VI

Die langsame Fahrt über die altbekannten Straßen seiner Heimat, durch die kalte Mittagsluft, die den Atem als geisterhafte Wolke verfestigte, ließ Sven an so etwas wie Normalität glauben. Schon als Kind war er zusammen mit Peter auf zu kleinen und zu alten Fahrrädern, ohne Klingel oder Licht, durch das Dorf gefahren, war an der Ecke beim Bäcker rechts abgebogen, dann einen kleinen Hügel hinauf und am Haus von dem alten Schulz vorbei, der früher eine private Kneipe betrieben hatte. Sven kannte nur noch die Geschichten, die sich damals bei den unbedeutenden und dramatischen Derbys der Kreisklasse erzählt wurden. Mit Bier und Zigarette in der Hand hatten die schon damals alten Rentner zwischen Freudenschreien und Todesflüchen vom „Regenten“ geträumt, der gleichzeitig Schulz und sein Wohnzimmer meinte und dabei doch viel mehr umschloss und als Synonym für eine gelebte Utopie stand. Zu einer Zeit, lange bevor zuerst die Welt und dann darf Dorf von einem anankastischen Gesundheitswahn erfasst wurde, der den Tod nicht einfach wie früher ignorierte, bis er nicht länger zu ignorieren war, sondern ihn als abstrakten Bruch mit der rationalisierten und natürlichen Ordnung bekämpfte, zu dieser Zeit also herrschte das goldene Zeitalter des Regenten. Männer die in schlaflosen Nächten zaudernd mit sich und der Welt am Fenster standen und in stiller Meditation den Mond betrachteten, machten sich in ihren löchrigen Schlafanzügen, reihenweise auf zum „Regenten“, der gleichermaßen Frage und Antwort bot. Frauen, die durch die Kälte fehlender Körper erwachten, vom Schlaf verquollene Augen, verlassen von ihren Gemahlen, auf wichtiger Mission, schlüpften in ihre Bademäntel, in die alten vom Hund angefressenen Schlappen und schlurften anmutig und wissend zum „Regenten“, die aufkeimende Sorge schnell vertrieben durch eine furchtbare Maske der Wut. Und so fanden die Partner wieder zusammen. Nach rhetorischen Vorwürfen und Liebesbekundungen waren die Liebenden bei Bier, Wein und Kräuter wieder vereint oder vereint im Rausch, und nicht jeder beendete die Nacht in dem Bett, dem er vorher entstiegen war. Fragte man die Betroffenen später, wie es denn dazugekommen sei und wie die normalerweise von Liebe und Eifersucht ganz und gar besessenen Frauen und Männer, sich dem Exzess und der Vergebung in derlei Weise ausliefern konnten, so erfolgte als Antwort ein schüchternes Lächeln und wie ein Mantra wiederholten alle die gleichen vier Worte: „Die Magie des Regenten“. Es gab Geschichten von Fußspuren an den Wänden und an der Decke, an deren Entstehen sich niemand erinnern konnte und von denen die einen behaupteten, dass ein Mann auf der Flucht vor seinem Weib und auf dem schnellsten Weg zu seinem Bier an die Wand gesprungen und über die Decke zum Tresen gelaufen sei. Andere meinten an einem Herbstmorgen, als die letzten Gäste auf den Tischen tanzten und sich andere in den Ecken des Wohnzimmers ihrer Liebe ganz und gar hingaben, wären unsichtbare Füße an den Wänden erschienen, wären unbemerkt und im Stillen weiter und weiter fortgeschritten, während das Ziel der Hingabe und Wollust, eine Frau mit blutroten Lippen und Ährenkranz in ihrem Haar, ahnungslos die letzten Tropfen aus einer Flasche sauren Apfels leckte.

Gespannt und verständnislos, von Begeisterung und einer unbestimmten Wehmut erfasst, hatte Sven den Geschichten der Alten, die ihm heute mehr denn je als fantastische Mythen erschienen, gelauscht. Er kannte die Legende des falschen Löwen oder die Sage der musizierenden Rugbymannschaft, die in einer stürmischen Nacht, ebenso stürmisch gegen Schulz verschlossene Haustür geklopft hatte. Dreizehn vom Regen und vom Schweiß nasse Gestalten, von einem unbekannten Ort angeschwemmt, im tiefen Osten gestrandet und am nächsten Tag spurlos verschwunden, hatten sie ihre Sporttaschen in die Ecke geworfen, und nach einiger Zeit ihre Instrumente herausgeholt und begonnen zu spielen. Angelockt von der Musik oder von der Trostlosigkeit der nahenden Zukunft, hatte sich fast das Ganze Dorf in Schulz‘ Wohnzimmer versammelt, gelacht, getanzt, getrunken und geliebt und doch wusste am nächsten Tag niemand, wie jemand der die Gegend nicht kannte, am Ende doch immer zu Schulz fand. Doch der Regent selbst hatte immer nur geschwiegen und höflich gelächelt.

Wenn Sven sich jetzt an die Geschichten erinnerte, wurde ihm in unangenehmer Weise sein eigenes Leben bewusst. Verglichen mit den Gestalten anderer Generationen fühlte er sich als unvollständiger Mann, als verkrüppeltes Männlein, dass die Bierbäuche der Alten im Stillen als unschätzbare Lebenserfahrungen verehrte. Jedes Kilo, zehn Bier und jedes Bier eine mystische und geheimnisvolle Nacht der Überraschungen. Doch als er einmal umständlich zu erklären versucht, warum heute nicht alles besser ist, er Probleme hat die Welt zu verstehen, und ihm persönlich etwas fehlt, was es früher wahrscheinlich einmal gab, auch wenn er nicht explizit benennen könne, was das eigentlich wäre, hatte er nur ein mitleidiges Lachen und eine unmissverständliche Zurechtweisung erhalten: Die Undankbarkeit der Jugend, Möglichkeiten und Chancen, an die zu denken früher als Wahnsinn gegolten hätte, die Repressalien, Schwierigkeiten und Entbehrungen der Vergangenheit. Demütig hatte Sven da den Kopf gesenkt und versucht an das Glück seiner Zeit zu glauben.

Und so folgte er Peter heute wie früher auf Umwegen, Schotter- und Schleichwegen, im Kreis und wieder zurück als altes Kind durch das Dorf, und hoffte, dass ihm nun endlich jemand das Glück seiner Zeit zeigen könnte. Bei dem Gedanken daran, dass dieser jemand ausgerechnet Peter sein könnte, begann er atemlos zu lachen, bis er sich schließlich nicht mehr auf dem Fahrrad halten konnte, absprang und in die Knie ging. Und auch Peter tat es ihm gleich und stimmte freudig und hemmungslos in den Lachkrampf ein, bis er schließlich mühsam hervorbrachte:
„Sven… hahah… Sven…. worüber lachen… wir eigentlich…?“
„Der Regent.“, würgte Sven erstickt hervor.
Peter wurde ernst und blickte Sven vielsagend an: „Der Guru.“