht vorbereitet.“
Sven schüttelte ungläubig mit dem Kopf.
„Wieso Termin? Was soll das denn schon wieder?“
„Ja, wusstest du das nicht?“, fragte Peter. „Der werte Herr Schulz ist doch zum Gesundheitsapostel mutiert, hat jeglichem Laster abgeschworen und schwimmt jetzt im Geld, das ihm seine Jünger quasi freiwillig vor die Türe schmeißen.“
„Der Reg…, äh, der Guru?“
„Ja, der Schulz! Wer hätte das gedacht, oder? Aber dumm war der nie. Hat sich immer abgehoben von der Masse.“
„Aber wie? Ich meine, hier im Dorf, wie geht das? Und überhaupt hatte ich mir unter ‘mal hier rauskommen’ was anderes vorgestellt, als eine Pilgerreise zum Schulz.“ Sven blickte enttäuscht zu Boden.
„Tja, wie der das macht, werden wir gleich herausfinden. Und du müsstest mich doch mittlerweile eigentlich ganz gut kennen. Ich habe dieses Dorf in meinem ganzen Leben nur einmal verlassen und dabei wird es auch bleiben. Lass uns weiterfahren.“

So stiegen die beiden wieder auf ihre Fahrräder und radelten den altbekannten Weg zum Schulz, während in Sven wieder einmal eine kleine Welt zusammenstürzte. Er fürchtete sich geradezu vor dem Treffen mit Schulz, den er so heroisch in seiner Erinnerung trug, und der sich über die Jahre so verändert haben soll. Beobachten konnte er den Wandel im Dorf natürlich schon länger. Die Männer mit den Geschichten und den Bierbäuchen wurden älter, zum Teil opulenter, zum Teil hagerer. Die Geschichten blieben meist dieselben. Sven spürte, wie dieses gefühlt jahrhunderteübergreifende Bild des Dorfmenschen mit all seinen Facetten ins Wanken geriet. Dabei fühlte er sich seit jeher als passiver Beobachter dieses Verfalls, geduldet und integriert, aber dennoch fehl am Platz. Zwar spürte er die stillschweigende Akzeptanz der Gemeinschaft, zugehörig fühlen konnte oder wollte er sich aber nur selten. Er fragte sich oft, warum er immer bei den Alten stand und nicht bei den Gleichaltrigen. Auch ihnen fühlte er sich nicht zugehörig, noch weniger sogar, außer den paar, die bereits vor Jahren weggezogen waren.

Gedankenverloren erreichten sie die steile, lang gewundene Auffahrt zu Schulz’ Haus, als zarte Schneeflocken auf seine Hände fielen. Sie stiegen ab und Sven schaute glücklich in den Himmel. Solche Momente, dachte er, sind genau der Grund, warum er noch hier ist. Wozu einem flüchtigen Versprechen nach Glück hinterherjagen, das einem irgendwo in der Ferne zu warten suggeriert wird, wenn die ganze Reinheit der Existenz in den ersten Schneeflocken des Jahres auf heimischen Gefilden wie Balsam auf einen herabrieselt?

Sie schoben ihre Räder schwer atmend den restlichen Weg hoch und kamen an einem hohen, alles umspannenden, mannshohen und blickdichten Zaun zum Stehen. Sven sah ungläubig zu Peter, der ebenfalls überfordert schien.
„Tja, sagte Peter, Schulz hat scheinbar aufgerüstet. Mag wohl keine spontanen Besuche mehr. Hier ist die Klingel.“
Er betätigte sie und eine Frauenstimme ertönte: „Schulz’ Oase der Erholung, was kann ich für Sie tun?“
„Ähm, Peter und Sven hier, wir hatten einen Termin bei Schulz.“
„Kleinen Moment, bitte. Ah ja, Sie haben sich für das Schweigeretreat angemeldet, treten Sie ein.“
„Schweige-was?“, stammelte Peter, aber Sven fasste bereits den Türknauf und stieß die massive Eingangstür auf.