I

Sven blickte müde auf den Laptop-Kalender. Er starrte eine Weile leeren Blickes darauf und plötzlich riss es ihn aus dem Gedankenvakuum. Er war abgeschweift. Erneut versuchte er, sich auf das heutige Datum zu konzentrieren und dann fiel es ihm ein. Er wollte seine Mutter besuchen, mit dem Fahrrad, denn er hatte kein Auto, wozu auch, hier im Dorf, wo alles übersichtlich und fußläufig erreichbar ist; und überhaupt zu teuer.

Es dämmerte schon wieder draußen, obwohl es erst kurz nach 16 Uhr war. “Ach, gestern wurde auf Winterzeit umgestellt”, fiel ihm ein und so machte er sich alsbald auf zu seinem Elternhaus. Die Luft war kühl und der Fahrtwind ließ seine Hände unangenehm kalt werden, aber noch nicht so, dass es schmerzte. Es deutete alles auf einen frühen Wintereinbruch hin, der wohl zur Weihnachtszeit, in der es, seiner Meinung nach, kalt sein sollte, längst wieder abgeklungen sein wird. Kurz darauf erreichte er das Haus und sah seine Mutter in der Küche an der Spüle stehen, die zur Straßenseite gerichtet lag. Sie erwiderte seinen Blick mit einer Art vorbereiteter Vorfreude, die sogleich einer vorwurfsvoll-enttäuschten Grimasse wich, die Sven nur zu gut kannte. Wissend, mit welchen Worten er empfangen würde, öffnete er die Haustür und sah seine Mutter auf ihn zugehen.
“Junge, hast du immer noch kein Licht?”
“Och, Mutter. Das Thema hatten wir doch schon tausendmal. Ich hab gute Augen.”
“Ja, aber andere Leute vielleicht nicht. Und dann liegst du eines Tages unter irgendeinem Auto und denkst an meine Worte.”
“Als ob ich ausgerechnet dann an deine Worte denken würde… Außerdem hab ich das voll im Griff. An Kreuzungen und Seitenstraßen fahr ich langsamer und halte lieber an, wenn ein Auto von der Seite kommt und der Fahrer mir den Blickkontakt verwehrt. Manchmal bremsen die dann abrupt ab, fahren dann ein Stück neben mir her, lassen das Fenster runter und brüllen irgendwas wie: “Kein Licht, du Arschloch!” oder einfach “Licht!”; und ich denk nur: “Seid ihr eigentlich total bescheuert? Muss ich mir von so einem fetten, alten Bonzen sagen lassen, der in seiner Uralt-Mercedes-Drecksschleuder seit Jahrzehnten ungestraft den Planeten verpestet, dass ich Licht an meinem Fahrrad haben soll? Nur weil sich der blöde Spacko beim Bremsen erschrocken hat? Und was soll immer dieses ‘Licht’, ‘Licht’? Sind die Wichser blind? Hätte ich Licht am Fahrrad, würde ich es ja anmachen. Aber ein ordentliches Fahrradlicht ist teuer. Wenn du son Billigding mit kaufst, kannste ja jeden Tag Batterien wechseln und bezahlst dich nachher dumm und dämlich.”
Sven sah die glasigen Augen seiner Mutter und hielt inne. Mit weinerlicher Stimme sagte sie:
“Nun komm doch erstmal in die Stube.”
Svens Mutter brachte Kaffee und Kuchen und beide setzten sich an den Esstisch.
“Wie geht’s dir so, Mutter?”
“Ach, wie soll’s mir schon gehen? Alles gut, Junge. Hast du mittlerweile Arbeit gefunden.”
Sven versuchte mit aller Kraft, seine empörte Standardausrede zu vermeiden, die gewöhnlich bei dieser Frage aus ihm herausbrach. Stattdessen sagte er ruhig: “ Ich muss diese Woche noch zum Arbeitsamt. Vielleicht ergibt sich irgendwas.”
Du weißt, du kannst jederzeit wieder zu mir ziehen. Dann sparst du dir die Miete.”
“Ich weiß, Mutter, danke, aber wir hatten das Thema. Ich möchte alleine wohnen.”
Wortlos nippten beide an ihren Tassen und aßen ihren Kuchen auf.
“Nimm noch einen Lebkuchen, Sven.”
“Wohl eher Stirbkuchen, bei all dem Zucker”, dachte Sven und verfluchte seine Gedanken.
Wozu über den vielen Zucker meckern, der überall drin ist, wozu seine Mutter damit behelligen, warum überhaupt mir ihr reden, sie versteht ja doch nichts. Dieses kleinbürgerliche Leben, Selbstgefälligkeit. Darin sind sie und das Dorf versunken und daran wird hier einmal alles zugrunde gehen. Internet als Ausweg und gleichzeitig Tor zur Hölle. Wäre dieses Tor nur verschlossen geblieben oder an mir vorbeigegangen. Ich wünschte meine Geburt in einer anderen… ach, was soll’s.
“Hast du von der Sache im Schmiedehammer gehört? Der Barkeeper soll doch verstorben sein.”
Sven sprang von seinem Stuhl auf. “Keine Ahnung. Ich muss dann auch mal wieder. Bis nächste Woche. Und danke für den Kuchen.”

Sven schwang sich auf sein Fahrrad und radelte schnurstracks davon. Seine Augen wurden feucht, sei es durch den Fahrtwind oder die Gedanken an vorgestern Nacht. Er fuhr mitten auf der Straße, um die Autofahrer oder irgendjemanden zu provozieren, sodass man ihn anbrüllen möge und er zurückschreien könne, rausschreien, was schon viel zu lange in ihm rumorte, aber niemand tat ihm den Gefallen, böse auf ihn zu sein.

IX

Was für eine schwachsinnige Idee. Jetzt noch zu Mo. Da ist doch eh keiner mehr. Sven war angestachelt von der Tatsache, dass er zu dieser späten Stunde nochmals rausging. Es widersprach seinem Wesen. Noch nie war er zweimal in einer Nacht im Schmiedehammer und noch nie hatte er sich dazu überwunden, einen derartigen Aufwand zu betreiben, um jemanden wegen einiger kaum relevanter Fragen bezüglich Arbeitsamt und griechischer Gottheiten zu behelligen. Doch er war sich sicher, dass die Begegnung Antworten parat hielt, die ihm von großem Nutzen sein würden. Feuer und Ekstase. Nicht gerade Begriffe, die man mit ihm in Verbindung bringen würde.

Ignoriere den Drachen
Erschlag zuerst die Wachen

Der Geruch von etwas Schönem in seiner Nase. Wovon? Jetzt mache ich mir mal ernsthaft Gedanken darüber. Von Bäumen. Wie geschnitten Bäume, Baumstämme. Baumstümpfe? Nasses Holz. Aber nichts Totes konnte so schön riechen. Oder sich im Tode Befindliches. Der Wald lebt, und so der Baum mit seinen Wurzeln.

Mystischer Leichtsinn
Quell der Gedanken
Im Unterholz ranken
schwankende Träume
still vor sich hin.

Wie am Ende, so zu Beginn
Menschen sich zanken
Die gesunden und kranken
Tief rankende Bäume
Pan, oh sieh, wer ich wirklich bin

Harz! Ja, das Baumblut. Es duftet nach Unsterblichkeit, aber wie kann das sein? Harz riecht gut, Hartz IV stinkt. Warum wollte er ausgerechnet mit Mo über solche Dinge sprechen? Er mochte den Umgang mit Menschen im Allgemeinen nicht sonderlich, aber Mo? Noch nie hatte er sich mehr als zwei Sätze allein mit ihm unterhalten. Immer nur im Schmiedehammer, mit anderen; und wenn Peter mal aufs Klo ging und er alleine mit Mo zurückblieb – kein Wort oder nur etwas völlig Belangloses. Er war kein Typ für diese Bargespräche wie sie andere führen konnten, z. B. Hannes oder Stammgäste, die sich mir nichts dir nichts an den Tresen setzen, eine Zigarette anzünden und stundenlang den Barkeeper mit ihren Lebensgeschichten bedienen. Die Hauptaufgabe eines Barkeepers ist wohl, diesen Geschichten zuzuhören und den Eindruck zu vermitteln, dass man versteht, was der andere meint und das Gespräch am Laufen zu halten. Wie man das glaubwürdig anstellt, war Sven ein Rätsel.

Übe Rache an seinen Gesandten
Geh über die Leichen seiner Verwandten

Sven verließ den Waldweg und erreichte die Straße zum Schmiedehammer. Von weitem sah er Licht in der Küche brennen. Er atmete tief durch. Blöde Idee. Die Tür war geöffnet, kein Gast mehr da. “Mo?”, rief er vorsichtig. Keine Antwort. Er wusste, dass Mo im ersten Stock des Gebäudes wohnte und blickte die Treppe herauf. “Mo?” Wirklich eine saudämliche Idee. Als er die ersten Schritte hinauf zu Mos Wohnung tat, hörte er ein lautes Poltern aus der Küche. “Scheiße!”, murmelte Sven und stürzte so schnell es ging die Treppe herunter zur Tür hinaus.

Mach auch vor seinen Kindern nicht Halt
Tu wie befohlen, Erlösung kommt bald.

VII

Mo rieb sich die Augen und ging schweren Schrittes zum Tresen. „Ihr zwei habt mir gerade noch gefehlt. Von was für einem Brief faselst du? Guck doch in der Jacke, die du hier gestern vergessen hast.“
„Oh! Ach ja!“, sagte Sven und langte nach der Jacke an der Garderobe.
„Na, ihr Hübschen, warf Hannes ein. Wieder in baller gewesen gestern?“
„Naturellement, rief Peter selbstgefällig. Wir sind nur unserer wochenendlichen Pflicht nachgekommen. Saufen und nach Hause laufen.“
„Spinner! Und wie läuft die Arbeitssuche?“ Hannes lachte.
„Ja, muss, wieso, nee, ach, frag lieber Sven. Das Thema Arbeitsamt zieht sich zurzeit wie ein roter Faden durch seinen Alltag.“ Peter konnte nicht anders, als das Wort “rot” besonders stark zu betonen.
„Na dann, wie sieht’s aus Sveni?“
Sven, der sämtliche Koseformen seines Namens hasste, reagierte nicht.
„Sven!“, stieß Peter ihn in die Rippen.
„Hä, was soll die Scheiße?“ Er musterte ungläubig den Brief vom Arbeitsamt, den er unter dem Tresen versteckt hielt. „Verdammt, hatte ich fast vergessen.“
„Was isn das?“, fragte Hannes und beugte sich weit über die Bar, um einen Blick zu erhaschen.
„Los, mach auf!“, sagte Peter.

Mo stellte zwei Bier auf den Tresen und blickte ebenfalls gespannt auf den grauen Kuvert aus recyceltem Altpapier, den er nur zu gut kannte.
„Hö!“, lachte er höhnisch auf. „Das kann ja nichts Gutes sein. Mir habense neulich das Arbeitslosengeld gekürzt, die Schweine. Weil ich die Meldepflicht vernachlässigt habe oder so.“
„Du bist arbeitslos?“, erklang es aus drei durstigen Kehlen gleichzeitig. Darauf eine seltsame Schweigepause und dann Gelächter.
„Mo“, stotterte Peter unter Lachen, „bist du freiwillig hier?“
„Freiwilliges Gastronomisches Jahr“, fügte Hannes hinzu und alle waren nicht mehr einzukriegen.
„Ich bin auf Aufaffer, ihr Stocken. Äh… Aufstocker, ihr Affen.“
„Aufaffer!“, grölten die drei, während Peter und Hannes sich festhalten mussten, um nicht vom Barhocker zu kippen.

Nachdem das Lachgewitter langsam abgeklungen war, fragte Hannes, sich stark zusammenreißend: „Was ist denn ein Aufstocker?“
„Das ist, wenn man arbeitet, der ganze Scheiß aber nicht zum Leben reicht und man sich den Rest beim Amt erbetteln muss.“, entgegnete Mo humorlos.
Eine ernüchternde Pause folgte und auf einmal war es so still im Schmiedehammer, das die Stille unsere Helden vollends einnahm. Gedankenverloren starrten sie vor sich hin, geistesabwesend, betrübt. Es war, als wären sie in einem Ozean des Schweigens gesunken und alle Mühe, nach oben zu gelangen, war vergebens, denn was hätte ihr Auftauchen bewirkt, außer ein paar kleine Wellen und ein bisschen Gischt am unerreichbaren Strand?
„Ist schon scheiße.“, sagte Peter leise.
„Ja, is scheiße.“, murmelte Sven.
„Scheiße!“, flüsterte Hannes.
„Nun lasst mal die Köpfe nicht so hängen. Ich spendier ne Runde Schnaps. Sven, willste nich endlich mal deinen Brief aufmachen?“
„Ja genau, nu mach endlich!“, forderten Peter und Hannes.
„Okay okay! Ich mach ja schon.“

Sven öffnete vorsichtig den Brief und begann zu lesen. Als er fertig war, blickte er verstört in die Runde.
„Nun sag halt! Was steht drin?“
Er zitierte Fragmente aus dem Brief: „Aufforderung zur Mitwirkung – Komm nächsten Montag persönlich vorbei, Zimmer 113 – Bei Nichterscheinen werde ich dich hart bestrafen – Kuss, Lydia. Darunter ein roter Lippenstiftfleck.

Peter klopfte Sven beglückwünschend auf die Schulter. Hannes sah aus, als hätte er einen Geist gesehen und wollte Sven den Brief aus der Hand reißen. Mo stellte drei Schnäpse auf den Tresen und sagte: „Also, irgendwie klingen die Briefe vom Amt bei mir immer anders.“

V

„Geh lieber nicht ins Bad.“, sagte Peter. „Ich war grad kacken.“ Sven stand wie paralysiert vor der Badtür als der Hauch des Todes ihn umnebelte. Er fürchtete Peters Ausdünstungen, nicht nur wegen dessen Körperfülle, auch wegen seiner ungesunden Lebensweise, aber vor allem nachdem er die Nacht zuvor gesoffen hatte und kaum geschlafen. Dann, ja dann nahmen die Abgase diabolische Züge an und drohten jegliches Leben im Umkreis von zehn Quadratmetern unwiderruflich zu kontaminieren. Ausgerechnet jetzt und in meiner Wohnung, dachte Sven und schrie: „Mensch Peter, Scheiße hier, das stinkt ja wie n Affenarsch, widerlich, pervers, Alter ich kotz gleich.“ Sven musste Luft holen, atmete aber nur einmal kurz durch den Mund ein. „Boah, wie’s mich aufregt. Nach so ner Nacht, mein Lauf war auch beschissen, will nur noch heiß duschen und dann bist du die ganze Zeit hier, splitterfasernackt und scheißt mir die Hütte voll. Fuck!“

„Weißt du, was mich aufregt?“, fragte Peter nach einer dramaturgischen Pause in ruhigem Ton. „Diese 12jährigen mit Bart. Da wirste doch bekloppt. Fahren ganz cool mit ihren Fahrrädern an dir vorbei, glotzen dich blöde an und merken im besten Fall noch selbst wie scheiße sie aussehen und drehen sich dann weg. So was ist doch nicht normal! Unnatürlich ist das! Mein Schiss hingegen ist Natur, da weiß man wenigstens, was man hat. Der kriecht dir geradewegs in die Nase und sagt dir, was Sache ist. Nicht wie dieses bärtige Mulattenpack.“

„Ach Peter, das ist doch rassistisch. Außerdem kannst du deinen Schiss nicht mit frühpubertären Jugendlichen vergleichen. Und was soll das mit natürlich und unnatürlich? Nachdem, was du gestern alles in dich reingeschüttet hast, kann man wohl kaum noch von natürlichen Ausscheidungen sprechen.“

„Schweig, du Narr! Wenn ich Mulatte sage, dann meine ich Mulatte.“
„Du meinst einfach Typen mit dunklen Haaren und zu viel Testosteron.“
„Mulatten!“
„Anderes Thema: Warum kackst du eigentlich nackt?“
„Das ist doch dasselbe Thema! Keine Ahnung… Weil ich so aufgewacht bin.“
„Schläfst du immer nackt?“
„Normalerweise nicht.“
„Und wo hast du überhaupt geschlafen?“
„Im Bad halt.“
„Willst du dir nichts anziehen?“
„Ach, Sven, das führt doch zu nichts. Ich meine unsere Konversation jetzt hier. Kneif doch mal nich die Arschbacken so zusammen. Ich werd mich schon zu benehmen wissen in deinen vier Wänden. Bin ja nicht das erste Mal hier.“
„Da bin ich ja beruhigt.“, sagte Sven ironisch und atmete versehentlich tief ein. Er brach in heftiges Husten aus, das in unappetitlichem Würgen gipfelte.
„Haha, wie bei der Musterung früher. Nur, dass du da aus Scham nicht so kräftig husten wolltest.“
„So, mir reicht’s jetzt. Geh mir aus dem Weg, ich will duschen.“
Auf einmal ging Peter vor Sven mitten in der Tür in die Brücke. Das hatte Sven noch nie zuvor gesehen. Er zweifelte in diesem Moment an allem, woran er je geglaubt hatte. Wie war dies überhaupt anatomisch möglich? Ein nach hinten gebeugter Fleischberg auf leicht zitternden Armen und Beinen, ein leblos herabhängendes Gemächt, das ebenfalls den Eindruck vermittelt, als wäre es von der spontanen Aktion des Hauptkörpers überrumpelt worden. „Über diese Brücke musst du gehen!“, ließ Peter triumphierend verlauten und fing an zu lachen.
Wie lange mochte Sven fassungs- und reglos in dieser Situation verharrt haben? Wir vermögen es nicht zu sagen. Als er in der Dusche wieder zu sich kam, streichelte er seinen Bauch, spannte sämtliche Muskeln an und posierte schließlich zufrieden vor dem Spiegel. Straffer Abend, straffer Körper, dachte er und zog eine positive Bilanz unter die gestrige Nacht, die absurden Ereignisse mit Peter und überhaupt sein ganzes Leben.

III

“Ich beobachtete das Schauspiel schon seit geraumer Zeit mit regem Interesse. Von einer Kakerlake kann wohl kaum die Rede sein. Nicht zu dieser Jahreszeit, ja nicht mal auf diesem Breitengrad. Das Insekt, das auf deinem Augapfel Platz nahm und dir Kopfzerbrechen bereitete, war maximal in der Kategorie eines gewöhnlichen schwarzen Käfers anzusiedeln, vielleicht aber auch nur eine Kellerassel.” Sven wollte scherzhaft einwerfen, dass sie sich beide ja gar nicht in einem Keller aufhielten, steckte aber zurück, um den in dieser Situation und auch für Peter eher ungewöhnlichen, aber fesselnden Vortrag, weiterzuverfolgen. “Ein Vogel pickt nicht einfach so nach einem Käfer oder einer Assel. Er bevorzugt Gewürm, saftige Körner, allerlei Geschnetz und lässt sich überdies nicht auf unvorsichtige Nähe mit Menschen ein. Oder meinst du, er fühlte den Rausch in uns und sich darum sicher? Oder war er gar den Umgang mit Menschen gewohnt? Das glaube ich nicht. Nein, ich kann es nicht glauben. Sven, dieser Vorfall riecht verdächtig. Es ist besser, wenn wir jetzt nach Hause gehen und uns ausruhen, bevor noch etwas Schlimmes passiert. Komm, wir gehen!”

Sven erwachte am frühen Nachmittag mit dickem Schädel in seinem Bett. “Was war das denn bitte?”, musste er laut denken und seine Beine zuckten in Erregung. Und dieser Abschluss – Wie kann man nach einer solchen Nacht noch so geistesgegenwärtig sein, fragte er und ließ sich Peters Plädoyer nochmal durch den Kopf gehen.
Er stapfte zum Kühlschrank und erblickte freudig die Schokomilch, aber Zweifel schossen sofort durch seinen Kopf – Ach, ich wollte doch heute noch laufen gehen – und beruhigte seinen Geist mit der Aussicht, sich die Milch nach dem Lauf zu gönnen. Zum Frühstück gab es also Toast und Wasser. Letzteres hätte ich vor dem Schlafengehen trinken sollen. Er fühlte sich ausgetrocknet und sein Magen war flau. Seine innere Stimme versuchte ihm das Laufen auszureden, aber er wusste dem Schweinehund ein Schnippchen zu schlagen.

So machte er sich wenig später tatsächlich auf die Socken. Wofür eigentlich, mag der geneigte Leser an dieser Stelle denken. Nun, Sven trainierte kontinuierlich für einen einzigen Laufwettkampf im Jahr, der immer zur Herbstzeit im Nachbarort stattfand und durch die bergige Landschaft seiner Heimat führte. Ein anspruchsvoller Lauf, der ein ordentliches Maß an körperlicher Fitness voraussetzt und für Anfänger fast unmachbar erscheint, aber dennoch nicht so lang, dass er sich trainingstechnisch übernehmen musste. Man könnte sagen, dass dieser Lauf die einzige Konstante in Svens Leben war.

Keuchend ging er zu Werke, die anfängliche Steigung machte ihm mehr als üblich zu schaffen. Sein Puls stieg sogleich in bedenkliche Höhen, fing sich kurz darauf wieder, und so lief er sich ein, fand seinen üblichen Rhythmus und verlor sich alsbald in sprudelnden Gedanken, so klar und wohlgeordnet, wie er sie nur mit sich allein im Wald auszumachen vermochte:

Wir sind jetzt sieben und in wenigen Jahren neun Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Schwul sein ist eklig. Wenn zwei Frauen sich küssen oder lecken, geht das Ordnung; Schleckliesel, hihi. Unser aller Lebensstil ist aus den Fugen geraten. Wir müssen zurückschrauben. Wie kann man seinen Schwanz nur in den Arsch… von nem Typen…? Bei ner Frau ist das okay. Wenn wir alle nach dem Prinzip ‘Lebe jeden Tag so, als wäre es dein letzter’ leben würden, können wir ja auf alles, was nach uns kommt, pfeifen. Zu einem erfüllten Leben gehört die Fortpflanzung, die Vereinigung von Mann und Frau, Familie. Zu viel Zucker macht krank. Die Pharma- und die Lebensmittelindustrie arbeiten zusammen, um uns krank zu machen. Die Medien unterstützen dies. Boah, wenn sich zwei Kerle öffentlich küssen, könnt’ ich kotzen. Aber die können ja trotzdem nett sein. Durch Analsex kann kein neues Leben entstehen. Ist er dann sinnlos oder hilfreich? Übermäßiger Zuckerkonsum kann zu Diabetes II führen und impotent machen. Fluch oder Segen? Während sich die Menschen in den Entwicklungsländern vermehren wie die Karnickel, sieht man in vielen Industrieländern rückläufige Tendenzen. Ist das Evolution oder gewollt? Die tödlichste Waffe des Menschen ist die Sprache. Sprache ist in meinem Kopf und ich kann sie nicht ausschalten. Wenn alle dieselbe Sprache sprächen, oh Gott, wie furchtbar. Oder nicht? Durch Missverständnisse in der Sprache entstehen Konflikte. Durch Ressourceninteressen weiten diese sich aus zu Kriegen. Die Medien sagen etwas anderes. Zucker bleibt billig und ist überall drin. Die Gedanken sind frei, Sexualität auch. Was auf mein Land zutrifft, trifft nicht zwingend auf ein anderes Land zu. Wir drehen uns im Kreis. Ich drehe mich im Kreis und mir ist schwindelig. Und Jesus sagt: „Eure Rede aber sei: Ja, ja — nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.“

I

Weit kam unser schwergewichtiger Held jedoch nicht. Hechelnd sprang er nach ein paar Metern ins erstbeste Taxi und wies den eingedösten Fahrer an, gottverdammtnochmal aufs Gas zu treten. Und siehe da, nachdem dieser Folge geleistet und Peter sich im Verklingen der Stimmen und Verblassen der Lichter sicher wähnte, realisierten beide, dass sie sich schon bei der Hinfahrt begegnet waren. Sichtlich genervt vom Anblick des vormals furzenden Fahrgasts, sagte der Fahrer: “Ah, du wieder. Wo ist denn dein Freund?” und verkniff sich einen bissigen Kommentar. “Ja, komm!”, sagte Peter. “Der is früher nach Hause. Jetzt fahr erstmal, geht dich sowieso nichts an.”
“Weißt du, eins ist mir vorhin klar geworden.” Er blickte zu Peter, der ihn gekonnt ignorierte. “Ich hab’ keinen Bock mehr. Leute wie du und dein Freund, pöbelndes Gesocks, Typen, die mir das Auto zuscheißen und zukotzen; darauf hab’ ich einfach keinen Bock mehr.” Peter horchte auf. “Jetzt versteh mich nicht falsch, ich weiß schon, dass der Job das mit sich bringt und überhaupt sind die meisten Gäste wahrscheinlich so normal ganz in Ordnung, aber ich hab‘ echt kein’ Bock mehr. Und dafür bin ich dir eigentlich sogar dankbar, also dir und deinem Freund. Ihr wart vorhin so das Zünglein an der Waage, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Denn morgen ist Schluss. Ab morgen lass ich das Taxifahren sein und mach was anderes.“
Peter senkte enttäuscht den Kopf. Nach einem tiefen Seufzer, sagte er schließlich: “Ist das alles?” Der Taxifahrer zuckte mit den Schultern. “Was meinst du?”
“Ob das alles ist, was du mir zu sagen hast? Also außer diesem pathetischen Stuss von wegen ‘Ich schmeiß’ hin und mach’ morgen was anderes’-Gesabber. Ich wurde gerade in der abgefuckten Dorfdisse Zeuge einer Tragikomödie monumentalen Ausmaßes und jetzt kommst du mit deinem Midlife-Crisis-Scheiß. Ich dachte, du wärst mehr als das.“
Der Taxifahrer hielt abrupt an. “Wie meinst du das?“
“Du stehst wohl auf Wiederholungen, was? Ich sagte, ich dachte, du wärst mehr als das!”
Verblüfft starrte der Taxifahrer Peter an, als hätte dieser ihm die Existenzfrage gestellt. Peter öffnete indes die Tür und sagte beim Aussteigen nochmals mit sanfter Stimme: “Ich dachte wirklich, du wärst mehr als das.”

“Scheiße, wo bin ich denn jetzt hier gelandet?” Peter musste sich kurz orientieren. Er war am Ortseingang und hatte noch etwas Fußmarsch vor sich. Eine Abkürzung durch den Wald schien ihm angebracht. Der Morgen dämmerte bereits und eine rötlich-schwache Sonne stieg an der Himmelslinie empor. Peter atmete kalte, klare Luft, die ihn zum Besteigen eines Hügels beflügelte. Oben angekommen sah er einen Mann, der mitten auf der Wiese schlief. Es war Sven. Erleichtert ließ er sich neben ihm nieder und blickte auf das Dorf. Wenn Zeit etwas Menschengemachtes ist, wer bestimmt dann, dass sie vorwärts läuft? Mit diesem Gedanken schlief auch er ein.

VII

Mo las den Brief bereits zum dritten Mal. Er war vom Arbeitsamt.

“Sehr geehrter Herr Kieslowski,

da Sie zum wiederholten Mal Ihrer Meldepflicht beim Jobcenter nicht nachgekommen sind, sehen wir uns gezwungen, Ihr Arbeitslosengeld II mit sofortiger Wirkung um weitere 30% des Regelsatzes zu reduzieren.

Wir machen Sie weiterhin darauf aufmerksam, dass bei einem weiteren Verstoß gegen die Meldepflicht Ihr Anspruch auf Sozialhilfe komplett entfällt. Wir fragen Sie: Ja, wollen Sie das etwa?

Bitte beachten Sie zum Thema Meldepflicht folgende Vorschriften:

– Sämtliche Tätigkeiten, die einen monetären Vorteil für Sie nach sich ziehen, haben Sie umgehend dem zuständigen Jobcenter mitzuteilen und detailliert aufzuzeigen.

– Ohne Moos nichts los! Für Sie bedeutet das: Sie gehen nicht über Los und bekommen daher auch kein Moos.

– Sollten Sie unerwartet Stuhlgang antizipieren, haben Sie auch dies unverzüglich dem Jobcenter mitzuteilen. Kleinere Geschäfte können mit einer Vorschussfrist von 15 Minuten, größere Geschäfte mit einer Frist von 30 Minuten angemeldet werden, um Ihre ständige Erreichbarkeit zu gewährleisten. Eine Nachmeldung ist nur möglich, wenn Sie Ihrem Jobcenter binnen 12 Stunden eine entsprechende Stuhlprobe zukommen lassen, aus der eine offensichtliche Dringlichkeit Ihres keramischen Anliegens hervorgeht.

Bei Missachtung eines oder mehrerer der oben genannten Punkte werden, wie bereits erwähnt, Ihre Sozialleistungen gestrichen. Wir fragen Sie daher nochmal: Wollen Sie das?

Mit freundlichen Grüßen

“…deine Mudda!”, stieß Mo keifend aus, sich ungläubig die Augen reibend. Was für ein beschissener Morgen, dachte er und konnte in Gedanken einige Paragrafen des Briefes überhaupt nicht fassen, geschweige denn verarbeiten. “Wollen Sie das?”, äffte er in spöttischem Ton den Wortlaut des Textes nach. “Ja, klar will ich das, du dumme Fotze. Boah ey, und scheiß kalt in der Butze hier.”

Er goss heißes Wasser in eine Tasse mit löslichem Kaffee und schlurfte zum Wohnzimmer. Ungelenk ließ er sich in seinen Fernsehsessel fallen und verkippte etwas Kaffee über seinen Pullover. “Heiß, verdammte Scheiße!”, grummelte er und schaltete den Fernseher ein.

“Wie sieht die Welt in hundert Jahren aus?”, sagte ein Sprecher. “Wir haben mit versch…” Mo schaltete wieder ab. “Wie die Zukunft aussieht, willst du wissen? Das kann ich dir sagen.“ Und er begann, das längste Selbstgespräch seines Lebens zu führen:

„Wenn die Atombomben fallen, wird nichts übrig bleiben. Nichts, außer Kakerlaken und Tauben. Und die Tauben werden so groß werden wie eine Boing 737 und die Kakerlaken so groß wie Leopard-II-Panzer. Und die Tauben werden auf die Erde scheißen. Enorme Batzen, ätzend wie Säure und beim Aufprall so erschütternd wie Erdbeben. Und die Kakerlaken werden sich unter ihren pechschwarzen Panzern verkriechen, perfekt getarnt auf verbranntem Boden. Und sie werden in Scharen über die Taube herfallen, die es wagt, am Boden nach einer einzelnen Kakerlake zu picken. Bis zur absoluten Vernichtung allen Lebens auf der Oberfläche des Planeten Erde wird dieser Kampf geführt werden. Und danach wird sich der Planet ein paar hunderttausend Jahre Verschnaufpause gönnen. Und dann werden wieder hässliche Plattfüßer aus dem Wasser steigen. Und dann werden wieder Affen auf Bäume klettern. Und dann werden Affen wieder vom Baum steigen. Und dann werden sich die abgestiegenen Affen wieder Anzüge anziehen und geschwollenen Scheißdreck labern. Und dann haben wir wieder den Salat.“

V

“Guck mal da!”, riss Peter seinen Freund unsanft aus dessen Tanzbestreben. “Da ist ne Rothaarige.” Benommen blickte Sven umher und versuchte, Peters schwankenden Finger zu fokussieren, der auf die gegenüberliegende Seite der U-förmigen Bar zeigte. Dort nahm gerade eine Frau mit roten Haaren Platz. “Das ist die nich’.”, sagte Sven enttäuscht. Und so setzten sich die beiden wieder und bestellten eine neue Runde.

“Weißt du, was mir beim Tanzen bewusst wurde?”, fragte Sven nach einer Weile, die Frau gegenüber beobachtend.
“Nö.”, erwiderte Peter angeödet schnaufend.
“Dass in vielen Werken der Weltliteratur immer wieder Französisch gesprochen wird.”
Leicht verwirrt fragte Peter: “In französischen Werken oder wie?”
“Nein, allgemein. Zum Beispiel im ‘Zauberberg’ oder ‘Krieg und Frieden’.”
“Aha!”
“Ja, meistens im Dialog mit Frauen. Als ob Französisch der totale Antörner wäre, der die Frauen rallig macht, also auf so ‘ner emotionalen Ebene trifft.”
“Oho!”
“Wenn ich’s mir recht überlege, sollte ich das vielleicht auch mal ausprobieren. Ich hab doch ziemlich lange Französisch in der Schule gehabt und trau’ mir das zu.”
Mittlerweile hatte sich ein junger Mann zu der Frau gesellt, der angeregt auf sie einredete.
“Soso!”, sagte Peter nach einem kurzen Moment der Stille. “Was traust du dir zu? Die Alte auf Französisch anzulabern? Alter, ich halt’s nicht mehr aus mit dir. Du bist hier in ‘ner schäbigen Dorfdisse. Der einzige, der hier vielleicht noch Französisch kann, ist die Schwuchtel von Barkeeper. Von hinten, versteht sich.”

Doch Sven schenkte den Worten seines Freundes kein Gehör. Wie in Trance glitt er von seinem Hocker herüber an die andere Seite der Bar und näherte sich dem Duo. Noch bevor sie ihn bemerkten, sprach er den einzigen französischen Satz, den er sich im Voraus zurechtgelegt hatte: “Ce mec-là, il ne veut que baiser!”
Verdutzt sah man ihn an. Nach vielen unangenehmen Sekunden des Schweigens vernahm er ein gehauchtes ‘Wie bitte?’ von der rothaarigen Schönheit, die ihm Bann seines starren Blickes stand.
“Der Typ will nur ficken, hab ich gesagt! Das sieht man dem doch an.
Erneutes Schweigen umhüllte die Gruppe. Zu seiner Überraschung musste Sven feststellen, dass der Typ sich räuspernd davonmachte. Er setzte nach: “Mademoiselle, vous êtes tellement belle, avec vos cheveux rouges et votre visage si joli, je me tombait amoureux de vous.
Fasziniert und gleichermaßen geschmeichelt sah sie ihn an. Verstand sie ihn etwa? Sie antwortete nicht.
“Excusez-moi mon effort audacieux pour il est trop précipité, mais je dois vous rencontrer bientôt.” Aus dem Augenwinkel sah Sven den Kerl von vorhin, der sich mit seinen halbstarken Freunden auf den Weg nach ihm machte. Instinktiv spürte er, dass sie ihm an den Kragen wollten. “Ma chère, malheureusement je dois sortir cet établissement et j`espère profondément qu’on se voit à nouveau.” Er küsste ihre Hand und zwinkerte ihr zu. Sie lächelte verlegen.

Ich laufe, also bin ich. Sven nahm beide Beine in die Hand und lief in die Nacht hinaus. Als er wieder zum Stehen kam, graute bereits der Morgen.

III

Mo schreckte aus seinem Schlaf auf. Seine gesamte linke Seite zuckte, aber er war innerlich gefasst. Er hatte einen seltsamen Traum und versuchte sich zu erinnern:
Es war am Ende seiner Schulzeit. Er stand kurz vor den Prüfungen für sein Fachabitur und feierte mit seinen Mitschülern den letzten Schultag. Alle waren ausgelassen, fröhlich und voller Tatendrang. Nur Mo fühlte sich an diesem Tag unwohl, es war, als stünde er vor einem Abgrund; in ihm herrschte tiefe Leere.
“Was ist los, Mo?”, fragte sein bester Freund Karl. “Du bist so still. Lass ordentlich Party machen heute.” Mo schluckte laut hörbar und ging zu den anderen.
Dann Szenenwechsel:
Ein paar Jahre zuvor im Klassenzimmer, gefühlte Zukunft, die Lehrerin war seine Mutter, die Klasse ein Wirrwarr aus tatsächlichen Mitschülern und undefinierbaren Personen, die irgendwann, irgendwo Einzug in sein Leben hielten. “So, wer kann mir sagen…”, sprach die Lehrerin, also seine Mutter, “…was Leben ist?” Alle Hände schnellten hoch, außer Mos, der eingeschüchtert die Hand leicht anhob, um nicht aufzufallen. “Ja, Moritz?” Mo räusperte sich und kalter Schweiß breitete sich auf seiner Stirn aus. Gelächter.
Szenenwechsel:
Ein verschmolzenes Raum-Zeit-Geflecht schulbezogener Personen und Klassenzimmer. Alle scheinen das gleiche Buch zu lesen. Mo sucht in seinem Rucksack nach dem Buch, kann es aber nicht finden. Vorsichtig wendet er sich zu der Person am Nebentisch, in der er Karl zu identifizieren glaubt und flüstert: “Hey, was liest du da?” Eine Reaktion bleibt aus.

Da war es wieder, dachte Mo, als sein Erinnerungsvermögen abbrach und sich seine Gedanken im Strudel wiederkehrender Eindrücke verloren. Das Gefühl, dass irgendwas vor ihm verwahrt blieb, sein Leben lang, was allen anderen anvertraut war, so eine Art Buch des Lebens, ein Regelwerk zur Anleitung für das Leben, woran sich alle halten, wie selbstverständlich, ohne Rückfragen, ganz einfach, weil es einem von Kindheit an beratschlagend zur Seite steht, quasi wie Muttermilch aufgesaugt wird, fast ein Naturprinzip in Buchform, ein Gott auf Papier.
Hatte Gott ihn vergessen? Oder gar verbannt? Warum waren die anderen so zielstrebig und lebensbejahend, während bei ihm immer mehr Zweifel aufkamen? War er nur ein erbarmungswürdiger Pessimist oder ein notorischer Schwarzmaler, der nach Ausreden für sein eigenes Unvermögen suchte? Welches Unvermögen eigentlich? Er war doch hier, zwischen all den anderen, kurz vor seinem Schulabschluss, eine Ausbildung vor Augen, seinen bisher kaum von der Norm abweichenden Weg in der Gesellschaft absolviert. Doch wer bestimmt eigentlich diese Norm?

Mo raffte sich vom Bett hoch und ging ins Badezimmer, wo ein heftiger Schmerz sein rechtes Bein durchfuhr. Nicht auch noch das rechte, dachte er und setzte sich unüblicherweise beim Pinkeln hin.

„Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“, versuchte Peter Sven zu ermuntern, der leicht benommen wieder auf dem Barhocker Platz nahm. “Hast du echt nichts gesehen?”, fragte Sven. Peter schüttelte den Kopf.
“Und der hat dich einfach so…, aus heiterem Himmel?”
“Ja, voll auf die Mütze, hab’s nicht kommen sehen und auf einmal lag ich da, mitten auf dem Kloflur.” Sven deutete auf seine rechte Wange, die ziemlich gerötet war.
“Heftig! Und ich Volltrottel hab’s nicht bemerkt. ‘Ne richtige Schlägerei!”
“Keine Schlägerei. Eine Faust von der Seite, ohne Ankündigung. Das ist Betrug, feige und hinterhältig.”
“Darauf zwei Kurze! Warte, ich bestell’ eben.”
“Alter, ich find das grad nicht so witzig. Vielleicht sollte ich den Wichser suchen…”
“Oder die Wichserin.”, ergänzte Peter höhnisch grinsend. “Vielleicht war es ja die geheimnisvolle Rothaarige…”
Sven seufzte. “Verdammte Scheiße, warum passiert das ausgerechnet mir? Ich bin wahrlich nicht der Typ für sowas.”
“Kopf hoch, Großer!”, sagte Peter plötzlich ernst und Sven überlegte angestrengt, wann Peter ihn jemals ‘Großer’ genannt hat.
“Nich’ lang schnacken, Kopp in Nacken!”, willigte Sven schließlich erschöpft ein und ergab sich damit seinem Schicksal.

I

Im Taxi herrschte weitgehend Stille. Nur Sven unterbrach diese hin und wieder mit harmlosen Floskeln, die sich dem Berufsstand des Taxifahrers widmeten. Beide waren zwar betrunken, wahrten aber anstandshalber den nicht festgeschriebenen Kodex, dem Taxifahrer nicht mit dümmlichen Fragen das Leben unnötig schwer zu machen. Überhaupt wirkten sie sehr gefasst und auch ernst. Im Nachbarort gab es eine Disco, der Fahrer hatte schon vermutet, wo es hingehen sollte.

Es war Freitagabend und die Chance, dass etwas Partyähnliches stattfinden könnte, bei der vorwiegend jüngere Leute, sich auf der Tanzfläche bewegend, statt an der Bar klebend, vorzufinden seien, die sichtlich Spaß haben und die Atmosphäre mit Leben füllen, war groß und verunsicherte unsere beiden Helden ausnahmsweise mal nicht im Geringsten.

Peter, der aufgrund seines Gewichtskomplexes kaum aus dem Haus zu motivieren war, frohlockte laut furzend auf der Hinterbank des Wagens. Sven war dies sichtlich peinlich und er schrieb in Gedanken den Taxifahrer-Kodex um das Kapitel ‘Furzen’ fort. “Na, na, na!”, rief der Taxifahrer, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. “Wenn ich Blasmusik hören wollte, hätte ich das Radio angemacht.” Peter furzte verächtlich.

Kurz vor Erreichen der Disco stieg in Sven ein starker Drang nach Gerechtigkeit auf, wie so oft in Situationen, in denen er das Gefühl hatte, dass seine Taten von fundamentaler Bedeutung für die Welt wären und ihm bestimmte Berufsgruppen ermöglichen müssten, diese reibungslos umsetzen zu können. Dazu gehörten einfach Freifahrten mit Bahn und Bus und natürlich auch Taxen. Wie soll man schließlich die Welt verändern, wenn man nirgendwo hinkommt oder Zeit fürs Bezahlen verschwendet? Er versuchte es mit dem vieldeutigen Blick, den Peter ihm vor dem letzten Absinth in seiner Wohnung zuwarf, aber der Taxifahrer machte keine Anstalten, diesen zu erwidern. “So, macht dann 15,60 €!” “Bitte.”, sagte Sven in ruhigem Ton, ohne sein Portemonnaie zu zücken. Der Fahrer sah ihn verwirrt an. “Fünfzehn sechzig bekomm’ ich!”, sagte er etwas gereizter. “Bitte heißt das, du Vogel!”, antwortete Sven in aller Ruhe. Peter öffnete indes die Tür und hievte sich aus dem Auto. Dabei knickte er unglücklich mit dem linken Fuß um und rollte einen kleinen Abhang herunter. Sven starrte unentwegt den Taxifahrer an, als wäre es ein Duell, wer als erster blinzelt. “Hier bitte!”, gab Sven schließlich nach. “Vollidiot!”, sagte der Fahrer und fuhr mit quietschenden Reifen davon. Sven winkte ihm provokant hinterher.

Aus dem Graben ertönte Peters lallende Stimme: “Du hast dich von dem scheiß Taxifahrer ficken lassen, du Schwuchtel!” Er lag kichernd auf dem Rücken. “Ach, halt doch die Fresse, du adipöse Missgeburt!”, rief Sven, nach dem Rechten schauend.

Die Euphorie der Partynacht hätte nicht betrübter sein können, als Sven im Augenwinkel einen fiebrigen Schimmer der Hoffnung wahrnahm. Rotes, wallendes Haar erstrahlte in einer Gruppe Frauen, die soeben den Klub betraten. “Da ist sie.”, stieß Sven leise hervor, während Peter im Kicherrausch die Kontrolle über seinen Schließmuskel endgültig verlor und wild furzend auf der Wiese umherkullerte.

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