„„Jetzt aber halt.“, Svens Ruf verhallte ungehört und Hannes verschwand im nahe gelegenen Wald. Es war nur ein kurzer Moment des Schreckens, der Überraschung und sich verwehrender Erkenntnis, der unsere Helden nur wenige Sekunden zögern ließ, doch nachdem sie aus ihrer, im Falle Svens entsetzten, im Falle Peters belustigten, Erstarrung erwachten, und Hannes hinterher stürzten, mussten sie feststellen, dass er im dunklen Waldschatten des Spätherbstes verschwunden war. Aufgelöst im Dickicht.
„Der Erlösung versagt.“, Peter Stimme war ein erschöpftes Stöhnen und doch mischte sie sich mit einem anschwellendem Lachen. „Der Wicht.“
Sven der weitergelaufen war, als sich Peter schon keuchend auf seine Knie gestemmt hatte, kam nun langsam den Weg zurück, Ausschau haltend nach ungesehenen Abdrücken des designierten Toten. „Nichts. Nur eine dünne Spur aus Erbrochenem und Blut. Und dann nichts. Verschwunden. Ich versteh das nicht. Ich versteh das alles nicht mehr.“ Sven ließ sich auf den Boden fallen und blickte resigniert in das dichte Blattwerk der Bäume. Es erinnerte ihn an schwarze Krähen und schwarze Papageien, die bis in alle Ewigkeit ziellos durch einen taghellen Nachthimmel flogen und ihm für alle Zeit den Blick auf den Mond verwehrten. Als Peters Gesicht erwartbar und doch unerwartet über ihm auftauchte, war er gleichsam schockiert und erleichtert.
„Nana, nun aber… Wer benutzt denn solche Worte: „Erbrochenes“, mein sensibler Künstlerfreund, sperre dich nicht gegen die Wahrheit, Kotze trifft es da wohl schon eher.“
Sven dachte an den Termin beim Arbeitsamt, an Thomas und Lydia und schüttelte sich.
„Peter Schluss jetzt mit dem Scheiß. Sag mal, was ist in letzter Zeit eigentlich los mit dir. Mo ist tot, Hannes hat sich gerade von Mo’s Dach gestürzt und ist Blut und Kotze spuckend im Wald verschwunden und du läufst hier lachend durch die Gegend.“
„Sehr, sehr gut: Blut und Kotze. So ist richtig Sven. Also, na überleg doch mal, als ob Hannes jetzt unser bester Freund wäre. Und es schien ihm doch gut zu gehen.“
„Oh mann, du verdammter Soziopath. Jetzt lass uns wenigstens mal bei Hannes‘ Wohnung vorbeifahren und schauen, ob er dort angekommen ist. Wo wohnt der eigentlich?“
„Im Himmel und in der Hölle.“
„Adresse?“
„Keine Ahnung.“
„Hm.“
„Hm. Hatte Mo nicht mal so ein Gästebuch, wo die ganzen Besoffenen, wirre Geschichten reingeschrieben haben.“
„Mit bürgerlichem Namen, Adresse und Geburtsdatum?“
Achselzuckend stand Peter vor Sven, der sich nun langsam erhob und wortlos den kurzen Weg zu Mo’s Bar zurückging. Die Haustür war nur angelehnt, der Raum dahinter hell beleuchtet und auf dem Boden lagen einige zerbrochene Flaschen. Geruch von Bier und Rauch und Mo. Sven erwartete, dass er gleich, wie seit Anbeginn der Zeit, aus der von Bratenfett und Zigarettenrauch eingehüllten Küche schritt, doch alles blieb stumm und der Rauch in der geräuschlosen Küche, hatte sich für immer gelichtet.
„Was ist denn hier passiert?“ Peter, der hinter ihm die Bar betrat, stolperte ungeschickt über die zahllosen Glasscherben und kam auf ihn zu. Erfolglos versuchte Sven ihn zu ignorieren.
„Sorry Sven, war nicht so gemeint. Schon alles ziemlich abgefahren, was in letzter Zeit so passiert. Aber die Tragik ist dem Absurden nicht gewachsen. Und die Komik transzendiert die Logik. Bier?“
„Die Bar steht jetzt seit ein paar Tagen leer, sollte hier nicht längst aufgeräumt sein? Und was ist mit Absperrungen, Polizei und dem ganzen Mist?“
„Sven, wir sind hier auf dem Dorf. Und Bier ist Bier und wenn das hier noch steht und wenn das keiner trinkt, wird es halt schlecht.“ Aufmunternd nickte Peter in Svens Richtung und machte sich daran, zwei Bier zu zapfen, während Sven die Suche nach dem Gästebuch begann.
Es war das erste mal, dass Sven, die überall an der Decke angeklebten Zeitungsartikel und Buchseiten, die aus den unterschiedlichsten Ländern stammten, bewusst wahrnahm. Viele der Meldungen waren in Sprachen verfasst, die er nicht kannte, und deren Schriftzeichen er nur unzureichend einordnen konnte. Einzig die Bilder gaben einen Anhaltspunkt über die Bedeutung der Zeichen, doch standen sie in ihrer zufälligen Ordnung, im Spruch und Widerspruch der Fotografien und Illustrationen, im brüchigen Spiel ihrer fragilen Zusammenhänge, antagonistisch nebeneinander. Ein Atompilz über einer unbekannten Landschaft. Die Abbildung eines Engels, der eine menschliche Ziege küsst. Die verbrannten Überreste einer Stadt. Ruinen. Eine Taube mit Doppelanus. Ein menschlicher Korpus, ohne Kopf, der Oberkörper mit dem Unterkörper verwachsen, eine Skulptur des Fleisches. Ein Pinguin kotend im Flug, zielgerichtet ein kopulierendes Paar anvisierend. Exekutionskommandos und Leichenberge. Ein Mann, schwimmend in einem Meer aus lebendem Obst, das die Augen vorwurfsvoll auf ihn gerichtet hat. Die Skizze eines weiblichen Skeletts, ein Mann zwischen ihren Beinen, wie sie oder es oral befriedigt wird. Umso länger Sven die wirre Collage betrachtete, die sich aus tausenden Bildern zusammensetzte und prophetisch über ihm schwebte, umso mehr fragte er sich, ob Mo Verrückter oder Heiliger war. Seine Hinterlassenschaft, sein Vermächtnis für die Menschheit, eine auf Entschlüsselung wartende Geschichte der Welt, wie sie war, sein könnte oder sein sollte. Eine fiktive, auf Fakten beruhende Enzyklopädie der Menschheit. „Wie kann etwas überhaupt postfaktisch oder prefaktisch oder ganz einfach faktisch sein“,überlegte Sven „wenn sich Fakten, sowieso immer nur auf anderen Tatsachen, also anerkannten Fakten begründen. Steht am Ende eines zufällig gewählten Faktums, wenn man es bis zu seinem Grund auseinandernimmt, in Einzelteile zerlegt und dieser endlosen Kette bis zu seinem unmöglichen Beginn folgt, nicht immer derselbe Fakt und ist dieser letzte Fakt, nicht immer nur eine Frage. Und ist diese Frage nicht auch der Beginn aller Fiktion und der Fakt, somit nicht mehr als die Vereinfachung alles Fiktiven.“ Erschöpft von dieser endlosen Reihung und erschöpft, von der nichtssagenden Gewalt der Bilder über seinem Kopf, wendete sich Sven ab und durchsuchte einige der Schränke hinter dem Tresen, bis er ein an den Rändern zerrissenes und vergilbtes Buch fand. Er setzte sich auf einen der Barhocker und nahm einen tiefen Schluck von dem schalen Bier, das Peter ihm reichte.
„Sag mal Peter, sind dir irgendwann mal die Bilder an der Decke aufgefallen?“
Peter schaute nach oben: „Nene, ich glaub ich hab in meinem ganzen Leben noch nie nach oben geschaut. Sollte man öfters mal machen.“, kichernd trank auch er von seinem Bier. „Mo war schon immer so empfindlich. Ein sensibler Botschafter des Rausches.“
„Schon seltsam. Hier, ich hab ein Buch gefunden.“ Sven legte es auf den Tresen und schlug es auf einer der hinteren Seiten auf. „Also, eine Gästebuch ist das nicht.“, sagte er nach einer Weile. Irritiert las er vor:
„29.10. Wünschte ich könnte irgendwohin. Oder zumindest Hannes rausschmeißen. Immer das Gleiche. Sollte seine Spermafreundin überfallen und die Huhnmenschen züchten und auf ihn hetzen. Vielleicht kehrt dann auch das Gefühl der Bestimmung wieder. War mir immer sicher der Auserwählte der Kneiper zu sein. Bestimmung verloren im Schnaps- und Zigarettenmeer. Führerlos in einer Buddle aus Selbstgebranntem und Bier.
30.10. Die Nacht erdrückt von Lichtern. Fenster werden zu kreisenden Quadraten. Die Wirklichkeit ist psychedelischer als die Zeit und jeder Augenblick ist ein Deja-vu. Ich sitze auf dem Klo und will aufstehen und endlos scheint es mir, als hätte ich es bereits getan oder wäre gerade dabei. Die Wände beginnen sich lautlos zu drehen und ich bin mir sicher, schon immer hier festzusitzen.“