IV

Vielsagend lag der Gang im flackernden Licht einer genau benennbaren Tageszeit. Es war Mittag. Keine Gedanken und keine Bilder, nur die Vorfreude auf die Überlegenheit im Angesicht der Banalität der bevorstehenden Demütigung. Sven fühlte sich gut und war selbst überrascht über die Klarheit der Empfindung. Es waren keine genaueren Analysen erforderlich, keine Hinterfragung winziger Nuancen, der Gedankenstrom ruhte und es war ein ganzheitliches Gefühl. Gut, doch überlegte Sven, gut ist kein Substantiv, eher ein Zustand und ein Zustand ist keine Empfindung. Liebe, Wonne, Befriedigung, Trauer, Schmerz, Gut. Es fügte sich nicht in die Reihe der großen Emotionen, war zu einfach, zu kurz und nichtssagend. Doch vielleicht liegt hier die Größe verborgen, die in Jahrhunderten der Dichter übersehen, gar missachtet wurde. 3 Buchstaben, der Weisheit, die das Leben transzendieren. Zen. Gut. Also dann, dachte Sven und durchschritt zügig und selbstbewusst den Gang. Ein abschätziger Blick durch die Glastür auf der linken Seite. Die Wartenden, die müde oder wütend oder teilnahmslos im Wartezimmer ausharrten, gebrochen durch die Zeit und die Förmlichkeit, das Ritual der Rechtsstaatlichkeit, vor der alle gleich waren und das allen mit derselben Schicksalslosen Logik begegnet. Sven fühlte, dass er die Methodik durchschaute und über sie hinaufblickte auch wenn er weiterhin ein Teil des perfiden Spiels war. Doch galt es den Schein zu waren, das Wissen zu verbergen und vorzugeben die eigene Glückseligkeit auch weiterhin ausschließlich an den Ausgang und das Gelingen zu binden. Sven sah sich selbst in der Masse als leuchtenden Punkte, der innerlich triumphierte auch wenn er verlor. Eine außerkörperliche Erfahrung in diesem Moment, dachte Sven und ging lächelnd auf die Anmeldung zu, wo sein Blick erstarrte und seine Züge entglitten. Ihm gegenüber saß ein Mann mit Brille, massig im Umfang, verschwand der Drehstuhl unter seinem riesigem Körper und er schien nur schwerelos in der Luft zu sitzen und im Rhythmus der Arbeit von einer Seite seines Schreibtischs zur anderen zur Schweben. Seine Haare waren zur Seite gekämmt, das Hemd makellos weiß und modisch, auch wenn die Knöpfe es nur mit größter Mühe zusammenhielten und der edle Stoff den Blick auf die darunterliegenden Fettwülste nur unvollständig verbarg. Der Mann verharrte einen Moment in der Bewegung, lauschte konzentriert und fuhr fort, bedächtig auf seiner Tastatur zu tippen. Er blickte nicht auf und fragte nur in unbeteiligtem und gelangweilten Ton: „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Bei der Frage wich alles Vertrauen aus Sven und er sah, wie der winzige Punkte in der Masse unterging, verglühte und als unbedeutender Brandfleck im Boden verschwand. Plötzlich fühlte er sich leer und wünschte sich zu Hause zu sein, auf dem Sofa mit einer Schokomilch, oder im Wald, oder selbst bei seiner Mutter. Wütend lokalisierte er letzte Energiereserven und antwortete ruhig: „Peter, was soll denn der Scheiß. Seit wann arbeitest du denn hier beim Amt?“ Der Mann drehte sich zu Sven um, musterte ihn für einige Zeit, schaute über seine Brille und sagte ruhig: „Entschuldigen Sie aber Sie müssen mich…“ „Einen Scheiß muss ich.“, unterbrach ihn Sven, jetzt lachend. „Alter verarsch mich nicht, als obs auf der Welt irgendwen gibt, der aussieht wie du.“ Der Mann schloss die Augen und als er sie wieder öffnete, wirkten sie müde, doch dann wandelte sich der Ausdruck in seinem Gesicht und er brüllte Sven an: „Was bilden Sie sich überhaupt ein. Nicht arbeiten wollen und dann Geld vom Staat und überhaupt, bin ich doch für Sie nur ne Witzfigur. Kommen hier rein, lächelnd und gut gelaunt und denken sie können hier machen, was sie wollen. Und wenns dann doch mal Arbeit gibt oder Maßnahme, den Scheiß dann bloß nicht ernst nehmen was. Und glauben Sie ich weiß nichts von der Klauerei. Die ganzen Scheißwerkzeuge, haben sie mitgehen lassen und die Firma ist pleite gegangen, wissen sie eigentlich was so ne Scheißwerkstatt ohne Werkzeuge ist, ein vedammter Schrottplatz, auf dem alles verkommt. Aber Ihnen macht das ja nichts. Hauptsache ein bisschen Geld und kein Stress, ab und zu ein bisschen Sport, ein bisschen saufen aber nur von nichts zu viel. Jetzt reichts mir aber. Man sollte Sie einsperren lassen, wie heißen sie eigentlich?“

Sprachlos stand Sven vor dem Mann und schloss nun seinerseits die Augen. Scheiße dachte er, was soll man da noch sagen. Am besten schweigen und warten und wenn mir was einfällt, dann raus damit. Aber was, überlegte Sven, was sagt man, wenn es eigentlich nichts zu sagen gibt. Eigentlich hat er ja recht, also aus seiner Position heraus, also angenommen er wäre nicht Peter. Vielleicht hab ich mich auch verguckt, vielleicht wieder die Nerven, war ja auch einiges los in letzter Zeit und überhaupt den ganzen Stress ist man ja nicht gewohnt. Zwei Tage Saufen, ne Schlägerei und ein Toter. Mo, dachte Sven und spürte, wie er vor Wut und Hilflosigkeit die Fäuste ballte. Und wenn schon, dachte er. Vielleicht hat der Typ recht aber dann, wenn man mal meine Situation betrachtet, kann er mich mal. Son Typ hat mir doch gar nichts zu sagen. Schließlich ist das mein Leben, dachte Sven. Und ich wollte ja nicht zum Amt, sondern das Amt zu mir, also in gewisser Weise. Sven öffnete die Augen und war bereit sich umzudrehen und hinaus zu stürmen, doch der Mann hatte seine Brille abgenommen und seine Augen tränten vor Lachen. „Sven Mensch, was ist denn los, also das dich das jetzt so trifft, hätt ich aber nicht gedacht. Du hast ja Tränen in den Augen. Dachte nach der ganzen Scheiße in letzter Zeit brauchst du mal ein bisschen Aufmunterung.“ Verständnislos und schockiert starrte Sven seinen Freund, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, von denen er nicht bemerkt hatte, dass sie ihm die Wange hinabliefen, holte aus, schlug Peter ins Gesicht und fing seinerseits an zu lachen. Krachend viel Peter zu Boden. „Blöder Typ.“, sagte Sven erleichtert und half Peter auf die Füße. „Was für ne doofe Nummer. Ich versteh das nicht, was sollte das denn? Warum? Wie?“

„Ach Mensch Sven, das hast du mich aber gut getroffen.“ Peters Wange war bereits leicht geschwollen und die Worte klangen seltsam gedämpft. „Hoffen wir mal, dass keine Kameras hier sind, sonst wirst du noch verhaftet.“

„Peter, jetzt erzähl mir endlich was das sollte.“

„Sven, du warst so depressiv oder irgendwie traurig in den letzten Tagen und ich dachte, du brauchst ein wenig Aufmunterung,“

„Mo ist vor zwei Tagen gestorben. Aufmunterung und dann so?“

„Naja, doch, schon, aber vielleicht war das auch nicht ganz durchdacht. Na jedenfalls, kennen die mich hier schon beim Amt und neulich war ich hier mit dem Thomas mal einen trinken und da hab ich den mal gefragt, ob wir das machen könnten und der fand das auch ganz lustig. Hat gesagt, wenn wir nicht zu laut sind, und keinen aufhalten, dann geht das schon, weil das Wartezimmer ja in dem Raum dahinten ist. Ich wusste ja, dass du heute einen Termin hast. Aber lass uns jetzt mal lieber ins Wartezimmer gehen.“

„Hast du diesen Thomas nach Laydia gefragt?“

„Lydia… Lydia… Ach, die. Ne.“

„Du kennst hier wen beim Amt und denkst dir so nen Scheiß aus, und dann fragst du nicht mal. Peter echt mal. Scheiße.“ Sven öffnete die Tür zum Wartezimmer. „Peter, echt mal.“, er schaute auf den Boden, das überfüllte Wartezimmer und drehte sich zu Peter um „Peter echt mal, ich hab keinen Bock mehr.“ „Aber auf was?“, sagte Peter lachend, rieb sich die aufgequollene Wange und Sven war unfähig Peters durchdringenden Blick zu deuten.