VI

Und voila, der letzte Strich. Fini. Welch entzückend Meisterwerk. Von Gotteshand geschaffen.“ Begeistert betrachtete Peter die vor ihm sitzende Lydia. Auf dem Boden lagen unzählige Pinsel verschiedener Größen und Formen. Lydia war noch immer nackt, doch auf ihren Körper war mit Blut ein Hochzeitskleid gemalt. „Die Braut geladen zum Tanze, kommt gefahren ihr Prinz, die Liebe zu retten, erscheint der zu erlösende Erlöser.“ Akribisch prüfte Peter sein Werk, umkreiste er die stumme Muse. Plötzlich hielt er in der Bewegung inne, beugte sich über. Ohne aufzusehen, griff er nach einem Pinsel. Und übermalte mit gewagten Schwung eine unbefleckte Partie ihres rechten Schenkel. „Perfektion in einer perfekten Welt, meine liebe Lydia. Schwierige Zeiten erfordern schwierige Maßnahmen oder schwierige Zeiten erfordern einfache Maßnahmen. Wie dem auch sei. Perfektion. Ist hier auch nicht das Ziel. Und doch betrachte das Meisterwerk. In der Ecke steht ein Spiegel.“ Lydia regte sich nicht und als Peter die Erkenntnis traf, schlug er sich in einem Moment erfrischender Klarheit mit der flachen Hand gegen den Kopf. „Aber natürlich.“ Mühsam schleppte Peter den überlebensgroßen Spiegel zu Lydia. Doch deren Blick blieb leer. „Wie erwartet. Berührt von der eigenen Schönheit, geblendet von dem Schein. Das bist du und so wurdest du geschaffen.“ Zur Tür gewandt fuhr Peter fort: „Hermann, Mann, ich sehe dich, du lüsternes Tier, hinfort mit dir. Geh und hol Schulz. Dein Dienst ist verrichtet.“ Dann schließlich ging Peter zu Lydia und legte ihr ein verschlossenes Reagenzglas in die Hand. „Der schöne Schein dieser Welt, gefangen in der Geste der Vergangenheit.“ Aus weiter Entfernung drangen hohle Schläge zu ihnen. „Unser Gast ist eingetroffen.“

Mit vorgehaltener Hand stand Sven vor dem riesigen Portal zu Schulz‘ Anwesen. Getrieben schlug er im Rhythmus des fallenden Schnees auf die Tür ein. Doch eine Antwort blieb aus. „Herrmann, Mann, Schulz, Peter, Zeus, Lydia, aufmachen.“ Die Schreie verklangen in der weißen Nacht, sodass sich Sven gezwungen sah zum Äußersten zu gehen. Zitternd vor Kälte und Erregung hob er die steife Hand und zielte auf das eiserne Schloss. Und drückte ab. Doch der stumme Schuss verhallte wirkungslos in der Schwärze. Sven ließ sich auf den Boden fallen und blickte mit geschlossenen Augen nach oben. Sterne funkelten wie Schnee am Firmament der Lider. Als er eine Weile so dalag und überlegte zu erfrieren, spürte er in seiner Hose etwas Hartes und zog einen verschlossenen Umschlag aus seiner Tasche. Sven erinnerte sich, dass es der Brief war, den er vor einigen Tagen auf dem Arbeitsamt von Volker bekommen hatte. Er öffnete ihn und fand darin einen großen, an Verzierungen reichen Schlüssel. Das Gesicht verzerrt, gepeinigt von hysterischen Lachanfällen öffnete Sven das Tor. Mit Mühe streckte er die Fingerpistole in die Höhe, jederzeit bereit zum finalen Schuss. Doch in den Gängen, durch die er kam und an die er sich nicht erinnerte, waren keine Menschen zu sehen. Auch die Eingangshalle mit ihren monumentalen Perversionen war geleert. Nur manchmal vermeinte Sven Schritte zu vernehmen. Ein Tapsen, ein Klacken, hinter der nächsten Tür, doch die Wege verzweigten sich nur immer weiter, bis er schließlich wieder am Eingang angelangte. Erigierte Wut trieb unseren Helden an und immer weiter, vorwärts wieder tiefer in das Schloss der Phantasie.

Die maskierten Jünger waren dem Gebäude entschwunden und kilometerweit erstreckten sich die verwaisten Korridore. In des Wahnsinns Gefolge sah sich Sven durch die, nur von Kerzenschein erhellte, Dunkelheit getrieben. Dicht auf seinen Fersen, doch stets in sicherer Entfernung, hatte Hermann die Spur gewittert und folgte dem erwünschten Gast durch Schulz‘ Labyrinth. Plötzlich verstummten die Geräusche vor ihm und Hermann versteinerte in seiner Bewegung, um dem Echo des Gemäuers zu lauschen. In diesem Moment bemerkte Hermann seinen Fehler. Hinter ihm kam aus einer schmalen Nische in der Wand Sven hinausgetreten. Die Fingerwaffe in seinen Händen zitterte, doch war sie sicher auf Hermanns nackte Brust gerichtet. Aus Hermann’s Mund drangen klagende und mitleiderregende Geräusche, doch unnachgiebig bog Sven den Finger nach innen. Ein Knall ertönte und getroffen, sank der blutende Körper Hermanns zu Boden. Die Lider zuckten, die Glieder, der ewigen Spannung entledigt, zitterten wild, doch schließlich ermatteten die massiven Muskeln und fielen in einen friedvollen Schlaf. Ehrfürchtig besah Sven seinen Finger, ungläubig zollte er den konzentrischen Kreisen, die seinen Fingerabdruck bildeten, Bewunderung. Hermanns Blut war warm als Sven es betastete. Während er neben dem leblosen Korpus danierder hockte, öffnete sich an der gegenüberliegenden Seite des Ganges eine Tür. Es war Schulz.

Mein Lieber. Mein lieber, lieber Sven. Was hast du nur getan.“ Hastig eilte Schulz auf Sven zu. Das breiteste Lächeln zierte sein Gesicht. „Der arme Hermann, der nie die Erlösung erfahren hat, nach der er immer gestrebt hat. Vor kurzem erst zerstörte er wieder seine monströsen Statuen um einen Neuanfang zu wagen.“

Keinen Schritt weiter.“ Auch Sven lächelte. Wieder hatte er Daumen und Zeigefinger zur Pistole erhoben und zielte damit auf Schulz. Langsam ging er auf ihn zu und hielt ihm seinen Zeigefinger an die Schläfe.

Oh nein.“, in gespieltem Entsetzen riss sich Schulz die Hände vor den Mund. „Die tödlichste Waffe, welche die Menschheit je geschaffen hat, bedroht nun auch mein Leben. Also bist du der Wahrheit auf die Spur gekommen. Solch einfache Weisheit, so abstrakt verpackt. Der arme Hermann-Mann wollte dir doch nur den Weg weisen. Jetzt ist er tot, das arme, perverse Menschenkind. Aber nun komm.“

Lachend und mit weiterhin erhobener Waffe folgte Sven, dem voranschreitenden Schulz bis zu einer unscheinbaren Tür. Sven öffnete sie mit einem Tritt. Dahinter saß auf einem hölzernen Stuhl Lydia. Peter stand begeistert neben ihr und schwang den Pinsel. „Sven, das ist aber schön. Habe ich deine Braut endlich eingefangen. Das wird ein Fest!“