XIV

H: „Jetzt aber sachte. Das Menschenprojekt wird eingestellt. Warum denn gleich so rabiat?“
D: „Nichts rabiat, konsequent. Die Menschen sind auf Irrwegen und wir sind die Erlöser all der verschenkten Leben.“
Die Biergläser häufen sich auf der Theke, doch Mo zapft unbeirrt weiter, den Blick auf seine Hände gerichtet.
P nachdenklich trinkend: „Mir solls recht sein, hab eh nie verstanden, warum wir den Scheiß gestartet haben aber dann ohne diesen schwülstigen Erlöserpathos.“
H: „Also eigentlich fand ich es immer ganz schön zwischen dem ganzen Pack. Man konnte sich ausleben und man selbst sein.“
P: Als ob du da jemals was anderes gemacht hast als hier. Nur das Säuferglück hieß eben Schmiedehammer.
Mo von seinen Händen aufschauend: „Fragiles.“
D: „Schnödes.“
P: „Lächerliches.“
H: „Penetrantes.“
D: „Was los Mo, noch nicht ganz sauber in der Birne?“
Mo: „Fragiles Säuferglück.“
D, P und H gleichzeitig aufatmend: „Ah.“
Mo: „Da muss man schon penibel sein. Wenn nicht da, wo dann?“
H: „Der alte Mo. Weiß immer, wie man eine Situation rettet.“
P: „Im Gegensatz zu dir.“
D: „Wie dem auch sei, mein Entschluss ist endgültig.“
H: „Aber…“
D: „Nichts aber.“
P: „Die Zeit ohne uns hat ihn weich gemacht.“
D: „Ohne mich.“
Die einsetzende Stille wird nur durch das beruhigende Plätschern des Biers in den sich unaufhörlich füllenden Gläsern unterbrochen.
D: „Mo, eifrig wie eh und je. Ohne zitternde Hände zapfts sich gleich viel leichter, was? Was macht eigentlich unser anderer Bote? Neuigkeiten?“
H kichernd: „Die fette Qualle folgt seinem Schatten auf Schritt und Tritt. Scheint seinen Partner fürs Leben gefunden zu haben und genießt seine Zeit in vollen Zügen.“
Mo irritiert seine Hände musternd: „Wenigstens einer macht, was er soll. Und jetzt Ruhe und trinkt.“
D, H und P leeren pflichtbewusst ihre Gläser.
D nach einiger Zeit: „Wir müssen ihn kontaktieren.“

„Eine Vision!“, Sven klang aufgeregt. „Peter, eine Vision und zack dein Leben sieht anders aus. Umgefallen, aufgestanden und alles so weitergemacht wie bisher, nur anders. Meinst du sowas kann mir auch passieren?“ Der Schlag kam ohne Ankündigung und traf Sven mitten im Gesicht. Lachend stand Peter neben Sven und beobachtete, wie der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Nase hielt und mühsam auf die Beine kämpfte.
„Was zum Teufel?“
„Na na na. Übermut tut selten gut.“
„Und dann haust du mir einfach eine rein.“
„Für die Erleuchtung. Was machen die Visionen?“
Wütend wollte Sven davonstürmen. Er malte sich aus, wie Peter beschämt zurückblieb, sich immer aussichtsloser in den Windungen von Schulz‘ Schloss verstrickte, bis ihm schließlich, in den tiefsten Katakomben Herrmann auflauerte und Peter so die Erkenntnis seines Irrtums ereilte. Doch gerade als er sich umdrehen wollte, sah er vor sich auf dem Boden zwei ungeöffnete Briefe. Triumphierend reckte er sie in die Höhe und rieb sie Peter ins Gesicht, während aus seiner Nase langsam das Blut rann. „Vom Arbeitsamt, vergessen und wiederentdeckt. Meine Vision und Erleuchtung.“
Angewidert schloss Peter die Augen. „Oh Mann, meine Erleuchtung das Arbeitsamt. Sag mal Sven, geht’s noch?“

XII

„Die Bewegungen der weißen Menge fügten sich dem Rhythmus der Musik. Das Einzelne wurde hinweg gerissen vom Wogen der menschlichen Welle. Das Individuum zerfiel in seine Einzelteile und wurde hinein gesogen in den pulsierenden Leib des Überkörpers. Ich war viele und ich musste nicht mehr sein.“

Die große Halle hatte sich mittlerweile geleert, der Rauch war abgezogen und die Lichter, die den alten Schulz eben noch in ein auratisches Licht getaucht hatten, waren einem gelblich flackerndem Kerzenschein gewichen. Der Raum war leer und nur der Geruch von schweißgebadeten Körpern hing noch im Raum. Nach dem ersten Lied hatte die schweigende Masse begonnen sich schneller im Takt zu wiegen. Körper hatten sich entzückter aneinander gerieben, bis schließlich ein summender Choral eingesetzt hatte, der beim dritten Lied in wilde unkontrollierte Schreie übergegangen war. Die Jünger, vom Schweigegelübde befreit und dem Regelwerk der heiligen Stätte entbunden, hatten sich ihren animalischen Instinkten und Regungen ergeben. Wie Peter und Sven später von einer der Empfangsfrauen erklärt wurde, endete mit dem Aussetzten des Gelübdes eine Periode der Vernunft, von geistiger und kreativer Produktivität und schuf Raum für eine spirituelle Reinigung. Die unbedingte Hingabe an alles körperlich, an alles nicht-geistige, ungehemmte Gewalt und Sexualität, solange sie den anderen nicht nachhaltig schädigte, sollte die Jünger einmal täglich befreien von der Last des Fleisches und der Natur, die ihre Gedanken bedrückte und ihre Fähigkeiten hemmte. Es gab in dieser halben Stunde nichts was zu tun war und nur wenig was nicht getan werden durfte.

„Viele Religionen und philosophische Strömungen, hatten das Problem der Restriktion und Beschneidung bestimmter Aspekte der menschlichen Natur. Wir sind der Ansicht, dass die modernen Werte des Humanismus und des Liberalismus tatsächlich zum Wohl der Gesellschaft beigetragen haben und doch denken wir, dass eine Trennung von körperlicher und geistiger Freiheit eher dem Ideal des modernen Menschen entsprechen. Die Phase des Geistes gibt die Freiheit für eine Beschäftigung mit dem Tiefsten Inneren, für einen Ausdruck der eigenen Person ohne kultur- oder kunsthistorisches Korsett und ohne Wertung oder Ziel. Man könnte es als metaphysischen Kreislauf der Selbsterkundung bezeichnen. Was wir auch tun. In der Phase des Fleisches bieten wir Raum für eine physische Erkundung des Selbst. Wir ermutigen die Teilnehmer dazu, mit ihrer Körperlichkeit zu experimentieren, die intersubjektiven Machtstrukturen und Moralgebilde einzureißen und sich mit ihrem animalischen Kern auseinanderzusetzen. Die schrittweise Lösung von nie hinterfragten Konventionen, wird schließlich in der nächsten Phase des Geistes reflektiert und findet Eingang in die eigene Arbeit, sei sie nun künstlerischer, wissenschaftlicher oder ökonomischer Natur. Erkenntnis und Erleuchtung ist für uns kein Momentum, kein plötzliches Ereignis, das unserer Bewusstsein durchschneidet und unserer bisherige Existenz in ihren Grundstrukturen erschüttert, sondern ein andauernder Prozess, der ständiger Überprüfung erfordert, den eigenen Zweifeln und sich wandelnder Einsichten ausgesetzt ist.“

Atemlos hatte die junge Frau, die sie vor kurzem empfangen hatte, ihren Monolog beendet und begonnen ihre auf den Boden verstreuten Kleider aufzusammeln. Sven und Peter waren ihr durch Hallen und Korridore gefolgt, ihr Rücken, ein leuchtendes Mosaik aus Schweißperlen und blutigen Kratzern, wie ein abstrakter Wegweiser immer vor ihren Augen. Als sie schließlich vor einer Holztür angekommen waren, hatte sie sich vor ihnen verbeugt und begonnen sich zu bekleiden. „Der Meister duldet es nicht, wenn jemand, seine Privatgemächer betritt. Bitte betrachtet es als ausgesprochene Ehre, dass er nun bereit ist, eine Privataudienz im Allerheiligsten zu gewähren.“

„Die Bewegungen der weißen Menge fügten sich dem Rhythmus der Musik. Das Einzelne wurde hinweg gerissen vom Wogen der menschlichen Welle. Das Individuum zerfiel in seine Einzelteile…“, der alte Schulz hielt Svens Notizbuch in seinen Händen und sein und Peters Gelächter erschütterten die kleine Nische des holzvertäfelten Raums in dem sie saßen..
„Meine Fresse Sven, die Vorführung scheint dich ja tief bewegt zu haben.“, Schulz nahm einen tiefen Zug von seinem Bier, zündete sich eine Zigarette an und reichte auch Sven und Peter zwei Gläser. Er hatte seine enganliegende weiße Hose gegen einen Jogginganzug getauscht.
„Nein ehrlich, das ist groß, das ist stark, das hat Potenzial. Ich habe Jahre für den Scheiß gebraucht und du spazierst hier rein und innerhalb von ein paar Minuten schreibst du hier diesen metaphysischen Wahnsinn. Ich sollte dich als PR-Leiter einstellen. Oder noch besser, du solltest den Laden hier schmeißen. „Ich war viele und ich musste nicht mehr sein.“ Stark, wirklich stark.“
„Achso na gut, danke. Schön.“, Sven nippte irritiert an seinem Bier und dem Kurzen, der sich wie aus dem Nichts vor ihm materialisiert hatte. „ Also nun ja, eigentlich verstehe ich das hier nicht.“
„Kein Grund zur Sorge.“, Schulz lächelte verschmitzt. „Ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Jeden mal, wenn ich hier mit jemanden sitze, ist es das gleiche. Schau mal nach oben.“ Svens Blick wanderte zur Decke und was zuerst nur als flüchtiger Schatten erschien, löste sich langsam aus der Dunkelheit, schwang sich elegant zu ihrem Tisch und stellte drei neue Schnapsgläser vor sie.
„Richtig, richtig.“, Schulz strahlte. „Mein Barkeeper!“ Lautlos landete der Affe auf dem Tisch, verbeugte sich höflich und reichte erst Peter, dann Sven die Hand, bevor er seine Schürze gerade zupfte und wieder hinter der Theke verschwand. Peter applaudierte begeistert und machte anerkennende Geräusche. „Sven ein Affe als Barkeeper!“
„Nunja, das ist ja was. Aber das meinte ich eigentlich gar nicht.“
Schulz wirkte enttäuscht. „Schade.“
„Was soll denn das hier oder das da draußen oder das hier drin und da draußen.“
„Die Zeiten ändern sich.“, Schulz‘ Blick schweifte in die Ferne. „Eigentlich mach ich immer noch das, was ich früher gemacht habe, nur anders und für mehr Geld.“

X

Herrmann saß nackt auf seinem Bett und meditierte. Das Licht, das durch das übergroße Fenster in den vollkommen weißen Raum fiel, erzeugte sich kreuzende Schatten, die sich wie ein Netz auf seine Haut legten und die auf dem Boden verstreuten Modelle und die Extremitäten im entstehen begriffener Skulpturen zu einem surrealen Geflecht verwoben. Köpfe und Arme von Menschen und Fabelwesen lagen in wirrer Reihung, ungebunden und autark von widerspenstigen Körpern und einem beherrschenden Geist, waren sie frei vom Zwang der Rationalität und konnten sich in fleischlicher und sinnloser Lust miteinander vereinigen. Beine näherten sich schüchtern und unauffällig Händen und Brüste verwuchsen selbstbewusst mit benachbarten Rücken und Penissen. Herrmann schüttelte sich. Schweiß stand auf seiner Stirn und zitternd versuchte er sich von den albtraumhaften Visionen zu lösen. Dunkelheit hüllte große Teile seines Rückens ein, doch ein Mandala aus lichternen Rechtecken wärmte die auf seine Brust fallenden Tränen.

Herrmann sah sich, wie er langsam die Tür seines Hauses öffnete. Stille, wie immer, doch dann Geräusche, Lachen und zerbrechende Keramik, splitterndes Glas. Vorsichtig nahm er ein Netz aus dem neben der Tür stehenden Schrank, schlich die Treppen hinauf und öffnete die Tür zu seiner Werkstatt. Er hatte damit gerechnet, dass dieser Augenblick irgendwann kommen musste und erkannte sich gleichermaßen als Frankenstein und sein Monster, die nun vom Pöbel gerichtet wurden. Die metallenen und tönernen Skulpturen, die er hier nach seiner Arbeit, in einer naheliegenden Fabrik für Plüschtiere schuf, waren schon immer auf Ablehnung gestoßen. Nachdem er sie in einer kleinen Ausstellung in seinem Heimatort gezeigt hatte, war er als der Perverse von Todendorf verschrien und immer wieder hatten Graffiti mit Aufschriften wie „Tod dem Perversen“ sein Haus geschmückt. Herrmann trat durch die Tür und sah wie seine Frau in lüsterner Ekstase auf einer seiner Statuen saß. Ein riesenhaftes eisernes Zwitterwesen, halb Zyklop, halb Eidechse mit erigiertem Penis, auf dem Herrmann’s Frau sich nackt auf und ab bewegte und dabei von dem örtlichen Polizeichef im wütenden Spiel der Liebe vor und zurück geschleudert wurde. Die Scherben und Überreste der anderen Werke waren auf dem Boden verteilt, Bruchstücke vergebenen Ausdrucks und undefinierbarer Sehnsüchte und Ängste, die nun den Boden bereiteten für ein ungesehenes Schauspiel der Lust und Demütigung. Als seine Frau merkte, dass Herrmann das Zimmer betreten hatte, schaute sie ihn lächelnd und herausfordernd an und stöhnend formte sie mit dem Lippen das verhasste Wort „Perverser“. Unfähig seinen Körper zu bewegen oder seinen Blick abzuwenden, hatte Herrmann den Akt beobachtet und geschwiegen, Zeit und Raum vergessend und nur den Tanz unmöglicher Stellungen, Positionen und wirbelnder roter Haare beobachtend. Als er sich nach Unendlichkeiten relativer Zeit, endlich aus seiner Erstarrung löste, spürte er, dass etwas fundamentales zerbrochen war. Seine Statuen waren entweiht. Durch die Unzüchtigkeit der figurativen Sexualität hatte er sich etwas grundsätzliches bewahren wollen, eine unbestimmte Form geistiger Keuschheit. Eine Reinheit des Gefühls natürlicher Erfahrung, die frei war von menschlicher Intention und Zielen, und die erst jetzt mit ihrer Zerstörung greifbar wurde. Das Netz in seinen Händen, spürte Herrmann die aufsteigende Wut immer wiederkehrender Enttäuschung und Erniedrigung. Er dachte an den Augenblick, in dem seine erste Frau, kurz vor der jungfräulichen Vereinigung angeekelt die Flucht ergriffen hatte, als sie sein verstümmeltes nacktes Bein erblickt hatte, dass sonst unter dem Schutz der Kleidung verborgen lag. Die Erinnerungen hoben das Netz in Hermanns Hand und warfen es über sein Frau und den Polizeichef, die in aufsteigender Panik, vereinigt und gefangen, durch den Raum und die Scherben gezogen wurden. Und die Erinnerung war es, die Herrmann die beiden eingenetzt an das Bett im Schlafzimmer fesseln ließ und Freunde und Verwandt anrief, um auch seine Frau bloßzustellen, wie er bloßgestellt war. Doch als erst die Freunde und dann die Polizei, nach und nach in ihr Haus kamen, gab es kein Gelächter und keine Rache, sondern Handschellen und Knüppel und am Tag nach der Festnahme zeichneten die Zeitungen ein klares Bild des „Wahren Gesichts des Perversen von Todendorf“. Verschwommen war die Zeit im Gefängnis und verschwommen hatte Herrmann die korpulente Gestalt in Erinnerung, die ihm aus den Gefängnis abgeholt und in ein neues Leben geführt hatte.

Das Betttuch unter Herrmanns muskulösen Körper war mittlerweile nass von den Tränen, die das Bild seiner Tochter spiegelten, die er seit mehr als zwanzig Jahren nicht gesehen hatte und nur mühsam gelang es ihm seinen Geist zu fokussieren. Als er die Augen öffnete erblickte er den Schriftzug an der ihm gegenüberliegenden Wand: „Die Kunst hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Freiheit, Ekstase, Kunst, diese drei; aber die Kunst ist die größte unter ihnen.“ (Schulz)

VIII

Der Eingangsbereich des Hauses wirkte zugleich albern und opulent. Wo einst holzvertäfelte Wände die kleinen Räume und Nischen vor spannenden Blicken geschützt und alles in eine zwielichtige Welt der Zeitlosigkeit und Möglichkeiten getaucht hatten, erstreckte sich nun ein heller Saal post-geo-klassizistischen Kitschs. Weiße Säulen drängten sich dicht aneinander und gegen die Wände, Eisen- und Messingstatuen von nackten Jünglingen und in sich verschlungenen Menschen und Gliedern akzentuierten die überbordende Fülle des Raumes und an den bescheidenden Freiräumen der Wände fanden sich in unbestimmter Abfolge Darstellungen von biblischen Szenen, griechischen Mythen und perspektivlose Zeichnungen kopulierender Paare. Durch ein großes Loch in der Decke fiel Licht auf einen in der Mitte des Raumes befindlichen metallenen Brunnen, der verziert war mit einem übermütigen Mandala verschiedenster Götterskulpturen aus allen erdenklichen Erdräumen und -zeiten. Ein süßlich-stechender Geruch von Harmonie und Entspannung lag in den vom Brunnen aufsteigenden Dampfschwaden, die den Stuck an der Decke fast vollständig einhüllten. Das Atmen fiel schwer in der von Bedeutung überfüllten Luft. Sven schaute sich zweifelnd um und dachte daran, dass die überschaubaren Ausmaße des Zimmers zu klein waren für die Größe von Schulz‘ Vision.
„Mann, o Mann, was für eine Bude. Der alte Schulz. Post-religiöser-Sexguru der Ekstase und des Kitsches.“ Peters Augen funkelten und erregt lief er von einer Skulptur zur Anderen und befühlte liebevoll ihre Körper. Seine Schritte und Ausrufe, hallten donnernd von den Wänden wieder. Nach einer Weile, in der sich Peter immer hemmungsloser seiner aufkeimenden Faszination ergeben und Sven ihn aus einiger Distanz gleichgültig beobachtet hatte, vermischte sich der von Peter ausgehende Lärm, mit einem leisen, bedächtigen Tapsen, dem lange schlurfende Laute folgten.

„Sven, schau dir das mal an. Verdammt. Und das hier!“ Peter stand vor einem etwa zwei Meter großem, schwarzen Elefanten, der vollständig in eine mit Stacheln versehene Rüstung gehüllt war. Aus seinem Rücken ragten, ab den Waden aufwärts, die Marmor-weißen Körper zweier ringender Athleten. Fest ineinander verkeilt in einer Meditation der Gewalt schienen sie nicht zu bemerken, wie sie immer tiefer im Fleisch des Elefanten versanken. Aus allen Winkeln betrachtete Peter die bizarre Skulptur und achtete nicht auf das lauter werdende Geräusch, als aus dem Nebel hinter ihm ein bärtiger Mann mit freier Brust und einem langen Gewand trat. Er beugte sich schwerfällig auf einen großen Gehstock und die Falten unter seinen Augen und die alten, zu schweren Muskeln, die obszön unter dem winzigen Stück Stoff, das er trug, hervorragten, schienen ihn unnachgiebig Richtung Boden zu ziehen. Mühsam trotzte er der Schwerkraft und seine zu klein geratenen Beine und Arme, waren unfähig den Bewegungen des restlichen Körpers zu folgen. Das rechte Bein war kürzer als das linke und auf unbestimmte Weise verkümmert. Als sich Peter zu Sven umdrehen wollte, blickte er direkt in das Gesicht des alten Mannes.

„Hallo Schulz, oder Guru. Sven meint ja eher Regent. Also, wir sind hier um mit dir zu spre….“. Ein Knall ertönte und Peter sank auf die Knie. Ohne Ankündigung, hatte der Alte sich aufgestellt, seine Krücke über den Kopf erhoben und Peter auf den Kopf geschlagen. Nun nahm er ihn bei der Schulter und zog ihn hinter sich her. Sven hatte das Geschehen aus einiger Entfernung beobachtet und das erste mal, seitdem sie an diesem Morgen das Haus verlassen hatten, würdigte er Peter für seine Idee Schulz‘ aufzusuchen. Langsam folgte er den beiden in den nächsten Raum, in dem eine junge Frau bereits auf sie wartete.

„Also, sagen Sie mal.“, Peters Stimme war aufgebracht „Sie Schulz, Mann Guru, was war das denn für ne Nummer. Was hat es hier überhaupt mit diesem Schweigeretreat auf sich? Wir sind hier.“
Gebieterisch legte die Frau einen Finger auf die Lippen und der alte Mann erhob seinen Stock zum neuerlichen Schlag. Peter verstummte.
„Sehr gut. Herr Peter, Herr Sven, wie ich sehe, haben Sie Ihren Weg zu uns gefunden. Leider wird es Ihnen in den nächsten Tagen nicht möglich sein, persönlich mit unserem Guru zu sprechen. Deshalb haben wir sie, sozusagen übergangsweise, in unser Spezialprogramm aufgenommen. Glücklicherweise haben Sie schon die Bekanntschaft von Herrn Hermann gemacht.“ Sie deutete auf den Alten und Svan kam es vor, als blickte Sie ihn lüstern und sehnsuchtsvoll an. „Hermann weilt schon seit einiger Zeit bei uns und zeichnet sich für einen Großteil der Skulpturen verantwortlich, die Sie in unserem Auditorium gesehen haben. Er kam aus einer sehr schwierigen Lage zu uns, sodass er sich dazu entschlossen hat, bei uns zu bleiben. Außerdem hat er die Leitung der Kunstkurse übernommen . Natürlich kann ich verstehen, dass die Lage für Sie… enttäuschend sein muss, doch ich würde Ihnen sehr empfehlen für eine Weile bei uns zu bleiben.“

VI

Die langsame Fahrt über die altbekannten Straßen seiner Heimat, durch die kalte Mittagsluft, die den Atem als geisterhafte Wolke verfestigte, ließ Sven an so etwas wie Normalität glauben. Schon als Kind war er zusammen mit Peter auf zu kleinen und zu alten Fahrrädern, ohne Klingel oder Licht, durch das Dorf gefahren, war an der Ecke beim Bäcker rechts abgebogen, dann einen kleinen Hügel hinauf und am Haus von dem alten Schulz vorbei, der früher eine private Kneipe betrieben hatte. Sven kannte nur noch die Geschichten, die sich damals bei den unbedeutenden und dramatischen Derbys der Kreisklasse erzählt wurden. Mit Bier und Zigarette in der Hand hatten die schon damals alten Rentner zwischen Freudenschreien und Todesflüchen vom „Regenten“ geträumt, der gleichzeitig Schulz und sein Wohnzimmer meinte und dabei doch viel mehr umschloss und als Synonym für eine gelebte Utopie stand. Zu einer Zeit, lange bevor zuerst die Welt und dann darf Dorf von einem anankastischen Gesundheitswahn erfasst wurde, der den Tod nicht einfach wie früher ignorierte, bis er nicht länger zu ignorieren war, sondern ihn als abstrakten Bruch mit der rationalisierten und natürlichen Ordnung bekämpfte, zu dieser Zeit also herrschte das goldene Zeitalter des Regenten. Männer die in schlaflosen Nächten zaudernd mit sich und der Welt am Fenster standen und in stiller Meditation den Mond betrachteten, machten sich in ihren löchrigen Schlafanzügen, reihenweise auf zum „Regenten“, der gleichermaßen Frage und Antwort bot. Frauen, die durch die Kälte fehlender Körper erwachten, vom Schlaf verquollene Augen, verlassen von ihren Gemahlen, auf wichtiger Mission, schlüpften in ihre Bademäntel, in die alten vom Hund angefressenen Schlappen und schlurften anmutig und wissend zum „Regenten“, die aufkeimende Sorge schnell vertrieben durch eine furchtbare Maske der Wut. Und so fanden die Partner wieder zusammen. Nach rhetorischen Vorwürfen und Liebesbekundungen waren die Liebenden bei Bier, Wein und Kräuter wieder vereint oder vereint im Rausch, und nicht jeder beendete die Nacht in dem Bett, dem er vorher entstiegen war. Fragte man die Betroffenen später, wie es denn dazugekommen sei und wie die normalerweise von Liebe und Eifersucht ganz und gar besessenen Frauen und Männer, sich dem Exzess und der Vergebung in derlei Weise ausliefern konnten, so erfolgte als Antwort ein schüchternes Lächeln und wie ein Mantra wiederholten alle die gleichen vier Worte: „Die Magie des Regenten“. Es gab Geschichten von Fußspuren an den Wänden und an der Decke, an deren Entstehen sich niemand erinnern konnte und von denen die einen behaupteten, dass ein Mann auf der Flucht vor seinem Weib und auf dem schnellsten Weg zu seinem Bier an die Wand gesprungen und über die Decke zum Tresen gelaufen sei. Andere meinten an einem Herbstmorgen, als die letzten Gäste auf den Tischen tanzten und sich andere in den Ecken des Wohnzimmers ihrer Liebe ganz und gar hingaben, wären unsichtbare Füße an den Wänden erschienen, wären unbemerkt und im Stillen weiter und weiter fortgeschritten, während das Ziel der Hingabe und Wollust, eine Frau mit blutroten Lippen und Ährenkranz in ihrem Haar, ahnungslos die letzten Tropfen aus einer Flasche sauren Apfels leckte.

Gespannt und verständnislos, von Begeisterung und einer unbestimmten Wehmut erfasst, hatte Sven den Geschichten der Alten, die ihm heute mehr denn je als fantastische Mythen erschienen, gelauscht. Er kannte die Legende des falschen Löwen oder die Sage der musizierenden Rugbymannschaft, die in einer stürmischen Nacht, ebenso stürmisch gegen Schulz verschlossene Haustür geklopft hatte. Dreizehn vom Regen und vom Schweiß nasse Gestalten, von einem unbekannten Ort angeschwemmt, im tiefen Osten gestrandet und am nächsten Tag spurlos verschwunden, hatten sie ihre Sporttaschen in die Ecke geworfen, und nach einiger Zeit ihre Instrumente herausgeholt und begonnen zu spielen. Angelockt von der Musik oder von der Trostlosigkeit der nahenden Zukunft, hatte sich fast das Ganze Dorf in Schulz‘ Wohnzimmer versammelt, gelacht, getanzt, getrunken und geliebt und doch wusste am nächsten Tag niemand, wie jemand der die Gegend nicht kannte, am Ende doch immer zu Schulz fand. Doch der Regent selbst hatte immer nur geschwiegen und höflich gelächelt.

Wenn Sven sich jetzt an die Geschichten erinnerte, wurde ihm in unangenehmer Weise sein eigenes Leben bewusst. Verglichen mit den Gestalten anderer Generationen fühlte er sich als unvollständiger Mann, als verkrüppeltes Männlein, dass die Bierbäuche der Alten im Stillen als unschätzbare Lebenserfahrungen verehrte. Jedes Kilo, zehn Bier und jedes Bier eine mystische und geheimnisvolle Nacht der Überraschungen. Doch als er einmal umständlich zu erklären versucht, warum heute nicht alles besser ist, er Probleme hat die Welt zu verstehen, und ihm persönlich etwas fehlt, was es früher wahrscheinlich einmal gab, auch wenn er nicht explizit benennen könne, was das eigentlich wäre, hatte er nur ein mitleidiges Lachen und eine unmissverständliche Zurechtweisung erhalten: Die Undankbarkeit der Jugend, Möglichkeiten und Chancen, an die zu denken früher als Wahnsinn gegolten hätte, die Repressalien, Schwierigkeiten und Entbehrungen der Vergangenheit. Demütig hatte Sven da den Kopf gesenkt und versucht an das Glück seiner Zeit zu glauben.

Und so folgte er Peter heute wie früher auf Umwegen, Schotter- und Schleichwegen, im Kreis und wieder zurück als altes Kind durch das Dorf, und hoffte, dass ihm nun endlich jemand das Glück seiner Zeit zeigen könnte. Bei dem Gedanken daran, dass dieser jemand ausgerechnet Peter sein könnte, begann er atemlos zu lachen, bis er sich schließlich nicht mehr auf dem Fahrrad halten konnte, absprang und in die Knie ging. Und auch Peter tat es ihm gleich und stimmte freudig und hemmungslos in den Lachkrampf ein, bis er schließlich mühsam hervorbrachte:
„Sven… hahah… Sven…. worüber lachen… wir eigentlich…?“
„Der Regent.“, würgte Sven erstickt hervor.
Peter wurde ernst und blickte Sven vielsagend an: „Der Guru.“

IV

„„Jetzt aber halt.“, Svens Ruf verhallte ungehört und Hannes verschwand im nahe gelegenen Wald. Es war nur ein kurzer Moment des Schreckens, der Überraschung und sich verwehrender Erkenntnis, der unsere Helden nur wenige Sekunden zögern ließ, doch nachdem sie aus ihrer, im Falle Svens entsetzten, im Falle Peters belustigten, Erstarrung erwachten, und Hannes hinterher stürzten, mussten sie feststellen, dass er im dunklen Waldschatten des Spätherbstes verschwunden war. Aufgelöst im Dickicht.
„Der Erlösung versagt.“, Peter Stimme war ein erschöpftes Stöhnen und doch mischte sie sich mit einem anschwellendem Lachen. „Der Wicht.“

Sven der weitergelaufen war, als sich Peter schon keuchend auf seine Knie gestemmt hatte, kam nun langsam den Weg zurück, Ausschau haltend nach ungesehenen Abdrücken des designierten Toten. „Nichts. Nur eine dünne Spur aus Erbrochenem und Blut. Und dann nichts. Verschwunden. Ich versteh das nicht. Ich versteh das alles nicht mehr.“ Sven ließ sich auf den Boden fallen und blickte resigniert in das dichte Blattwerk der Bäume. Es erinnerte ihn an schwarze Krähen und schwarze Papageien, die bis in alle Ewigkeit ziellos durch einen taghellen Nachthimmel flogen und ihm für alle Zeit den Blick auf den Mond verwehrten. Als Peters Gesicht erwartbar und doch unerwartet über ihm auftauchte, war er gleichsam schockiert und erleichtert.

„Nana, nun aber… Wer benutzt denn solche Worte: „Erbrochenes“, mein sensibler Künstlerfreund, sperre dich nicht gegen die Wahrheit, Kotze trifft es da wohl schon eher.“
Sven dachte an den Termin beim Arbeitsamt, an Thomas und Lydia und schüttelte sich.
„Peter Schluss jetzt mit dem Scheiß. Sag mal, was ist in letzter Zeit eigentlich los mit dir. Mo ist tot, Hannes hat sich gerade von Mo’s Dach gestürzt und ist Blut und Kotze spuckend im Wald verschwunden und du läufst hier lachend durch die Gegend.“
„Sehr, sehr gut: Blut und Kotze. So ist richtig Sven. Also, na überleg doch mal, als ob Hannes jetzt unser bester Freund wäre. Und es schien ihm doch gut zu gehen.“
„Oh mann, du verdammter Soziopath. Jetzt lass uns wenigstens mal bei Hannes‘ Wohnung vorbeifahren und schauen, ob er dort angekommen ist. Wo wohnt der eigentlich?“
„Im Himmel und in der Hölle.“
„Adresse?“
„Keine Ahnung.“
„Hm.“
„Hm. Hatte Mo nicht mal so ein Gästebuch, wo die ganzen Besoffenen, wirre Geschichten reingeschrieben haben.“
„Mit bürgerlichem Namen, Adresse und Geburtsdatum?“
Achselzuckend stand Peter vor Sven, der sich nun langsam erhob und wortlos den kurzen Weg zu Mo’s Bar zurückging. Die Haustür war nur angelehnt, der Raum dahinter hell beleuchtet und auf dem Boden lagen einige zerbrochene Flaschen. Geruch von Bier und Rauch und Mo. Sven erwartete, dass er gleich, wie seit Anbeginn der Zeit, aus der von Bratenfett und Zigarettenrauch eingehüllten Küche schritt, doch alles blieb stumm und der Rauch in der geräuschlosen Küche, hatte sich für immer gelichtet.
„Was ist denn hier passiert?“ Peter, der hinter ihm die Bar betrat, stolperte ungeschickt über die zahllosen Glasscherben und kam auf ihn zu. Erfolglos versuchte Sven ihn zu ignorieren.
„Sorry Sven, war nicht so gemeint. Schon alles ziemlich abgefahren, was in letzter Zeit so passiert. Aber die Tragik ist dem Absurden nicht gewachsen. Und die Komik transzendiert die Logik. Bier?“
„Die Bar steht jetzt seit ein paar Tagen leer, sollte hier nicht längst aufgeräumt sein? Und was ist mit Absperrungen, Polizei und dem ganzen Mist?“
„Sven, wir sind hier auf dem Dorf. Und Bier ist Bier und wenn das hier noch steht und wenn das keiner trinkt, wird es halt schlecht.“ Aufmunternd nickte Peter in Svens Richtung und machte sich daran, zwei Bier zu zapfen, während Sven die Suche nach dem Gästebuch begann.

Es war das erste mal, dass Sven, die überall an der Decke angeklebten Zeitungsartikel und Buchseiten, die aus den unterschiedlichsten Ländern stammten, bewusst wahrnahm. Viele der Meldungen waren in Sprachen verfasst, die er nicht kannte, und deren Schriftzeichen er nur unzureichend einordnen konnte. Einzig die Bilder gaben einen Anhaltspunkt über die Bedeutung der Zeichen, doch standen sie in ihrer zufälligen Ordnung, im Spruch und Widerspruch der Fotografien und Illustrationen, im brüchigen Spiel ihrer fragilen Zusammenhänge, antagonistisch nebeneinander. Ein Atompilz über einer unbekannten Landschaft. Die Abbildung eines Engels, der eine menschliche Ziege küsst. Die verbrannten Überreste einer Stadt. Ruinen. Eine Taube mit Doppelanus. Ein menschlicher Korpus, ohne Kopf, der Oberkörper mit dem Unterkörper verwachsen, eine Skulptur des Fleisches. Ein Pinguin kotend im Flug, zielgerichtet ein kopulierendes Paar anvisierend. Exekutionskommandos und Leichenberge. Ein Mann, schwimmend in einem Meer aus lebendem Obst, das die Augen vorwurfsvoll auf ihn gerichtet hat. Die Skizze eines weiblichen Skeletts, ein Mann zwischen ihren Beinen, wie sie oder es oral befriedigt wird. Umso länger Sven die wirre Collage betrachtete, die sich aus tausenden Bildern zusammensetzte und prophetisch über ihm schwebte, umso mehr fragte er sich, ob Mo Verrückter oder Heiliger war. Seine Hinterlassenschaft, sein Vermächtnis für die Menschheit, eine auf Entschlüsselung wartende Geschichte der Welt, wie sie war, sein könnte oder sein sollte. Eine fiktive, auf Fakten beruhende Enzyklopädie der Menschheit. „Wie kann etwas überhaupt postfaktisch oder prefaktisch oder ganz einfach faktisch sein“,überlegte Sven „wenn sich Fakten, sowieso immer nur auf anderen Tatsachen, also anerkannten Fakten begründen. Steht am Ende eines zufällig gewählten Faktums, wenn man es bis zu seinem Grund auseinandernimmt, in Einzelteile zerlegt und dieser endlosen Kette bis zu seinem unmöglichen Beginn folgt, nicht immer derselbe Fakt und ist dieser letzte Fakt, nicht immer nur eine Frage. Und ist diese Frage nicht auch der Beginn aller Fiktion und der Fakt, somit nicht mehr als die Vereinfachung alles Fiktiven.“ Erschöpft von dieser endlosen Reihung und erschöpft, von der nichtssagenden Gewalt der Bilder über seinem Kopf, wendete sich Sven ab und durchsuchte einige der Schränke hinter dem Tresen, bis er ein an den Rändern zerrissenes und vergilbtes Buch fand. Er setzte sich auf einen der Barhocker und nahm einen tiefen Schluck von dem schalen Bier, das Peter ihm reichte.

„Sag mal Peter, sind dir irgendwann mal die Bilder an der Decke aufgefallen?“
Peter schaute nach oben: „Nene, ich glaub ich hab in meinem ganzen Leben noch nie nach oben geschaut. Sollte man öfters mal machen.“, kichernd trank auch er von seinem Bier. „Mo war schon immer so empfindlich. Ein sensibler Botschafter des Rausches.“
„Schon seltsam. Hier, ich hab ein Buch gefunden.“ Sven legte es auf den Tresen und schlug es auf einer der hinteren Seiten auf. „Also, eine Gästebuch ist das nicht.“, sagte er nach einer Weile. Irritiert las er vor:

„29.10. Wünschte ich könnte irgendwohin. Oder zumindest Hannes rausschmeißen. Immer das Gleiche. Sollte seine Spermafreundin überfallen und die Huhnmenschen züchten und auf ihn hetzen. Vielleicht kehrt dann auch das Gefühl der Bestimmung wieder. War mir immer sicher der Auserwählte der Kneiper zu sein. Bestimmung verloren im Schnaps- und Zigarettenmeer. Führerlos in einer Buddle aus Selbstgebranntem und Bier.
30.10. Die Nacht erdrückt von Lichtern. Fenster werden zu kreisenden Quadraten. Die Wirklichkeit ist psychedelischer als die Zeit und jeder Augenblick ist ein Deja-vu. Ich sitze auf dem Klo und will aufstehen und endlos scheint es mir, als hätte ich es bereits getan oder wäre gerade dabei. Die Wände beginnen sich lautlos zu drehen und ich bin mir sicher, schon immer hier festzusitzen.“

II

Herr Sven, Schluss jetzt. Und auch du Herr Meier. Wir sind hier doch nicht im Zirkus. Oder im Zoo. Biertitten… Säuferglück… Wir alle hier wollen Leuten wie Ihnen, Herr Sven, dabei helfen, eine adäquate Anstellung zu finden, die bestmöglich auf persönliche Stärken und Präferenzen abgestimmt ist. Wenn ich mir Ihren Lebenslauf so anschaue, frage ich mich, wie Sie sich Ihre Zukunft überhaupt vorstellen. Haben Sie sich jemals gefragt, welchen Wert Sie durch Ihre fortwährende Arbeitslosigkeit für unsere Gesellschaft und unseren Staat besitzen. Haben Sie denn nie das Bedürfnis verspürt eine Leistung zu erbringen, die über ein rein egoistisches Interesse hinausreicht? Ich persönlich werde mich dafür einsetzen, dass Sie von nun an die bestmögliche Betreuung erhalten. Und auch wenn es nicht viel ist, so will ich mich doch der Bewahrung der kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften verschreiben und meinen kleinen bescheidenen Beitrag zur Aufrechterhaltung unserer gesellschaftlichen und vor allem moralischen Ordnung leisten. Hören Sie Herr Sven, ich erkläre Sie zu meiner obersten Priorität.“

Sven hörte Lydias Worte und wusste nicht, welche Reaktion von ihm erwartet wurde und ob ihre leidenschaftliche Ansprache nicht ein weiterer Teil des absurden Theaters war, dass er seit diesem Morgen erlebte. Bei den Worten oberste Priorität hatte Sven das Gefühl, dass Lydia leicht die Augenbrauen nach oben zog und ihm einen verdeckt lüsternen Blick zuwarf. Um sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen, schaute er sich unauffällig im Raum um. Er sah Volkers schwabbeliges Gesicht, dass fast vollständig von seiner fleischigen Hand bedeckt war, um die quiekenden und grunzenden Geräusche zu dämpfen, die nun nur noch vereinzelt aus ihm hervorbrachen. Um Lydias Hals erblickte er eine silberne Kette, mit einem kleinen, funkelnden Stein, der in starkem Kontrast zu Ihren roten Haaren und den bunten Tattoos stand und der ihn an den bläulichen Stern erinnerte, den er in der Nacht von Mo’s Tod gesehen hatte. Morgenstern und Totennacht, dachte Sven. Abwesend saß er in seinem Stuhl und sah auf seine dreckigen Schuhe, das Gesicht zu einer scheinbar reumütigen Maske erstarrt.

Nun Kopf hoch, Herr Sven.“, Volker hatte sich erhoben und stand nun unmittelbar vor Sven. „Lydia, nun schauen Sie sich doch an, was Sie dem armen Mann hier antun. Ihre Drohungen und dieser mittelalterliche Appell an die die aufrichtige Seele des edlen und aufgeklärten Menschen, ist hier doch völlig fehl platziert. Schauen Sie nur die unterdrückten Tränen dieses gepeinigten Geschöpfes, dieses gequälten und gemarterten Geistes, der doch nichts mehr ersehnt, als ein Ziel, dass ihm der Erlösung näher bringt. Ich weiß, Ihr vom Logos bestimmtes Wesen, ist wahrscheinlich nicht imstande die empfindsame Natur eines Künstlers, auch nur in ihren Grundzügen zu verstehen. Bei einem offensichtlichen Fall, wie diesem hätte ich jedoch gewünscht, dass Sie zu einem, zumindest gespielten, Mitgefühl fähig wären. Dass ist auch der eigentliche Grund, warum ich Ihnen Herrn Sven vorenthalten wollte. Auch wenn ich mich vor Ihnen als Zweifler bekenne, so wurde mir doch klar, dass ich es mit einem Besonderen Menschen, ich behaupte gar einem Gesegneten, zu tun habe. Ich habe bereits viel von Ihnen gehört Herr Sven. Nennen Sie mich doch Thomas. Thomas Meier. Herr Meier, wenn es Ihnen recht ist. Peter hat mir viel von Ihnen erzählt.“

Auch Lydia war nun vorgetreten und Sven hatte das Gefühl ihr etwas zu aufdringliches Parfüm auf seiner Haut spüren zu können. Ihre Bluse schien etwas weiter geöffnet, als noch vor einigen Minuten und die zwielichtige Dunkelheit ihres Dekolletees, erweckte eine mystische Sehnsucht nach den Geheimnissen und Abgründen der Nacht in Sven. Lydias‘ Blick wanderte unstet von ihm zu Peter und wieder zurück und ihr Ausdruck durchschritt ungekennzeichnete Bereiche von Zorn und Flehen.

Herr Sven, ich bitte Sie nun eindringlich meinen Worten Gehör zu schenken. Es geht hier doch nicht um den Widerspruch von Kunst und Verstand, sondern Ihre Zukunft, Ihr Glück, Ihr Seelenheil. Ich verstehe den grundsätzlich gestalterischen und bildenden Anspruch Ihres Lebens, vielleicht sogar Ihrer gesamten Existenz. Doch sollte nicht gerade ein Künstler die unerträgliche Schwere des Lebens greifen können, ihr widerstreben, sie bekämpfen und sich durch Selbstaufgabe zum Wohle der Menschheit opfern. Wäre dann nicht das Leben selbst ein Kunstwerk, welches es zu gestalten gilt.“

Lydia,“ Herr Meiers Worte klangen nun drohend. „Ich glaube Sie verwechseln hier etwas, nicht des Künstlers Leben ist das Kunstwerk, sondern der Künstler an sich. Nicht das Opfer, zum Wohl des Menschen, weiß den Geist zu stimulieren, zu beflügeln und ihn mit dem Wesen der Unendlichkeit in Verbindung zu bringen, sondern die Selbstaufgabe zum Zwecke der Aufgabe des Selbst an sich. Ich bitte Sie, als ob es die Gesellschaft wert wäre gerettet zu werden. Gerade wir sollten uns doch dem unausweichlichen Scheitern dieses Ziels bewusst sein. Nein, wenn Herr Sven nur ein Kunstwerk schaffen könnte, dass der Erinnerung würdig ist, so erlangten wir, die ihn dabei stützen, doch auch die Unsterblichkeit. Ich, und auch Sie Lydia, wenn Sie sich nur Herrn Sven verpflichten könnten, wären sein Gott und seine Jünger.“

Die Atmosphäre im Raum erregte Sven. Der unsinnige Kampf zweier Sachberater, um ein undefinierbares Ziel, weckte körperliche Gelüste, die ihn selbst irritierten. Er fragte sich, warum sich Lydias monotones Beamtendasein innerhalb kürzester Zeit, zu einem fanatischen Eintreten für die Grundsätze der Gesellschaft gewandelt hatte und Sie ihre gemeinsame Nacht scheinbar völlig ignorierte. Fragte sich, wie Volker in Wahrheit hieß. Dachte darüber nach ihn in seinen Stuhl zu drücken und Lydia anschließend vor seinen Augen und auf seinem Schreibtisch, unter Volkers oder Thomas oder Herr Meiers Gekicher und Beifallsstürmen durchzunehmen und sie dabei in ekstatische Höhen zu treiben. Sven schüttelte sich und stand auf. „Also gut, ich muss dann mal, ich hab auch noch einen Termin.“ „Herr Sven,“ Herr Meier schien aufgebracht „wie sind hier noch nicht einmal annähernd fertig, ein vorzeitiges Verlassen des Raumes, wäre eine grobe Verletzung irgendeines Artikels.“

Herr Sven,“ pflichtete Lydia ihm bei „ich denke auch, dass es hier noch einige grundsätzliche Fragen zu klären gibt. Aber ich verstehe, dass vielleicht alles etwas zu viel für sie ist. Nach allem was gerade mit Ihrem Freund geschehen ist, würde ich sagen, wir vertagen dieses Gespräch auf nächste Woche. In der Zwischenzeit schauen Sie sich doch bitte das folgende Stellenangebot etwas genauer an. Triumphierend und provokant schaute Sie zu Thomas. „Also Freund, ach Mo, nun ja…“ warf Sven ein, doch Volker unterbrach ihn.

Ja Herr Sven, mein Beileid. Tragische Geschichte. Wie gesagt, nächste Woche, gleicher Tag, gleiche Zeit. Und bitte lesen Sie sich auch diese Stellenbeschreibung in Ruhe durch.“, lächelnd zog er einen großen Umschlag aus seiner Schreibtischschublade, übergab ihn an Sven. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Aber natürlich vollkommen zwanglos, wir wollen sie schließlich zu nichts zwingen, was Sie in Wirklichkeit gar nicht wollen.“ Abschätzig blickte er zu Lydia.

Ja gut, alles klar, dann. Tschüss.“ hastig ging Sven aus dem Büro und hörte nur noch ein synchrones auf Wiedersehen von Lydia und Thomas.

Als er endlich bei sich zu Hause ankam, sah er Peter mit undefinierbaren Ausdruck vor seiner Tür stehen. Er war irritiert, wie ähnlich Herr Meier und Peter sich sahen und dass er diese Ähnlichkeit erst jetzt bemerkte. „Du schon wieder hier. Ich wollte jetzt eigentlich…“, doch Peter unterbrach ihn, einen Zettel von links nach rechts wedelnd. „Ja ja, Sven so ist das. Setzt dich lieber hin, oder bleib stehen oder ach, was soll’s: Der Brief ist von Hannes. War vorhin bei Mo. Nostalgie und so. Hannes lag vor dem Haus. Hat sich vom Dach gestürzt. Keine Ahnung wie der da hochgekommen ist. Den Brief hatte er bei sich.“

VI

„Nur noch eine Sekunde, ich bin hier mit Herrn… mit Herrn Sven in einem äußerst wichtigen Gespräch. Volker lachte noch immer und sein Gesicht war mittlerweile dunkelrot. Sven sah wie der Schweiß von Stirn, Nacken und Kinn in seine Kleider rann. Sein weißes Hemd war mittlerweile gräulich verfärbt und unregelmäßig mit Flecken bedeckt und sein Bart wirkte wie eine postmoderne Skulptur aus der scheinbar quellenlos und überbordend Wasser austrat, das sich auf den feinen Härchen zu immer größeren Tropfen sammelte, die bei jedem ekstatischen Lachen des mächtiges Körpers auf und ab schwangen und wie festgeklebt schienen. Wasserbart und Biertitte, dachte Sven unwillkürlich und sagte es, um es sich für später einzuprägen noch ein paar mal laut vor sich hin. Der Tag verlief erfolgversprechender als gedacht und war auf absurde Weise realistischer als seine vorigen Besuche beim Amt. Durch Volkers Lachen ermutigt, grinste nun auch er debil vor sich hin und sagteetwas lauter: Biertitte und Wasserbart. Die Geräsuche, die aus Volker hervorquollen wurden nur noch euphorischer und erste Tränen flogen durch die Luft auf vor ihm liegende Unterlagen. Spontan wagte sich Sven an einige Improvisationen: Bierbart und Wassertitte, Bartwasser und Tittenbier, Bierwasser und Tittenbart, Wasserbier und Bartitte. Gerade war Sven dabei sein Vokabular neu zu ordnen und subtile Neukombinationen in den bestehenden Rhythmus einzuflechten da öffnete sich die Tür und Lydia betrat verärgert den Raum. „Ach, na sowas…. Lydia.“ Volker brachte die Worte nur mühsam hervor, doch langsam entspannte er sich. Verschwörerisch blinzelte er Sven zu „Schön das du hier bist, ich möchte dir unbedingt Herrn, Herrn, Herrn… Sven vorstellen. Du wirst begeistert sein. So einen hochmotivierten und engagierten Kandidaten hatten wir hier schon seit Monaten nicht. Grandios, ja famos. IT-Spezialist, Literat und Wortakrobat.“

„Ach Lydia.“, stammelte Sven. „Na, da bist du ja! Volker hat mir gesagt…“

„Herr Meier. Also wirklich Herr Sven, ich bitte Sie. Wahren Sie Haltung auch im Angesicht der Liebe.“ Volker hob tadelnd den Zeigefinger und schwenkte ihn lächelnd von links nach rechts.

„Also Herr Meier hat mir gesagt… Moment, Moment. Ich dachte ich sollte dich, also Sie Volker nennen, dass haben Sie doch selbst gesagt.“

„Herr Sven, ich glaube Sie verstehen den Ernst der Lage nicht. Ich bin ihr Sachbearbeiter, ich bin dafür zuständig Ihnen einen neuen Job zu vermitteln, ich erstatte Bericht an höchste Stelle über Ihren Erfolg und Misserfolg, bestimme somit direkt oder indirekt, je nach Auslegung, über die Fortführung Ihrer Sozialleistungen, bestimme darüber ob Sie im Winter ein Dach über dem Kopf haben, ob Sie im Winter frieren, ob Sie es sich leisten können zu essen oder hungern müssen. Ich bin sozusagen oberster Richter über Ihr Leben. Und Ihren Tod. Herr Sven wissen Sie denn, wer im allgemeinen Verständnis, neuzeitliche Strömungen außer Acht gelassen, dazu in der Lage ist, zu entscheiden, ob etwas leben oder sterben soll.“ In diesem Moment hielt Volker die Luft an und sein Finger stand drohend in der Luft. Alles war still und Sven musste sich eingestehen, dass er der traurigen Komik der Situation den Vorzug gab gegenüber den erniedrigenden Routinen der sonstigen Behördengänge.

Stille. Zäh stehende Sekunden und ein schwankender Finger in der Luft. Sekunde um Sekunde und niemand sagte ein Wort, sodass Sven überlegte, ob er nicht vielleicht eine neuerliche Erklärung fordern sollte. Und doch schien es unangemessen, solang der wulstige Finger in nebulöser und bedeutungsschwangerer Haltung über ihm kreiste.

Geräuschvoll blies Volker die Luft aus: „Gott. Gott richtet über Leben und Tod. Ich bin ihr persönlicher Gott. Der Allmächtige Ihres Lebens. Und glauben Sie, dass ein Gott einem Sterblichen das du anbieten würde?“

Als Sven nicht antwortete, lehnte sich Volker über seinen Schreibtisch und piekste ihn mit einem Bleistift aufmunternd in die Rippen. „Glauben Sie, dass ein Gott geduzt werden möchte?“, wiederholte er mit stechendem Blick.

„Also…“, begann Sven nach einer Weile. „Das kommt vielleicht auch darauf an, ob es mehrere Götter gibt und die sich dann duzen, wenn sie im Fragilem Säuferglück zusammen…“

„Nein“, brach es aus Volker hervor „ein Gott besteht auf das Sie. Seien Sie froh Herr Sven, dass ich in diesem Fall ein gnädiger und kein rachsüchtiger Gott bin.“ Hocherfreut und glücklich begann er wieder zu lachen.

IV

Vielsagend lag der Gang im flackernden Licht einer genau benennbaren Tageszeit. Es war Mittag. Keine Gedanken und keine Bilder, nur die Vorfreude auf die Überlegenheit im Angesicht der Banalität der bevorstehenden Demütigung. Sven fühlte sich gut und war selbst überrascht über die Klarheit der Empfindung. Es waren keine genaueren Analysen erforderlich, keine Hinterfragung winziger Nuancen, der Gedankenstrom ruhte und es war ein ganzheitliches Gefühl. Gut, doch überlegte Sven, gut ist kein Substantiv, eher ein Zustand und ein Zustand ist keine Empfindung. Liebe, Wonne, Befriedigung, Trauer, Schmerz, Gut. Es fügte sich nicht in die Reihe der großen Emotionen, war zu einfach, zu kurz und nichtssagend. Doch vielleicht liegt hier die Größe verborgen, die in Jahrhunderten der Dichter übersehen, gar missachtet wurde. 3 Buchstaben, der Weisheit, die das Leben transzendieren. Zen. Gut. Also dann, dachte Sven und durchschritt zügig und selbstbewusst den Gang. Ein abschätziger Blick durch die Glastür auf der linken Seite. Die Wartenden, die müde oder wütend oder teilnahmslos im Wartezimmer ausharrten, gebrochen durch die Zeit und die Förmlichkeit, das Ritual der Rechtsstaatlichkeit, vor der alle gleich waren und das allen mit derselben Schicksalslosen Logik begegnet. Sven fühlte, dass er die Methodik durchschaute und über sie hinaufblickte auch wenn er weiterhin ein Teil des perfiden Spiels war. Doch galt es den Schein zu waren, das Wissen zu verbergen und vorzugeben die eigene Glückseligkeit auch weiterhin ausschließlich an den Ausgang und das Gelingen zu binden. Sven sah sich selbst in der Masse als leuchtenden Punkte, der innerlich triumphierte auch wenn er verlor. Eine außerkörperliche Erfahrung in diesem Moment, dachte Sven und ging lächelnd auf die Anmeldung zu, wo sein Blick erstarrte und seine Züge entglitten. Ihm gegenüber saß ein Mann mit Brille, massig im Umfang, verschwand der Drehstuhl unter seinem riesigem Körper und er schien nur schwerelos in der Luft zu sitzen und im Rhythmus der Arbeit von einer Seite seines Schreibtischs zur anderen zur Schweben. Seine Haare waren zur Seite gekämmt, das Hemd makellos weiß und modisch, auch wenn die Knöpfe es nur mit größter Mühe zusammenhielten und der edle Stoff den Blick auf die darunterliegenden Fettwülste nur unvollständig verbarg. Der Mann verharrte einen Moment in der Bewegung, lauschte konzentriert und fuhr fort, bedächtig auf seiner Tastatur zu tippen. Er blickte nicht auf und fragte nur in unbeteiligtem und gelangweilten Ton: „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Bei der Frage wich alles Vertrauen aus Sven und er sah, wie der winzige Punkte in der Masse unterging, verglühte und als unbedeutender Brandfleck im Boden verschwand. Plötzlich fühlte er sich leer und wünschte sich zu Hause zu sein, auf dem Sofa mit einer Schokomilch, oder im Wald, oder selbst bei seiner Mutter. Wütend lokalisierte er letzte Energiereserven und antwortete ruhig: „Peter, was soll denn der Scheiß. Seit wann arbeitest du denn hier beim Amt?“ Der Mann drehte sich zu Sven um, musterte ihn für einige Zeit, schaute über seine Brille und sagte ruhig: „Entschuldigen Sie aber Sie müssen mich…“ „Einen Scheiß muss ich.“, unterbrach ihn Sven, jetzt lachend. „Alter verarsch mich nicht, als obs auf der Welt irgendwen gibt, der aussieht wie du.“ Der Mann schloss die Augen und als er sie wieder öffnete, wirkten sie müde, doch dann wandelte sich der Ausdruck in seinem Gesicht und er brüllte Sven an: „Was bilden Sie sich überhaupt ein. Nicht arbeiten wollen und dann Geld vom Staat und überhaupt, bin ich doch für Sie nur ne Witzfigur. Kommen hier rein, lächelnd und gut gelaunt und denken sie können hier machen, was sie wollen. Und wenns dann doch mal Arbeit gibt oder Maßnahme, den Scheiß dann bloß nicht ernst nehmen was. Und glauben Sie ich weiß nichts von der Klauerei. Die ganzen Scheißwerkzeuge, haben sie mitgehen lassen und die Firma ist pleite gegangen, wissen sie eigentlich was so ne Scheißwerkstatt ohne Werkzeuge ist, ein vedammter Schrottplatz, auf dem alles verkommt. Aber Ihnen macht das ja nichts. Hauptsache ein bisschen Geld und kein Stress, ab und zu ein bisschen Sport, ein bisschen saufen aber nur von nichts zu viel. Jetzt reichts mir aber. Man sollte Sie einsperren lassen, wie heißen sie eigentlich?“

Sprachlos stand Sven vor dem Mann und schloss nun seinerseits die Augen. Scheiße dachte er, was soll man da noch sagen. Am besten schweigen und warten und wenn mir was einfällt, dann raus damit. Aber was, überlegte Sven, was sagt man, wenn es eigentlich nichts zu sagen gibt. Eigentlich hat er ja recht, also aus seiner Position heraus, also angenommen er wäre nicht Peter. Vielleicht hab ich mich auch verguckt, vielleicht wieder die Nerven, war ja auch einiges los in letzter Zeit und überhaupt den ganzen Stress ist man ja nicht gewohnt. Zwei Tage Saufen, ne Schlägerei und ein Toter. Mo, dachte Sven und spürte, wie er vor Wut und Hilflosigkeit die Fäuste ballte. Und wenn schon, dachte er. Vielleicht hat der Typ recht aber dann, wenn man mal meine Situation betrachtet, kann er mich mal. Son Typ hat mir doch gar nichts zu sagen. Schließlich ist das mein Leben, dachte Sven. Und ich wollte ja nicht zum Amt, sondern das Amt zu mir, also in gewisser Weise. Sven öffnete die Augen und war bereit sich umzudrehen und hinaus zu stürmen, doch der Mann hatte seine Brille abgenommen und seine Augen tränten vor Lachen. „Sven Mensch, was ist denn los, also das dich das jetzt so trifft, hätt ich aber nicht gedacht. Du hast ja Tränen in den Augen. Dachte nach der ganzen Scheiße in letzter Zeit brauchst du mal ein bisschen Aufmunterung.“ Verständnislos und schockiert starrte Sven seinen Freund, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, von denen er nicht bemerkt hatte, dass sie ihm die Wange hinabliefen, holte aus, schlug Peter ins Gesicht und fing seinerseits an zu lachen. Krachend viel Peter zu Boden. „Blöder Typ.“, sagte Sven erleichtert und half Peter auf die Füße. „Was für ne doofe Nummer. Ich versteh das nicht, was sollte das denn? Warum? Wie?“

„Ach Mensch Sven, das hast du mich aber gut getroffen.“ Peters Wange war bereits leicht geschwollen und die Worte klangen seltsam gedämpft. „Hoffen wir mal, dass keine Kameras hier sind, sonst wirst du noch verhaftet.“

„Peter, jetzt erzähl mir endlich was das sollte.“

„Sven, du warst so depressiv oder irgendwie traurig in den letzten Tagen und ich dachte, du brauchst ein wenig Aufmunterung,“

„Mo ist vor zwei Tagen gestorben. Aufmunterung und dann so?“

„Naja, doch, schon, aber vielleicht war das auch nicht ganz durchdacht. Na jedenfalls, kennen die mich hier schon beim Amt und neulich war ich hier mit dem Thomas mal einen trinken und da hab ich den mal gefragt, ob wir das machen könnten und der fand das auch ganz lustig. Hat gesagt, wenn wir nicht zu laut sind, und keinen aufhalten, dann geht das schon, weil das Wartezimmer ja in dem Raum dahinten ist. Ich wusste ja, dass du heute einen Termin hast. Aber lass uns jetzt mal lieber ins Wartezimmer gehen.“

„Hast du diesen Thomas nach Laydia gefragt?“

„Lydia… Lydia… Ach, die. Ne.“

„Du kennst hier wen beim Amt und denkst dir so nen Scheiß aus, und dann fragst du nicht mal. Peter echt mal. Scheiße.“ Sven öffnete die Tür zum Wartezimmer. „Peter, echt mal.“, er schaute auf den Boden, das überfüllte Wartezimmer und drehte sich zu Peter um „Peter echt mal, ich hab keinen Bock mehr.“ „Aber auf was?“, sagte Peter lachend, rieb sich die aufgequollene Wange und Sven war unfähig Peters durchdringenden Blick zu deuten.

II

Sven wusste nicht was er machen sollte und fühlte sich überfordert. Er fuhr die Straße entlang, versuchte nichts zu denken und musste einsehen, dass auch das in gewissem Sinne wieder ein Gedanke war. Ein Vorhaben , überlegte er, auch wenn es unmöglich sein sollte oder erfolglos. Eine gescheiterte Handlung, die geplant ist aber nicht umgesetzt werden kann. Handlung ohne Aktion, die nur im Kopf vollzogen wird und deren Ausführung selbst dort scheitert. Und wieder ein Gedanke. Abrupt zog Sven die Bremse, schlitterte ein Stück auf der vom Frost überzogenen Straße und kam schließlich zum Stehen. Er befand sich mittlerweile auf einem kurzen Stück Feldweg, das die beiden Ortsteile des Dorfes verband. Um diese Uhrzeit gab es hier keine Menschen und alles was er in der Ferne erkannte, waren die vorbeiziehenden Scheinwerfer der Autos, die sich hinter der nächsten Kurve auflösten, und dann nach einer Weile durch Neue ersetzt wurden. Ein Stakkato von Licht und Dunkelheit und von Stille und Motoren. Sven schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Geräusche des frühen Abends und hörte ein seltsames Rauschen, ein tiefes Summen, dass er immer bemerkte, wenn er im Wald war, oder auf dem Feld, oder Nachts im Dorf, und nichts um ihn herum geschah und alles ganz ruhig war. Es war kein Lärm von Fahrzeugen oder Fabriken, auch wenn es sich manchmal mit einem Klang vermischte, der dem lauten und schrillenden Schlagen eines riesigen Hammers auf Metall glich. Doch das Rauschen wurde dadurch nur intensiver. Sven wusste nicht ob es ein alltägliches Geräusch war, das jeder hören konnte der allein war und die Augen schloss oder ob es sein eigenes, sein persönliches Rauschen war. „Es ist immer da, aber nicht in mir“, überlegte er. „und in der Stadt höre ich es nicht. Und im Winter in den Bergen höre ich es nicht. Unter dem Schnee schweigt alles.“, dachte Sven „unter dem Schnee schweigt die Erde, die sonst rauscht.“ In diesem Moment tauchte auf der Landstraße ein LKW auf, hupte und durchschnitt die abendliche Luft. Svens Gedanken gerieten in Unordnung und plötzlich sah er Mo’s Gesicht in der Dunkelheit vor sich. Plastisch, durchsichtig und aus sich selbst strahlend, stand es körperlos in der Luft, bevor es wieder verschwand.

Es hatte mehr als eine Stunde gedauert, bis vor zwei Tagen endlich die Sirenen des Krankenwagens vor dem Schmiedehammer erklungen waren. Dreimal hatte Sven in der Notzentrale angerufen, bis er jemandem verständlich machen konnte, was er wollte und wo er war. Die ganze Zeit über hatte er fluchend auf dem kalten Küchenboden gesessen, hatte Mo’s Kopf in seinem Schoß gehalten und dabei dessen unerbittliches Fiepsen und Röcheln ertragen. Fast unverständlich, doch mit einem bittenden, fast flehendem Ton, der die Worte nur erahnen ließ und dann doch wieder unmissverständlich und klar „Lass ma… Lass ma… Is schon gut…“ Sven hatte nicht verstanden, warum ausgerechnet er Mo an diesem Abend finden musste, warum er ausgerechnet an diesem Abend ein zweites Mal in den Schmiedehammer gegangen war und doch schien es auch jetzt noch unvermeidlich. Als der Rettungsdienst in die Wohnung gekommen war, hatte es nach all der Zeit des Wartens und der sinnlosen und überstürzten Anrufe etwas Unwirkliches und fast hätte Sven vergessen, dass Mo’s Kopf immer noch auf seinen Beinen lag. Die beiden Notärzte hatten sich so ähnlich gesehen, dass Sven sie, auch wenn er sich bemühte und argwöhnisch die Augen zusammen kniff, nicht unterscheiden konnte. Beide waren groß, mit langen Gesichtern und spitzem Kinn aus denen unregelmäßig einige Haare sprossen. Hellblaue Augen und über ihrer rechten Braue, fast parallel eine rötliche Narbe. Abwechselnd hatten sie Sven einige Fragen gestellt, doch Ihre Stimmen waren identisch, so dass er nie gewusste hatte, wer gerade sprach und beinahe hatte es geklungen, als redeten sie zur gleichen Zeit und das Ende der einen Frage akzentuierte nur den Beginn der nächsten. Sven erinnerte sich nur undeutlich an das Gespräch, das halb im Verborgenen lag, und ihm auch jetzt mit einigem Abstand und in seiner Undeutlichkeit seltsam und bizarr vorkam. „Ihr Freund hier ist der Besitzer der Bar?“ „Seit wann?“ „Hatte er in seiner Jugend jemals Nasenbluten?“ „Und Haarausfall?“ „Geschlechtsreife in welchem Alter?“ „Häufigkeit der sexuellen Aktivität?“ „Und bei Ihnen?“ Verständnislos hatte Sven sie angestarrt und sie angefleht Mo zu helfen und schließlich versucht ihnen etwas von Mo’s Worten mitzuteilen, von Gestalten die Mo manchmal sah und davon, dass Mo vielleicht nicht mehr leben wollte. „Selbstmord? Haben Sie ihn umgebracht? Nur Spaß.“, oder etwas Ähnliches war ihre Antwort und Sven hatte nur noch wütender gestottert und ihnen Mo’s Satzfetzen zusammenhanglos entgegengeworfen bis sie Sven mit übertriebenen, weit ausholenden Gesten und zugespitzten Gesichtszügen ihre Hände auf die Schulter gelegt, ihm ein paar Tabletten in die Hand gedrückt und zu einem Stuhl geführt hatten. „Wie zwei Schauspieler aus einem frühen Stummfilm bei denen jede Handlung wirkte wie Ihre eigene Parodie“, musste Sven jetzt denken. „Hören Sie“, hatten die beiden gesagt und ihre Worten hallten in Sven Ohren noch immer wider wie ein Echo. „Ihr Freund hier ist tot und das wahrscheinlich schon seit ner ganzen Weile. Nehmen Sie die erst mal, dann geht’s Ihnen schon besser und dann fahren wir Sie nach Hause. Und jetzt entspannen Sie sich erst mal. Sind ja ganz blass im Gesicht. Kein Wunder. Die Nerven. Die Nerven.“ Sven erinnerte sich nicht, was danach geschehen war. Irgendwann hatte er sich in seiner Wohnung sitzend wiedergefunden, neben ihm nichts als das beruhigende auf und ab von Peters Schnarchen, welches wie schon fast üblich die Zimmer von Svens Wohnung ausgefüllt und ihm die Zeit bis zum Morgen vertrieben hatte, als er im lokalen Radiosender erneut von Mo’s Tod erfahren hatte.

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