III

“Ich beobachtete das Schauspiel schon seit geraumer Zeit mit regem Interesse. Von einer Kakerlake kann wohl kaum die Rede sein. Nicht zu dieser Jahreszeit, ja nicht mal auf diesem Breitengrad. Das Insekt, das auf deinem Augapfel Platz nahm und dir Kopfzerbrechen bereitete, war maximal in der Kategorie eines gewöhnlichen schwarzen Käfers anzusiedeln, vielleicht aber auch nur eine Kellerassel.” Sven wollte scherzhaft einwerfen, dass sie sich beide ja gar nicht in einem Keller aufhielten, steckte aber zurück, um den in dieser Situation und auch für Peter eher ungewöhnlichen, aber fesselnden Vortrag, weiterzuverfolgen. “Ein Vogel pickt nicht einfach so nach einem Käfer oder einer Assel. Er bevorzugt Gewürm, saftige Körner, allerlei Geschnetz und lässt sich überdies nicht auf unvorsichtige Nähe mit Menschen ein. Oder meinst du, er fühlte den Rausch in uns und sich darum sicher? Oder war er gar den Umgang mit Menschen gewohnt? Das glaube ich nicht. Nein, ich kann es nicht glauben. Sven, dieser Vorfall riecht verdächtig. Es ist besser, wenn wir jetzt nach Hause gehen und uns ausruhen, bevor noch etwas Schlimmes passiert. Komm, wir gehen!”

Sven erwachte am frühen Nachmittag mit dickem Schädel in seinem Bett. “Was war das denn bitte?”, musste er laut denken und seine Beine zuckten in Erregung. Und dieser Abschluss – Wie kann man nach einer solchen Nacht noch so geistesgegenwärtig sein, fragte er und ließ sich Peters Plädoyer nochmal durch den Kopf gehen.
Er stapfte zum Kühlschrank und erblickte freudig die Schokomilch, aber Zweifel schossen sofort durch seinen Kopf – Ach, ich wollte doch heute noch laufen gehen – und beruhigte seinen Geist mit der Aussicht, sich die Milch nach dem Lauf zu gönnen. Zum Frühstück gab es also Toast und Wasser. Letzteres hätte ich vor dem Schlafengehen trinken sollen. Er fühlte sich ausgetrocknet und sein Magen war flau. Seine innere Stimme versuchte ihm das Laufen auszureden, aber er wusste dem Schweinehund ein Schnippchen zu schlagen.

So machte er sich wenig später tatsächlich auf die Socken. Wofür eigentlich, mag der geneigte Leser an dieser Stelle denken. Nun, Sven trainierte kontinuierlich für einen einzigen Laufwettkampf im Jahr, der immer zur Herbstzeit im Nachbarort stattfand und durch die bergige Landschaft seiner Heimat führte. Ein anspruchsvoller Lauf, der ein ordentliches Maß an körperlicher Fitness voraussetzt und für Anfänger fast unmachbar erscheint, aber dennoch nicht so lang, dass er sich trainingstechnisch übernehmen musste. Man könnte sagen, dass dieser Lauf die einzige Konstante in Svens Leben war.

Keuchend ging er zu Werke, die anfängliche Steigung machte ihm mehr als üblich zu schaffen. Sein Puls stieg sogleich in bedenkliche Höhen, fing sich kurz darauf wieder, und so lief er sich ein, fand seinen üblichen Rhythmus und verlor sich alsbald in sprudelnden Gedanken, so klar und wohlgeordnet, wie er sie nur mit sich allein im Wald auszumachen vermochte:

Wir sind jetzt sieben und in wenigen Jahren neun Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Schwul sein ist eklig. Wenn zwei Frauen sich küssen oder lecken, geht das Ordnung; Schleckliesel, hihi. Unser aller Lebensstil ist aus den Fugen geraten. Wir müssen zurückschrauben. Wie kann man seinen Schwanz nur in den Arsch… von nem Typen…? Bei ner Frau ist das okay. Wenn wir alle nach dem Prinzip ‘Lebe jeden Tag so, als wäre es dein letzter’ leben würden, können wir ja auf alles, was nach uns kommt, pfeifen. Zu einem erfüllten Leben gehört die Fortpflanzung, die Vereinigung von Mann und Frau, Familie. Zu viel Zucker macht krank. Die Pharma- und die Lebensmittelindustrie arbeiten zusammen, um uns krank zu machen. Die Medien unterstützen dies. Boah, wenn sich zwei Kerle öffentlich küssen, könnt’ ich kotzen. Aber die können ja trotzdem nett sein. Durch Analsex kann kein neues Leben entstehen. Ist er dann sinnlos oder hilfreich? Übermäßiger Zuckerkonsum kann zu Diabetes II führen und impotent machen. Fluch oder Segen? Während sich die Menschen in den Entwicklungsländern vermehren wie die Karnickel, sieht man in vielen Industrieländern rückläufige Tendenzen. Ist das Evolution oder gewollt? Die tödlichste Waffe des Menschen ist die Sprache. Sprache ist in meinem Kopf und ich kann sie nicht ausschalten. Wenn alle dieselbe Sprache sprächen, oh Gott, wie furchtbar. Oder nicht? Durch Missverständnisse in der Sprache entstehen Konflikte. Durch Ressourceninteressen weiten diese sich aus zu Kriegen. Die Medien sagen etwas anderes. Zucker bleibt billig und ist überall drin. Die Gedanken sind frei, Sexualität auch. Was auf mein Land zutrifft, trifft nicht zwingend auf ein anderes Land zu. Wir drehen uns im Kreis. Ich drehe mich im Kreis und mir ist schwindelig. Und Jesus sagt: „Eure Rede aber sei: Ja, ja — nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel.“