V

Mitleidig schaute Peter auf den vor ihm sitzenden Sven, der den Kopf auf die Knie gelegt hatte. Mit einem zaghaften Lächeln drehte er sich zum Fenster, musterte den schwankenden Kirchturm und wandte sich wieder Sven zu.

„Peter, bitte!“, fleht Sven und seine Stimme klang gedämpft durch den Stoff seiner Hose. Alles in ihm und um ihn herum zog Kreise und er sah sich als Fixpunkt eines unendlich schweren, endlich sichtbar gewordenen morphogenetischen Feldes, das weit über ihn hinaus und tief in ihn hinein reichte. Er fragte sich, seit wann Peter so war, wie er war. Eine unheimlich und vorbestimme Entwicklung hatte ihn der Sphäre des Irdischen entrissen, eine ungeahnte Erkenntnis ihm alle Zweifel genommen und das Geschenk des bedingungslos Skurrilen war ihm plötzlich und einem Wunder gleich anheimgefallen. Und so lange er auch zurückdachte, sah Sven nur ein zuckendes und sich windendes Licht und die verschwommene Wand, der unwahrscheinlich nah an Peters Haus, gebauten Kirche. Die Vergangehit löste sich auf und begann in einem Flur, reicht bis in Peters Wohnzimmer und drehte sich nur immer mehr in den Bahnen eines endlos enger werdenen Kreislaufs, bis sich schließlich alle Momente überlagerten und gleichzeitig über und nebeneinander ausgebreitet waren.

„Na na Sven, nun aber. Kopf hoch. Wird schon wieder.“ Das Echo einer Stimme in unbestimmter Ferne. „War alles etwas viel heute, was? “ Sven hörte das metallene Klicken eines Feuerzeugs. Endlose Stille. Ein tiefes paffendes Einatmen. Sven sah den Rauch durch seine geschlossenen Lider. Die grauweißen, sich langsam ausdehnenden Ringe, die allmählich in der Luft verblassten, durchbrachen die Bahnen der stillstehenden Zeit.

„In Schulz‘ Haus oder Tempel oder was auch immer das jetzt ist, warst du auf einmal verschwunden.“, Peters Stimme klang überraschend ernst und sanft. „Durch die abgelegensten Winkel und Gänge bin ich gelaufen und habe dich gesucht aber nichts gefunden. Und egal wie lange ich die Etagen auch abgegangen bin, stand ich am Ende immer wieder vor der Tür zu Schulz Zimmer. Nach dem 4. oder 5. mal hatte ich die Schnauze voll und wollte mich einfach nur irgendwo hinsetzen und etwas trinken und zu meiner Überraschung kam der olle Schulz, gerade in dem Moment mit zwei Bier in der Hand aus seinem Raum. Lächelnd reichte er mir eins und bat mich oder befal mir, ihm Gesellschaft zu leisten. So saß ich also in seinem Tempel der Freiheit und Lust, wie er es selbst nannte und hörte mir an, was er zu sagen hatte. Und so sprach Schulz: Es gibt vier Möglichkeiten die Realität zu sehen. Erstens: ich existiere und du existierst und Sven existiert und die Welt um uns herum und alle Objekte in ihr existieren. Das ist wahrscheinlich die einfachste, wenn vielleicht auch nicht die beruhigendste Art, die Welt zu sehen. Und so sprach Schulz: Zweitens: Ich und du und Sven und alle Menschen, und alles Bewusstsein um uns herum existiert, nur die Welt an sich, mit all ihren Objekten und Formen und Gegenständen, entspringt unserer Einbildung. So wären wir rein geistige Wesen, die miteinander kommunizieren und eine kollektive Phantasie kreieren, die wir gemeinsam befüllen und ausschmücken, und in der sich nur der Blickwinkel auf das Geschaffene unterscheidet. Unser aller objektiver Geist schafft die Welt und das Individuum verleiht ihr Perspektive. Das ist die zweite Möglichkeit. Und so sprach Schulz: Drittens: Nichts außer dir oder mir oder Sven oder dem Denkenden existiert. Vielleicht erscheint es uns unwahrscheinlich, doch genauso unwahrscheinlich ist es, das ich beweisen kann, dass irgendjemand außer mir denkt. Eindeutig kann ich immer nur meine eigene Existenz bestätigen. Ich denke, also bin ich. Und dieses ich ist eben kein wir. Aber wie weit reicht dieser schöpferische Geist, der doch auch ein lebloses Vakuum wie die Schwärze der Nacht mit seinen Visionen zu beleben vermag? Und so Sprach Schulz: Und viertens: Ich und du und Sven und alle Menschen und alle Tiere und alle Gegenstände und Atome dieser Welt sind nur flüchtige Ideen eines unbekannten Schöpfers. Und mit dem Gedanken vergeht die Welt. Und natürlich weigern wir uns dies als Möglichkeit in Betracht zu ziehen, denn unser Denken gehört uns und niemand vermag uns zu steuern, denn der Mensch ist heilig und die Individualität ist heilig, doch oh wie flüchtig sind auch unsere Gedanken und oh wie absurd ist diese Welt. Es wäre ein brutaler und perverser, allmächtiger Geist, der diese unsere Welt erschafft, denn oh wie brutal und pervers ist diese Zeit und sind auch unsere Gedanken. Und so sprach Schulz zu mir.“ Peter hielt inne und Sven hörte wie er vorsichtig die Zigarette auf dem Boden austrat und dabei leise kicherte.

„Ich saß also dem Schulz gegenüber und hörte seinen Ausführungen schweigend zu. Nippte hin und wieder an meinem Bier und riß mir schließlich auch das zweite unter den Nagel. Schulz sprach mit tiefer Stimme, lümmelte auf seinem Sofa und blickte auf mich herab, wie auf seine Jünger. In seinem Jogginganzug glich er einem streunenden Heiligen und als er schließlich verstummte, blickte er mich aus glänzenden Augen an. Ich erwiderte seinen Blick. Stand auf und sagte: Schulz, ich weiß. Und wenn nur wir in diesem Raum sind, und nur wir beide existieren und beide an die gleiche Möglichkeit glauben, dann ist sie wahr.“

Sven saß noch immer schweigend da und starrte in die tiefe Dunkelheit seiner Lider. Zwar verstand er nicht was Peter sagte, doch beruhigte ihn die vertraute Stimme. Als er die Augen öffnete, zuckten Blitze durch eine bunt wabernde Atmosphäre. Der Untergrund auf dem er und Peter nun standen, war durchsichtig und nicht identifizierbar. Ein monotones Grollen und Donnern drang von allen Seiten auf sie ein und verlieh dem formlosen Raum eine hörbare Gestalt.
„Ach, Mensch. Sven, Nun komm.“, aufmunternd hielt Peter ihm ein Glas unter die Nase.
„Peter, was soll denn das?“ Wenige Meter von ihnen entfernt, erkannte Sven die Schatten einiger Gestalten. Peter misachtend, ging er auf sie zu.

Dionysos, Pan und Hannes sich langsam aufrichtend, nicht vorhandenen Staub von ihren Körpern klopfend. Mo weiter druch den unsichtbaren Boden in die Tiefe des Raumes zapfend, apathisch lächelnd.
D mit weit aufgereissenen Augen: Wir müssen weg. Das Grollen und die himmlischen Worte. Die Zeichen seiner Ankunft. Alles ist verloren.
P: Zu spät. In Svens Richtung deutend. Er kommt.