Herrmann saß nackt auf seinem Bett und meditierte. Das Licht, das durch das übergroße Fenster in den vollkommen weißen Raum fiel, erzeugte sich kreuzende Schatten, die sich wie ein Netz auf seine Haut legten und die auf dem Boden verstreuten Modelle und die Extremitäten im entstehen begriffener Skulpturen zu einem surrealen Geflecht verwoben. Köpfe und Arme von Menschen und Fabelwesen lagen in wirrer Reihung, ungebunden und autark von widerspenstigen Körpern und einem beherrschenden Geist, waren sie frei vom Zwang der Rationalität und konnten sich in fleischlicher und sinnloser Lust miteinander vereinigen. Beine näherten sich schüchtern und unauffällig Händen und Brüste verwuchsen selbstbewusst mit benachbarten Rücken und Penissen. Herrmann schüttelte sich. Schweiß stand auf seiner Stirn und zitternd versuchte er sich von den albtraumhaften Visionen zu lösen. Dunkelheit hüllte große Teile seines Rückens ein, doch ein Mandala aus lichternen Rechtecken wärmte die auf seine Brust fallenden Tränen.
Herrmann sah sich, wie er langsam die Tür seines Hauses öffnete. Stille, wie immer, doch dann Geräusche, Lachen und zerbrechende Keramik, splitterndes Glas. Vorsichtig nahm er ein Netz aus dem neben der Tür stehenden Schrank, schlich die Treppen hinauf und öffnete die Tür zu seiner Werkstatt. Er hatte damit gerechnet, dass dieser Augenblick irgendwann kommen musste und erkannte sich gleichermaßen als Frankenstein und sein Monster, die nun vom Pöbel gerichtet wurden. Die metallenen und tönernen Skulpturen, die er hier nach seiner Arbeit, in einer naheliegenden Fabrik für Plüschtiere schuf, waren schon immer auf Ablehnung gestoßen. Nachdem er sie in einer kleinen Ausstellung in seinem Heimatort gezeigt hatte, war er als der Perverse von Todendorf verschrien und immer wieder hatten Graffiti mit Aufschriften wie „Tod dem Perversen“ sein Haus geschmückt. Herrmann trat durch die Tür und sah wie seine Frau in lüsterner Ekstase auf einer seiner Statuen saß. Ein riesenhaftes eisernes Zwitterwesen, halb Zyklop, halb Eidechse mit erigiertem Penis, auf dem Herrmann’s Frau sich nackt auf und ab bewegte und dabei von dem örtlichen Polizeichef im wütenden Spiel der Liebe vor und zurück geschleudert wurde. Die Scherben und Überreste der anderen Werke waren auf dem Boden verteilt, Bruchstücke vergebenen Ausdrucks und undefinierbarer Sehnsüchte und Ängste, die nun den Boden bereiteten für ein ungesehenes Schauspiel der Lust und Demütigung. Als seine Frau merkte, dass Herrmann das Zimmer betreten hatte, schaute sie ihn lächelnd und herausfordernd an und stöhnend formte sie mit dem Lippen das verhasste Wort „Perverser“. Unfähig seinen Körper zu bewegen oder seinen Blick abzuwenden, hatte Herrmann den Akt beobachtet und geschwiegen, Zeit und Raum vergessend und nur den Tanz unmöglicher Stellungen, Positionen und wirbelnder roter Haare beobachtend. Als er sich nach Unendlichkeiten relativer Zeit, endlich aus seiner Erstarrung löste, spürte er, dass etwas fundamentales zerbrochen war. Seine Statuen waren entweiht. Durch die Unzüchtigkeit der figurativen Sexualität hatte er sich etwas grundsätzliches bewahren wollen, eine unbestimmte Form geistiger Keuschheit. Eine Reinheit des Gefühls natürlicher Erfahrung, die frei war von menschlicher Intention und Zielen, und die erst jetzt mit ihrer Zerstörung greifbar wurde. Das Netz in seinen Händen, spürte Herrmann die aufsteigende Wut immer wiederkehrender Enttäuschung und Erniedrigung. Er dachte an den Augenblick, in dem seine erste Frau, kurz vor der jungfräulichen Vereinigung angeekelt die Flucht ergriffen hatte, als sie sein verstümmeltes nacktes Bein erblickt hatte, dass sonst unter dem Schutz der Kleidung verborgen lag. Die Erinnerungen hoben das Netz in Hermanns Hand und warfen es über sein Frau und den Polizeichef, die in aufsteigender Panik, vereinigt und gefangen, durch den Raum und die Scherben gezogen wurden. Und die Erinnerung war es, die Herrmann die beiden eingenetzt an das Bett im Schlafzimmer fesseln ließ und Freunde und Verwandt anrief, um auch seine Frau bloßzustellen, wie er bloßgestellt war. Doch als erst die Freunde und dann die Polizei, nach und nach in ihr Haus kamen, gab es kein Gelächter und keine Rache, sondern Handschellen und Knüppel und am Tag nach der Festnahme zeichneten die Zeitungen ein klares Bild des „Wahren Gesichts des Perversen von Todendorf“. Verschwommen war die Zeit im Gefängnis und verschwommen hatte Herrmann die korpulente Gestalt in Erinnerung, die ihm aus den Gefängnis abgeholt und in ein neues Leben geführt hatte.
Das Betttuch unter Herrmanns muskulösen Körper war mittlerweile nass von den Tränen, die das Bild seiner Tochter spiegelten, die er seit mehr als zwanzig Jahren nicht gesehen hatte und nur mühsam gelang es ihm seinen Geist zu fokussieren. Als er die Augen öffnete erblickte er den Schriftzug an der ihm gegenüberliegenden Wand: „Die Kunst hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Freiheit, Ekstase, Kunst, diese drei; aber die Kunst ist die größte unter ihnen.“ (Schulz)