V

„Wie war es denn nun auf dem Amt…?“, wiederholte Sven gedankenverloren. „Auf dem Amt… Hmm… Gute Frage, vielleicht bin ich auch deswegen hier, aber lass uns nun doch endlich mal irgendwohin setzen.“

Ohne ein weiteres Wort gingen sie die Treppe hinauf und betraten das unbeleuchtete Wohnzimmer. Peter arbeitete sich umständlich zu der kleinen Theke in der hinteren rechten Ecke des Zimmers vor, holte zwei Bier, klemmte sie sich unter den Arm und trug einen der Barhocker zu dem bereits vor dem Fenster stehenden Stuhl.

„Nun setz dich erstmal und erzähl!“, sagte Peter.

„Das ist gar nicht so einfach.“, versuchte Sven einen einfachen Einstieg für ein komplexes Problem zu finden. „Ich kann nicht einmal genau sagen, ob ich überhaupt auf dem Arbeitsamt war. Woran ich mich erinnere, sind die Frau am Empfangsschalter und die LED-Lampen im Gang. Die Frau war tätowiert und hatte rote Haare. Die LED-Lampen waren hell und haben nicht gesummt. Irgendwie war die Situation unwirklich und dann bin ich aufgewacht.“

„Was ist denn da daran unwirklich? Manche Leute haben eben rote Haare und sind tätowiert, auch wenn sie für ne Behörde arbeiten. Man muss das ja nicht gut finden, aber das hat was mit unseren modernen westlichen Werten zu tun. Individualismus über alles und so, Hauptsache ich bin anders als die anderen. Und mit Gleichberechtigung und Emanzipation. Wir wollen ja zeigen, das wir für alles offen sind und alles akzeptieren, vor allem andere Werte, und keine Rassisten sind oder Ignoranten. Und das gerade dann, wenn wir eigentlich furchtbare Spießer sind und uns das wirklich Andere eigentlich nen Scheiß interessiert und wir dem anderen gern mal so richtig auf die Fresse hauen würden, wenn er nicht unsere Meinung teilt. Also hast du den Termin nun sausen lassen und stattdessen davon geträumt? Und was soll das eigentlich mit diesen LED-Lampen? Warum sollen LED-Lampen zwangsläufig summen?“

Sven schaute erschöpft zur Kirchturmmauer und dachte darüber nach, wie es wäre, von Peter umgebracht zu werden. In gewisser Weise könnte man meinen, dass Peter auch ein Spießer sei, überlegte er. Also wenn man sich nur das unfassbar saubere Haus anschaute und den grünen völlig von Unkraut befreiten Rasen, und Peters meist tadellose Klamotten, die ihn zwar auf Grund seines massigen Körper nicht gut aussehen ließen, aber doch sauber und eben tadellos waren. Das mit Bestnoten abgeschlossene Architekturstudium, die guten Familienverhältnisse und überhaupt. Aber dann war Peter arbeitslos und verbrachte den Großteil der Tage damit, in einem dunklen Zimmer eine graue Steinwand anzustarren. Er hatte kein Auto, kein Fahrrad, keine Freunde, keine Freundin und soweit Sven wusste, und er wusste es wahrscheinlich am besten, keine Hobbys oder Interessen. Warum muss nur alles so kompliziert sein, überlegte Sven verzweifelt. Also eigentlich ist Peter wahrscheinlich doch kein Spießer, er mag es eben nur sauber, gepflegt und ordentlich, zumindest im Großen und Ganzen, nur nicht in seinem Leben an sich. Dann ist da aber auch der Fakt, dass Peter andere generell scheiße findet und vielen von diesen anderen gern eins auf die Fresse hauen würde. Allerdings sagt er das auch offen. Ist das nun ein Punkt für oder wider Spießer, haderte Sven und sagte schließlich: „Spießer hin oder her, LED-Lampen sollten summen.“

„Sven, sag mal geht’s noch.“, fuhr Peter empört auf, doch beruhigte er sich schnell wieder und fügte entschuldigend hinzu: „Ich meine, Lampen sollten vielleicht generell summen, aber so ist das manchmal. Willst du jetzt nochmal nen neuen Termin machen, wenn du nicht beim Arbeitsamt warst. Oder lässt du das jetzt gleich ganz sein? Ist vielleicht das Beste in deinem Fall.“

„Das Problem ist, dass ich wirklich nicht weiß, ob ich auf dem Amt war oder nicht. Wie gesagt, war alles ganz komisch. Aber das muss ja nun nicht dafür sprechen, dass ich alles nur geträumt habe. Manchmal, wenn ich mit dir oder jemand anderem irgendwohin gehe und wir trennen uns kurz, um auf Toilette zu gehen oder Bier zu holen oder was auch immer, dann denke ich darüber nach, was wäre, wenn ich dann auf dich oder wen auch immer warte aber es kommt einfach niemand wieder. Ich würde versuchen denjenigen zu finden, doch da ist niemand und schließlich müsste ich mir eingestehen, dass du gar nicht existierst und nie existiert hast. Seltsam ist, dass ich letztendlich immer fest davon überzeugt bin, dass ich auf niemanden warte und es mich verwirrt, wenn dann plötzlich doch jemand wiederkommt.“ Sven machte ein Pause. „Sag mal, wie würdest du mich eigentlich umbringen?“

IV

„Was ist das denn?“, fragte Sven irritiert.

„Ach, nur so ein Gedankenspiel. Hatte ich gerade notiert, als du geklingelt hast. Ist noch nicht ganz zu Ende gedacht.“

„Hmm“, seufzte Sven und las laut vor: „ewiger Misserfolg ohne Ausnahme – minus x minus = plus – Trigger.“ Nach kurzem Schweigen sah er Peter nichtssagend an.

Peter kannte den Blick seines Freundes, der irgendwo zwischen ratlos und abschätzig lag. „Nun ja“, begann Peter voreilig, „ich habe mir Gedanken gemacht, wie ich meinem Leben etwas Positives abgewinnen kann. Kurz gesagt glaube ich, dass ich, bei der enormen Menge an Misserfolgen, die sich wie ein roter Faden durch mein Leben ziehen, irgendwann die Chance habe, alles schlagartig in einen riesigen Erfolg umzuwandeln, wenn nur ein gewaltiger negativer Einfluss auf mich einwirkt, der mir quasi den Rest gibt. Wenn ich ganz unten angekommen bin, also so, dass nach unten kein Platz mehr ist, ändert sich mein Leben vielleicht auf einmal zum Besseren.

„Enorm, riesig, gewaltig; das sind immense Worte“, erwiderte Sven, der spitzbübisch die Mundwinkel anzog. Und überhaupt, bist du nicht schon längst ganz unten angekommen?“ Peter reagierte gelassen auf die Provokation seines Freundes, denn er wusste um die sarkastische Art Svens und seine Vorstellung davon, jemanden „aufzuheitern.“
„Aber interessant ist das schon, muss ich zugeben. Ich hab’ mal ein Buch gelesen, das „Vom Nachteil geboren zu sein“ hieß. Geiler, deprimierender Scheiß.

„Ach, ich hab’ die Schnauze voll vom ewigen Lesen. Mein ganzes Leben hab ich damit verschwendet, doch wohin hat es mich gebracht? Lesen stattet dich vielleicht mit geistiger Munition aus, aber was bringt es dir, wenn du daraus keinen praktischen Bezug herstellen kannst, beziehungsweise nicht mal herstellen willst, weil du ein faules, weltfremdes Schwein bist. Aber ist schon in Ordnung, ich habe mich damit abgefunden. Und daraus ziehe ich jetzt meine Kraft. Wenn sich die Abwärtsspirale nur beschleunigen ließe, entstünde ein Sog, der mich schneller nach unten zöge.

„Musst du schon wieder so geschwollen reden?“, erwiderte Sven genervt. „Klar, dass dich bei den ganzen Konjunktiven keiner versteht oder mag. Wie willst du das überhaupt alles anstellen? Welcher Auslöser könnte stark genug sein, deinem Leben die positive Wende zu geben? Du hast doch niemanden außer mir. Moment mal, willst du mir ans Leben?“ Er lachte laut auf.

Peter, dem Svens Vorschlag kurzzeitig sehr einleuchtend war, wandte enttäuscht den Kopf zur Seite, weil ihm diese Idee nicht selber gekommen war und weil dessen Umsetzung jetzt nicht mehr originell war, obgleich nur die beiden davon wussten. „Ja, ich werde dich wohl umbringen müssen“, entgegnete er mit schwachem Lächeln. „Warum bist du eigentlich hier?“, brach er mit seinen unanständig wechselnden Gedanken.

„Weiß auch nicht. Brauche ich neuerdings einen Grund, um bei dir vorbeizukommen?“

„Nee, alles gut. Dann lass uns erstmal nach oben gehen. Wie soll man denn die Probleme der Welt auf dem Flur lösen? Achso, wie war’s denn nun auf dem Amt?

III

Das kleine Haus, in dem Peter wohnte, lag auf der Spitze eines winzigen Hügels, so dass er aus seinem Schlafzimmerfenster direkt auf die Feldsteinmauer des gegenüberliegenden Kirchturms blickte. Genau genommen sah Peter aus allen Fenstern auf die unförmige braune Wand, die aussah wie ein Sinnbild menschlichen Strebens und des unausweichlichen Scheiterns. An ruhigen Tagen, von denen es in Peters Leben wahrhaftig nicht zu wenige gab, setzte er sich manchmal stundenlang vor die Fenster seines Hauses, erst in die Küche, dann Wohn- und schließlich Schlafzimmer, betrachtete die Kirchturmmauer, die Peter fast vollständig vom Tageslicht abschnitt und dachte, in vollkommener Dunkelheit über das Leben nach. Es waren keine sonderlich schweren Gedanken, auch wenn an ihren Anfängen zwangsläufig Streben und Scheitern standen. Doch wie kann man im Leben schon nicht scheitern, dachte Peter, wenn man doch weiß, dass mit dem Leben alles endet? Und wenn der Mensch schließlich nur scheitern kann, sollte man diesem Scheitern dann nicht frohen Mutes entgegengehen? Man kann doch nichts verlieren, was schon verloren ist, dachte Peter. Wenn am Ende allen Strebens das Erstrebte dann erreicht ist, torpediert dann nicht letztendlich die Unendlichkeit der Verluste einen endlichen Erfolg. Zweimal Minus ist Plus. Aber damit kommt man hier nicht weit, wollte Peter gerade denken, doch verharrte dann einen Augenblick. Eine unendlich große negative Zahl multipliziert mit einer negativen Zahl ergibt eine unendlich große positive Zahl. Fasziniert erhob sich Peter von seinem Stuhl und trat einen Schritt näher an das unmittelbar vor ihm liegende Fenster. Seine Gedanken überschlugen sich und er ahnte, dass er da gerade etwas Wichtigem auf der Spur war. Wenn ich also weiß, dachte Peter, dass ich, nicht als Individuum, sondern ganz allgemein als Mensch, nein mehr noch, als Lebewesen, negativ, also im Scheitern, das heißt mit dem Tod, ende, und auch im kleinen als Person in meinem eigenen Leben negativ, also im Scheitern, das heißt mit beruflichem Misserfolg, sozialer Inkompetenz, gescheiterter Reproduktion, ende, erreiche ich am Ende etwas Positives. Doch wie sieht dieses Positive aus, wollte Peter nun auch wissen. Vielleicht der Weg, dachte er. Maximaler Optimismus bei minimalem Erfolg.

Das penetrante Geräusch der Klingel riss ihn unsanft aus seinen Gedanken. Mit ungeahnter Schnelligkeit, die seine Körperfülle und die Bedeutung von Körperfülle im Allgemeinen in Frage stellte, drehte sich Peter um und rannte vom Schlafzimmer zurück in die Küche, riss eine Schublade auf und holte mit leicht zitternden Fingern ein Blatt Papier und einen Stift hervor und notierte hastig, aber fein säuberlich, einige Worte. Als er schließlich zur Haustür gehen wollte, stieß er auf halbem Weg schmerzhaft mit jemandem zusammen, der ziellos im Eingangsbereich herumstand.

„Au, so ne Scheiße, was ist hier denn los!“, schrie Peter, doch erinnerte sich an gerade gewonnne Erkenntnis und fügte leise „Ach, na Mensch, so was. Aber egal.“ hinzu.
Das Licht der Energiesparlampen erhellte den Flur nur spärlich, wurde dann aber langsam heller, so dass sich der gesichtslose Schatten, der sich gerade vom Boden aufrappelte, als Sven enttarnte.

„Ja was soll’s.“, sagte Sven etwas wütend darüber, dass er seine Wut nicht besser artikulieren konnte.

„Ach Sven, na Mensch, du hier. Wer auch sonst. Wie kommst du eigentlich, achso ja, ich sollte wohl wirklich mal abschließen. Aber wozu eigentlich?“

„Ja, wozu eigentlich.“

„Naja, vielleicht sollte ich zumindest mal andere Lampen einbauen. Scheiß Energiesparlampen, werden immer nicht hell. Gibt doch jetzt dieses andere Zeug. LED oder sowas. LED, was soll das eigentlich sein.“

„Licht emittierende Diode.“

„Achso. Na gut. Wie wars eigentlich auf dem Arbeitsamt?“, fragte Peter und wurde sich schließlich des auf dem Boden liegenden Zettels bewusst. „Auch egal, völlig egal.“, fügte er hastig hinzu, hob den Zettel auf und gab ihn Sven.