VIII

Der Eingangsbereich des Hauses wirkte zugleich albern und opulent. Wo einst holzvertäfelte Wände die kleinen Räume und Nischen vor spannenden Blicken geschützt und alles in eine zwielichtige Welt der Zeitlosigkeit und Möglichkeiten getaucht hatten, erstreckte sich nun ein heller Saal post-geo-klassizistischen Kitschs. Weiße Säulen drängten sich dicht aneinander und gegen die Wände, Eisen- und Messingstatuen von nackten Jünglingen und in sich verschlungenen Menschen und Gliedern akzentuierten die überbordende Fülle des Raumes und an den bescheidenden Freiräumen der Wände fanden sich in unbestimmter Abfolge Darstellungen von biblischen Szenen, griechischen Mythen und perspektivlose Zeichnungen kopulierender Paare. Durch ein großes Loch in der Decke fiel Licht auf einen in der Mitte des Raumes befindlichen metallenen Brunnen, der verziert war mit einem übermütigen Mandala verschiedenster Götterskulpturen aus allen erdenklichen Erdräumen und -zeiten. Ein süßlich-stechender Geruch von Harmonie und Entspannung lag in den vom Brunnen aufsteigenden Dampfschwaden, die den Stuck an der Decke fast vollständig einhüllten. Das Atmen fiel schwer in der von Bedeutung überfüllten Luft. Sven schaute sich zweifelnd um und dachte daran, dass die überschaubaren Ausmaße des Zimmers zu klein waren für die Größe von Schulz‘ Vision.
„Mann, o Mann, was für eine Bude. Der alte Schulz. Post-religiöser-Sexguru der Ekstase und des Kitsches.“ Peters Augen funkelten und erregt lief er von einer Skulptur zur Anderen und befühlte liebevoll ihre Körper. Seine Schritte und Ausrufe, hallten donnernd von den Wänden wieder. Nach einer Weile, in der sich Peter immer hemmungsloser seiner aufkeimenden Faszination ergeben und Sven ihn aus einiger Distanz gleichgültig beobachtet hatte, vermischte sich der von Peter ausgehende Lärm, mit einem leisen, bedächtigen Tapsen, dem lange schlurfende Laute folgten.

„Sven, schau dir das mal an. Verdammt. Und das hier!“ Peter stand vor einem etwa zwei Meter großem, schwarzen Elefanten, der vollständig in eine mit Stacheln versehene Rüstung gehüllt war. Aus seinem Rücken ragten, ab den Waden aufwärts, die Marmor-weißen Körper zweier ringender Athleten. Fest ineinander verkeilt in einer Meditation der Gewalt schienen sie nicht zu bemerken, wie sie immer tiefer im Fleisch des Elefanten versanken. Aus allen Winkeln betrachtete Peter die bizarre Skulptur und achtete nicht auf das lauter werdende Geräusch, als aus dem Nebel hinter ihm ein bärtiger Mann mit freier Brust und einem langen Gewand trat. Er beugte sich schwerfällig auf einen großen Gehstock und die Falten unter seinen Augen und die alten, zu schweren Muskeln, die obszön unter dem winzigen Stück Stoff, das er trug, hervorragten, schienen ihn unnachgiebig Richtung Boden zu ziehen. Mühsam trotzte er der Schwerkraft und seine zu klein geratenen Beine und Arme, waren unfähig den Bewegungen des restlichen Körpers zu folgen. Das rechte Bein war kürzer als das linke und auf unbestimmte Weise verkümmert. Als sich Peter zu Sven umdrehen wollte, blickte er direkt in das Gesicht des alten Mannes.

„Hallo Schulz, oder Guru. Sven meint ja eher Regent. Also, wir sind hier um mit dir zu spre….“. Ein Knall ertönte und Peter sank auf die Knie. Ohne Ankündigung, hatte der Alte sich aufgestellt, seine Krücke über den Kopf erhoben und Peter auf den Kopf geschlagen. Nun nahm er ihn bei der Schulter und zog ihn hinter sich her. Sven hatte das Geschehen aus einiger Entfernung beobachtet und das erste mal, seitdem sie an diesem Morgen das Haus verlassen hatten, würdigte er Peter für seine Idee Schulz‘ aufzusuchen. Langsam folgte er den beiden in den nächsten Raum, in dem eine junge Frau bereits auf sie wartete.

„Also, sagen Sie mal.“, Peters Stimme war aufgebracht „Sie Schulz, Mann Guru, was war das denn für ne Nummer. Was hat es hier überhaupt mit diesem Schweigeretreat auf sich? Wir sind hier.“
Gebieterisch legte die Frau einen Finger auf die Lippen und der alte Mann erhob seinen Stock zum neuerlichen Schlag. Peter verstummte.
„Sehr gut. Herr Peter, Herr Sven, wie ich sehe, haben Sie Ihren Weg zu uns gefunden. Leider wird es Ihnen in den nächsten Tagen nicht möglich sein, persönlich mit unserem Guru zu sprechen. Deshalb haben wir sie, sozusagen übergangsweise, in unser Spezialprogramm aufgenommen. Glücklicherweise haben Sie schon die Bekanntschaft von Herrn Hermann gemacht.“ Sie deutete auf den Alten und Svan kam es vor, als blickte Sie ihn lüstern und sehnsuchtsvoll an. „Hermann weilt schon seit einiger Zeit bei uns und zeichnet sich für einen Großteil der Skulpturen verantwortlich, die Sie in unserem Auditorium gesehen haben. Er kam aus einer sehr schwierigen Lage zu uns, sodass er sich dazu entschlossen hat, bei uns zu bleiben. Außerdem hat er die Leitung der Kunstkurse übernommen . Natürlich kann ich verstehen, dass die Lage für Sie… enttäuschend sein muss, doch ich würde Ihnen sehr empfehlen für eine Weile bei uns zu bleiben.“

VII

„Guru ist doch Neusprech, oder?“, bemerkte Sven vorwurfsvoll.
„Dann ist Regent Uraltsprech!“, donnerte Peter. „Mal ehrlich, Sven, du mit deinen archaischen, romantisierenden Begriffen. Regent klingt so unterwürfig und passt irgendwie zu dir. Oh, Herr Regent, darf ich Ihnen die Füße küssen? Oh, Seine Durchlaucht der Regent, darf ich Ihnen die Arschhaare kämmen?“
Peter machte eine frivole Körperbewegung und schnitt dazu abschätzige Grimassen. Er bemerkte aber schnell, wie Sven leicht den Kopf hängen ließ.
„Ach, bevor es dir wieder die Sprache verschlägt, zurück zum Thema. Ich habe für heute einen Termin beim Guru veranlasst. Nicht, dass du denkst, ich wäre schlecht vorbereitet.“
Sven schüttelte ungläubig mit dem Kopf.
„Wieso Termin? Was soll das denn schon wieder?“
„Ja, wusstest du das nicht?“, fragte Peter. „Der werte Herr Schulz ist doch zum Gesundheitsapostel mutiert, hat jeglichem Laster abgeschworen und schwimmt jetzt im Geld, das ihm seine Jünger quasi freiwillig vor die Türe schmeißen.“
„Der Reg…, äh, der Guru?“
„Ja, der Schulz! Wer hätte das gedacht, oder? Aber dumm war der nie. Hat sich immer abgehoben von der Masse.“
„Aber wie? Ich meine, hier im Dorf, wie geht das? Und überhaupt hatte ich mir unter ‘mal hier rauskommen’ was anderes vorgestellt, als eine Pilgerreise zum Schulz.“ Sven blickte enttäuscht zu Boden.
„Tja, wie der das macht, werden wir gleich herausfinden. Und du müsstest mich doch mittlerweile eigentlich ganz gut kennen. Ich habe dieses Dorf in meinem ganzen Leben nur einmal verlassen und dabei wird es auch bleiben. Lass uns weiterfahren.“

So stiegen die beiden wieder auf ihre Fahrräder und radelten den altbekannten Weg zum Schulz, während in Sven wieder einmal eine kleine Welt zusammenstürzte. Er fürchtete sich geradezu vor dem Treffen mit Schulz, den er so heroisch in seiner Erinnerung trug, und der sich über die Jahre so verändert haben soll. Beobachten konnte er den Wandel im Dorf natürlich schon länger. Die Männer mit den Geschichten und den Bierbäuchen wurden älter, zum Teil opulenter, zum Teil hagerer. Die Geschichten blieben meist dieselben. Sven spürte, wie dieses gefühlt jahrhunderteübergreifende Bild des Dorfmenschen mit all seinen Facetten ins Wanken geriet. Dabei fühlte er sich seit jeher als passiver Beobachter dieses Verfalls, geduldet und integriert, aber dennoch fehl am Platz. Zwar spürte er die stillschweigende Akzeptanz der Gemeinschaft, zugehörig fühlen konnte oder wollte er sich aber nur selten. Er fragte sich oft, warum er immer bei den Alten stand und nicht bei den Gleichaltrigen. Auch ihnen fühlte er sich nicht zugehörig, noch weniger sogar, außer den paar, die bereits vor Jahren weggezogen waren.

Gedankenverloren erreichten sie die steile, lang gewundene Auffahrt zu Schulz’ Haus, als zarte Schneeflocken auf seine Hände fielen. Sie stiegen ab und Sven schaute glücklich in den Himmel. Solche Momente, dachte er, sind genau der Grund, warum er noch hier ist. Wozu einem flüchtigen Versprechen nach Glück hinterherjagen, das einem irgendwo in der Ferne zu warten suggeriert wird, wenn die ganze Reinheit der Existenz in den ersten Schneeflocken des Jahres auf heimischen Gefilden wie Balsam auf einen herabrieselt?

Sie schoben ihre Räder schwer atmend den restlichen Weg hoch und kamen an einem hohen, alles umspannenden, mannshohen und blickdichten Zaun zum Stehen. Sven sah ungläubig zu Peter, der ebenfalls überfordert schien.
„Tja, sagte Peter, Schulz hat scheinbar aufgerüstet. Mag wohl keine spontanen Besuche mehr. Hier ist die Klingel.“
Er betätigte sie und eine Frauenstimme ertönte: „Schulz’ Oase der Erholung, was kann ich für Sie tun?“
„Ähm, Peter und Sven hier, wir hatten einen Termin bei Schulz.“
„Kleinen Moment, bitte. Ah ja, Sie haben sich für das Schweigeretreat angemeldet, treten Sie ein.“
„Schweige-was?“, stammelte Peter, aber Sven fasste bereits den Türknauf und stieß die massive Eingangstür auf.