V

“Zeig mal her!”, sagte Peter und riss Sven das Buch aus der Hand.
31.10. Gebrauchsanweisung zum Schreiben eines Bestsellers.
Schritt 1: Bringen Sie möglichst viele Anspielungen zur griechischen Mythologie ein.
Schritt 2: Verwenden Sie Fremdsprachen, am besten Französisch.
Schritt 3: Vermeiden Sie…
“Bullshit!”, unterbrach Sven. Das denkst du dir doch gerade aus, du Hund! Nicht schon wieder diese Buchscheiße! Gib her!“
Also, 31.10. Gestern kamen doch tatsächlich diese verkleideten Bratzen hierher und kommen mir mit ‘Süßes oder Saures’. Unmotivierter und klischeehafter geht es nicht. Hätte ihnen gerne beides in Form von Schlägen gegeben, aber der Anstand, ja dieser verdammte Anstand… Habe stattdessen ein paar alte Dauerlutscher aus der hintersten Küchenschublade gekramt. Sollen sie sich doch daran die Zähne ausbeißen.
„Mo, unser Kinderfreund! Peter lachte lautstark und das Echo vibrierte im leeren Raum.
3.11. Vermeiden Sie unbedingt genaue Zeitangaben, z. B. die Abfolge von Daten.
Sven sah auf zu Peter, dieser lächelte nach kurzem Schweigen anerkennend zurück.
„Chapeau, mein Freund. Ein erster wichtiger Schritt deiner Besserung auf dem Weg zur Erkenntnis.“
„Jaja!“, sagte Sven und fuhr fort. „Aber das war’s. Die letzte Seite scheint zu fehlen, wurde rausgerissen.“
„Hmm, vielleicht der komische Zettel, den Hannes dabeihatte?“
„Hmm, gut möglich…“
„Und keine Adressen in dem Buch?“
„Warte, ich schaue weiter vorne. Boah, Mo hat echt viel geschrieben. Hier, ganz vorne ist ein Kapitel Stammgäste. Aber hier steht nur ganz wenig, die meisten Namen kenn ich gar nicht. Wer ist Werner?“
„Wahrscheinlich son Skatrentner.“, sagte Peter.
„Und Martin, Horst, Dieter?“
„Auch, denk ich mal.“
„Kein Wort von uns oder Hannes!“ Verzweifelt warf Sven das Buch in eine Ecke. „Das darf doch nicht wahr sein.“ Sven schluchzte jämmerlich.
„Ich hab eine Idee!“, frohlockte Peter.
„Bitte nicht!“
„Doch, das wird dir gefallen! Wir spielen ein Spiel. Wir gehen jetzt zum Bäcker und du bestellst Brötchen. Doch anstelle von Brötchen sagst du jedesmal Fotze, z. B.: Hallo, ich hätte gerne vier Fotzen. Ja, welche sollen’s denn sein? Eine Mehrkornfotze, zwei Käsefotzen, eine Kürbiskernfotze und zwei normale Fotzen. Aber das sind doch sechs. Und dann laufen wir schnell raus.“
Sven starrte regungslos zu Boden.
„Oder, noch besser, wir gehen ins Restaurant. Herr Ober, in meiner Suppe ist eine Fotze. Hat die Fotze denn gemundet? Ganz vorzüglich, danke. Darf ich Ihnen noch eine Fotze zum Nachtisch bringen? Gern, zwei bitte.“
Peter sah zu dem in sich gekauerten Sven herunter, trank sein Bier aus und sagte: „Hast ja recht; ist eher unwahrscheinlich, dass der Kellner da mitspielt.“
„Ich will nach Hause.“, wimmerte Sven.
Nachdem Peter sich noch einen großzügigen Schluck Bier gezapft hatte und diesen gekonnt exte, verkündetet er großmütig: „Ja, lass uns nach Hause gehen. War ein anstrengender Tag.“

Am nächsten Morgen riss Peter die Augen wie besessen auf und hievte sich aus Svens Badewanne. Seine Knochen ächzten, die Keramik knarzte, aber er musste Sven etwas extrem Wichtiges mitteilen. Er stürmte ins Wohnzimmer, wo dieser, noch immer völlig leblos, einfach rumstand und die Raufasertapete streichelte.
„Sven, ich weiß vielleicht, wo wir Antworten auf unsere Fragen erhalten. Ich habe erst kürzlich von jemandem gehört, der von sich behauptet, dass die Welt nur wegen seiner Existenz noch nicht komplett aus den Fugen geraten sei. Ein echter Guru, zu dem die Leute geradezu hinströmen. Mensch, Sven, das wird uns guttun, wenn wir hier mal rauskommen. Ne, Sven, ne!“

IV

„„Jetzt aber halt.“, Svens Ruf verhallte ungehört und Hannes verschwand im nahe gelegenen Wald. Es war nur ein kurzer Moment des Schreckens, der Überraschung und sich verwehrender Erkenntnis, der unsere Helden nur wenige Sekunden zögern ließ, doch nachdem sie aus ihrer, im Falle Svens entsetzten, im Falle Peters belustigten, Erstarrung erwachten, und Hannes hinterher stürzten, mussten sie feststellen, dass er im dunklen Waldschatten des Spätherbstes verschwunden war. Aufgelöst im Dickicht.
„Der Erlösung versagt.“, Peter Stimme war ein erschöpftes Stöhnen und doch mischte sie sich mit einem anschwellendem Lachen. „Der Wicht.“

Sven der weitergelaufen war, als sich Peter schon keuchend auf seine Knie gestemmt hatte, kam nun langsam den Weg zurück, Ausschau haltend nach ungesehenen Abdrücken des designierten Toten. „Nichts. Nur eine dünne Spur aus Erbrochenem und Blut. Und dann nichts. Verschwunden. Ich versteh das nicht. Ich versteh das alles nicht mehr.“ Sven ließ sich auf den Boden fallen und blickte resigniert in das dichte Blattwerk der Bäume. Es erinnerte ihn an schwarze Krähen und schwarze Papageien, die bis in alle Ewigkeit ziellos durch einen taghellen Nachthimmel flogen und ihm für alle Zeit den Blick auf den Mond verwehrten. Als Peters Gesicht erwartbar und doch unerwartet über ihm auftauchte, war er gleichsam schockiert und erleichtert.

„Nana, nun aber… Wer benutzt denn solche Worte: „Erbrochenes“, mein sensibler Künstlerfreund, sperre dich nicht gegen die Wahrheit, Kotze trifft es da wohl schon eher.“
Sven dachte an den Termin beim Arbeitsamt, an Thomas und Lydia und schüttelte sich.
„Peter Schluss jetzt mit dem Scheiß. Sag mal, was ist in letzter Zeit eigentlich los mit dir. Mo ist tot, Hannes hat sich gerade von Mo’s Dach gestürzt und ist Blut und Kotze spuckend im Wald verschwunden und du läufst hier lachend durch die Gegend.“
„Sehr, sehr gut: Blut und Kotze. So ist richtig Sven. Also, na überleg doch mal, als ob Hannes jetzt unser bester Freund wäre. Und es schien ihm doch gut zu gehen.“
„Oh mann, du verdammter Soziopath. Jetzt lass uns wenigstens mal bei Hannes‘ Wohnung vorbeifahren und schauen, ob er dort angekommen ist. Wo wohnt der eigentlich?“
„Im Himmel und in der Hölle.“
„Adresse?“
„Keine Ahnung.“
„Hm.“
„Hm. Hatte Mo nicht mal so ein Gästebuch, wo die ganzen Besoffenen, wirre Geschichten reingeschrieben haben.“
„Mit bürgerlichem Namen, Adresse und Geburtsdatum?“
Achselzuckend stand Peter vor Sven, der sich nun langsam erhob und wortlos den kurzen Weg zu Mo’s Bar zurückging. Die Haustür war nur angelehnt, der Raum dahinter hell beleuchtet und auf dem Boden lagen einige zerbrochene Flaschen. Geruch von Bier und Rauch und Mo. Sven erwartete, dass er gleich, wie seit Anbeginn der Zeit, aus der von Bratenfett und Zigarettenrauch eingehüllten Küche schritt, doch alles blieb stumm und der Rauch in der geräuschlosen Küche, hatte sich für immer gelichtet.
„Was ist denn hier passiert?“ Peter, der hinter ihm die Bar betrat, stolperte ungeschickt über die zahllosen Glasscherben und kam auf ihn zu. Erfolglos versuchte Sven ihn zu ignorieren.
„Sorry Sven, war nicht so gemeint. Schon alles ziemlich abgefahren, was in letzter Zeit so passiert. Aber die Tragik ist dem Absurden nicht gewachsen. Und die Komik transzendiert die Logik. Bier?“
„Die Bar steht jetzt seit ein paar Tagen leer, sollte hier nicht längst aufgeräumt sein? Und was ist mit Absperrungen, Polizei und dem ganzen Mist?“
„Sven, wir sind hier auf dem Dorf. Und Bier ist Bier und wenn das hier noch steht und wenn das keiner trinkt, wird es halt schlecht.“ Aufmunternd nickte Peter in Svens Richtung und machte sich daran, zwei Bier zu zapfen, während Sven die Suche nach dem Gästebuch begann.

Es war das erste mal, dass Sven, die überall an der Decke angeklebten Zeitungsartikel und Buchseiten, die aus den unterschiedlichsten Ländern stammten, bewusst wahrnahm. Viele der Meldungen waren in Sprachen verfasst, die er nicht kannte, und deren Schriftzeichen er nur unzureichend einordnen konnte. Einzig die Bilder gaben einen Anhaltspunkt über die Bedeutung der Zeichen, doch standen sie in ihrer zufälligen Ordnung, im Spruch und Widerspruch der Fotografien und Illustrationen, im brüchigen Spiel ihrer fragilen Zusammenhänge, antagonistisch nebeneinander. Ein Atompilz über einer unbekannten Landschaft. Die Abbildung eines Engels, der eine menschliche Ziege küsst. Die verbrannten Überreste einer Stadt. Ruinen. Eine Taube mit Doppelanus. Ein menschlicher Korpus, ohne Kopf, der Oberkörper mit dem Unterkörper verwachsen, eine Skulptur des Fleisches. Ein Pinguin kotend im Flug, zielgerichtet ein kopulierendes Paar anvisierend. Exekutionskommandos und Leichenberge. Ein Mann, schwimmend in einem Meer aus lebendem Obst, das die Augen vorwurfsvoll auf ihn gerichtet hat. Die Skizze eines weiblichen Skeletts, ein Mann zwischen ihren Beinen, wie sie oder es oral befriedigt wird. Umso länger Sven die wirre Collage betrachtete, die sich aus tausenden Bildern zusammensetzte und prophetisch über ihm schwebte, umso mehr fragte er sich, ob Mo Verrückter oder Heiliger war. Seine Hinterlassenschaft, sein Vermächtnis für die Menschheit, eine auf Entschlüsselung wartende Geschichte der Welt, wie sie war, sein könnte oder sein sollte. Eine fiktive, auf Fakten beruhende Enzyklopädie der Menschheit. „Wie kann etwas überhaupt postfaktisch oder prefaktisch oder ganz einfach faktisch sein“,überlegte Sven „wenn sich Fakten, sowieso immer nur auf anderen Tatsachen, also anerkannten Fakten begründen. Steht am Ende eines zufällig gewählten Faktums, wenn man es bis zu seinem Grund auseinandernimmt, in Einzelteile zerlegt und dieser endlosen Kette bis zu seinem unmöglichen Beginn folgt, nicht immer derselbe Fakt und ist dieser letzte Fakt, nicht immer nur eine Frage. Und ist diese Frage nicht auch der Beginn aller Fiktion und der Fakt, somit nicht mehr als die Vereinfachung alles Fiktiven.“ Erschöpft von dieser endlosen Reihung und erschöpft, von der nichtssagenden Gewalt der Bilder über seinem Kopf, wendete sich Sven ab und durchsuchte einige der Schränke hinter dem Tresen, bis er ein an den Rändern zerrissenes und vergilbtes Buch fand. Er setzte sich auf einen der Barhocker und nahm einen tiefen Schluck von dem schalen Bier, das Peter ihm reichte.

„Sag mal Peter, sind dir irgendwann mal die Bilder an der Decke aufgefallen?“
Peter schaute nach oben: „Nene, ich glaub ich hab in meinem ganzen Leben noch nie nach oben geschaut. Sollte man öfters mal machen.“, kichernd trank auch er von seinem Bier. „Mo war schon immer so empfindlich. Ein sensibler Botschafter des Rausches.“
„Schon seltsam. Hier, ich hab ein Buch gefunden.“ Sven legte es auf den Tresen und schlug es auf einer der hinteren Seiten auf. „Also, eine Gästebuch ist das nicht.“, sagte er nach einer Weile. Irritiert las er vor:

„29.10. Wünschte ich könnte irgendwohin. Oder zumindest Hannes rausschmeißen. Immer das Gleiche. Sollte seine Spermafreundin überfallen und die Huhnmenschen züchten und auf ihn hetzen. Vielleicht kehrt dann auch das Gefühl der Bestimmung wieder. War mir immer sicher der Auserwählte der Kneiper zu sein. Bestimmung verloren im Schnaps- und Zigarettenmeer. Führerlos in einer Buddle aus Selbstgebranntem und Bier.
30.10. Die Nacht erdrückt von Lichtern. Fenster werden zu kreisenden Quadraten. Die Wirklichkeit ist psychedelischer als die Zeit und jeder Augenblick ist ein Deja-vu. Ich sitze auf dem Klo und will aufstehen und endlos scheint es mir, als hätte ich es bereits getan oder wäre gerade dabei. Die Wände beginnen sich lautlos zu drehen und ich bin mir sicher, schon immer hier festzusitzen.“

III

“Was heißt vom Dach gestürzt?”, fragte Sven entsetzt. “Und dann? Hast du ihn einfach liegen lassen?
“Achso!”, sagte Peter und fasste sich an den Kopf. “Lass uns mal hinschauen.” Er lachte künstlich, als würde er sich eines ziemlich dummen, vermeidbaren Fehlers bewusst.
Sven schüttelte sprachlos mit dem Kopf. In seinem Hirn ging alles drunter und drüber. Aufgeregt stammelte er: “Scheiße, los! Fahrrad!” und holte sein Mountainbike sowie ein altes Damenrad aus dem Keller. Peter musterte letzteres skeptisch. “Dein Ernst?”, fragte er. “Mein Ernst!”, sagte Sven. “Und jetzt los!”
Bis zum Schmiedehammer war es nicht weit, doch als Peter seinen massigen Körper auf das klapprige Rad bugsierte, dieses zu ächzen und stöhnen begann und der Reifendruck sich derart schnell verflüchtigte, als wären die Reifen geplatzt, sagte Sven einsichtig: “Wir tauschen.” Und so fuhren unsere Helden die kurze Strecke in gemächlichem Tempo, da Sven immer wieder auf Peter warten musste, bis sie nach wenigen Minuten am Schmiedehammer angekommen waren. Die Bar stand einsam und verschlossen an diesem grauen Novembernachmittag, von Hannes keine Spur. Peter stieg schnaufend von dem vor Erleichterung aufatmenden Mountainbike ab und schmiss es seitlich von sich in den Dreck.
“Peter!”, sagte Sven ernst, “Wenn das wieder so ne scheiß Luftnummer ist, ich schwöre dir, dann kriegst du bei mir Hausverbot.”
“Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass der vorhin noch hier lag.”, erwiderte Peter.
“Und warum hast du ihm dann nicht geholfen? Wie kommst du darauf, dass er vom Dach gestürzt ist?“
Peter warf die Stirn in Falten und überlegte einige Sekunden, was er antworten sollte.
“Willst du wissen, was in dem Brief steht?”
“Ist das denn wichtig?” Sven lachte hysterisch.
“Nee, aber komisch. Also, da steht…“:

An die Menschheit!
Als Exemplar deiner Gattung sowie Art- und Leidensgenosse, ist es mir ein besonderes Anliegen, ein paar Worte an dich zu richten. Wenn ich könnte, würde ich ab jetzt ohne Floskeln sprechen, ausnahmslos, ohne Kitsch und ohne Zweideutigkeit. Aber es wird mir nicht gelingen, so viel weiß ich bereits. Mit dir zu reden, ist wie Jonglieren mit brennenden Bällen. Selbst wenn du Handschuhe trägst, verbrennst du dich früher oder später und lässt sie fallen. Womit ich mein Versprechen, ohne Floskeln auszukommen, bereits gebrochen habe. Tut mir leid.
Mit dem Wort kommt die Perspektive, die Subjektive, die Anmaßung. Du kannst noch so viel Wahrheit in deine Rede mengen, am Ende stellt jemand alles Gesagte auf den Kopf. Gleichgesinnte – ja! Aber bleibt nicht die Gier deine treibende Kraft, die alles andere mit sich in den Abgrund reißt?
Hüte dich vor den ellenbogenschwingenden, leichenreitenden Großmäulern unter dir – dieses mit leeren Worthülsen um sich werfende, ewig zu dick auftragende, jedem etwas verkaufen wollende und nimmersatte Gesindel – und besinne dich auf dich selbst. Greif nicht nach den Sternen, sondern höre in dich rein.
Wer bist du?
Ich bin der, der lauthals lachen können möchte, ehrlich und ungezwungen, so dass es jeder hört und mitlacht, einschließlich meiner selbst, der von außen auf die lachende Person schaut; so dass mein Lachen alles vereinnahmt, auch mich. Und wenn mein Bauch dann schmerzt vor Lachen, trete ich hin zu mir und lasse den Beobachter herein, so wie es vorher noch nie ganz war, so wie es göttlich wäre. Siehe, dass ich du bin und du bist ich.
Hoffnung – vielleicht! Doch am Ende ist der Mensch ist dem Menschen… ein Mensch.

Ein Rascheln drang aus dem zugewucherten Blumenbeet vorm Schmiedehammer an die Ohren unserer Helden. “Ist das nicht…”, fragte Sven und näherte sich einem dichten Gebüsch, “…ein Fuß?” Das Rascheln wurde lauter und plötzlich erhob sich Hannes wie Phönix aus der Asche und erbrach an sich herunter. “Ihr…”, sagte er vorwurfsvoll, “…Esoterik-Schwuchteln!” Er wedelte abschätzig mit der Hand. “Ach, leckt mich am Arsch!”, bemerkte er und zog schwankend von dannen.

II

Herr Sven, Schluss jetzt. Und auch du Herr Meier. Wir sind hier doch nicht im Zirkus. Oder im Zoo. Biertitten… Säuferglück… Wir alle hier wollen Leuten wie Ihnen, Herr Sven, dabei helfen, eine adäquate Anstellung zu finden, die bestmöglich auf persönliche Stärken und Präferenzen abgestimmt ist. Wenn ich mir Ihren Lebenslauf so anschaue, frage ich mich, wie Sie sich Ihre Zukunft überhaupt vorstellen. Haben Sie sich jemals gefragt, welchen Wert Sie durch Ihre fortwährende Arbeitslosigkeit für unsere Gesellschaft und unseren Staat besitzen. Haben Sie denn nie das Bedürfnis verspürt eine Leistung zu erbringen, die über ein rein egoistisches Interesse hinausreicht? Ich persönlich werde mich dafür einsetzen, dass Sie von nun an die bestmögliche Betreuung erhalten. Und auch wenn es nicht viel ist, so will ich mich doch der Bewahrung der kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften verschreiben und meinen kleinen bescheidenen Beitrag zur Aufrechterhaltung unserer gesellschaftlichen und vor allem moralischen Ordnung leisten. Hören Sie Herr Sven, ich erkläre Sie zu meiner obersten Priorität.“

Sven hörte Lydias Worte und wusste nicht, welche Reaktion von ihm erwartet wurde und ob ihre leidenschaftliche Ansprache nicht ein weiterer Teil des absurden Theaters war, dass er seit diesem Morgen erlebte. Bei den Worten oberste Priorität hatte Sven das Gefühl, dass Lydia leicht die Augenbrauen nach oben zog und ihm einen verdeckt lüsternen Blick zuwarf. Um sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen, schaute er sich unauffällig im Raum um. Er sah Volkers schwabbeliges Gesicht, dass fast vollständig von seiner fleischigen Hand bedeckt war, um die quiekenden und grunzenden Geräusche zu dämpfen, die nun nur noch vereinzelt aus ihm hervorbrachen. Um Lydias Hals erblickte er eine silberne Kette, mit einem kleinen, funkelnden Stein, der in starkem Kontrast zu Ihren roten Haaren und den bunten Tattoos stand und der ihn an den bläulichen Stern erinnerte, den er in der Nacht von Mo’s Tod gesehen hatte. Morgenstern und Totennacht, dachte Sven. Abwesend saß er in seinem Stuhl und sah auf seine dreckigen Schuhe, das Gesicht zu einer scheinbar reumütigen Maske erstarrt.

Nun Kopf hoch, Herr Sven.“, Volker hatte sich erhoben und stand nun unmittelbar vor Sven. „Lydia, nun schauen Sie sich doch an, was Sie dem armen Mann hier antun. Ihre Drohungen und dieser mittelalterliche Appell an die die aufrichtige Seele des edlen und aufgeklärten Menschen, ist hier doch völlig fehl platziert. Schauen Sie nur die unterdrückten Tränen dieses gepeinigten Geschöpfes, dieses gequälten und gemarterten Geistes, der doch nichts mehr ersehnt, als ein Ziel, dass ihm der Erlösung näher bringt. Ich weiß, Ihr vom Logos bestimmtes Wesen, ist wahrscheinlich nicht imstande die empfindsame Natur eines Künstlers, auch nur in ihren Grundzügen zu verstehen. Bei einem offensichtlichen Fall, wie diesem hätte ich jedoch gewünscht, dass Sie zu einem, zumindest gespielten, Mitgefühl fähig wären. Dass ist auch der eigentliche Grund, warum ich Ihnen Herrn Sven vorenthalten wollte. Auch wenn ich mich vor Ihnen als Zweifler bekenne, so wurde mir doch klar, dass ich es mit einem Besonderen Menschen, ich behaupte gar einem Gesegneten, zu tun habe. Ich habe bereits viel von Ihnen gehört Herr Sven. Nennen Sie mich doch Thomas. Thomas Meier. Herr Meier, wenn es Ihnen recht ist. Peter hat mir viel von Ihnen erzählt.“

Auch Lydia war nun vorgetreten und Sven hatte das Gefühl ihr etwas zu aufdringliches Parfüm auf seiner Haut spüren zu können. Ihre Bluse schien etwas weiter geöffnet, als noch vor einigen Minuten und die zwielichtige Dunkelheit ihres Dekolletees, erweckte eine mystische Sehnsucht nach den Geheimnissen und Abgründen der Nacht in Sven. Lydias‘ Blick wanderte unstet von ihm zu Peter und wieder zurück und ihr Ausdruck durchschritt ungekennzeichnete Bereiche von Zorn und Flehen.

Herr Sven, ich bitte Sie nun eindringlich meinen Worten Gehör zu schenken. Es geht hier doch nicht um den Widerspruch von Kunst und Verstand, sondern Ihre Zukunft, Ihr Glück, Ihr Seelenheil. Ich verstehe den grundsätzlich gestalterischen und bildenden Anspruch Ihres Lebens, vielleicht sogar Ihrer gesamten Existenz. Doch sollte nicht gerade ein Künstler die unerträgliche Schwere des Lebens greifen können, ihr widerstreben, sie bekämpfen und sich durch Selbstaufgabe zum Wohle der Menschheit opfern. Wäre dann nicht das Leben selbst ein Kunstwerk, welches es zu gestalten gilt.“

Lydia,“ Herr Meiers Worte klangen nun drohend. „Ich glaube Sie verwechseln hier etwas, nicht des Künstlers Leben ist das Kunstwerk, sondern der Künstler an sich. Nicht das Opfer, zum Wohl des Menschen, weiß den Geist zu stimulieren, zu beflügeln und ihn mit dem Wesen der Unendlichkeit in Verbindung zu bringen, sondern die Selbstaufgabe zum Zwecke der Aufgabe des Selbst an sich. Ich bitte Sie, als ob es die Gesellschaft wert wäre gerettet zu werden. Gerade wir sollten uns doch dem unausweichlichen Scheitern dieses Ziels bewusst sein. Nein, wenn Herr Sven nur ein Kunstwerk schaffen könnte, dass der Erinnerung würdig ist, so erlangten wir, die ihn dabei stützen, doch auch die Unsterblichkeit. Ich, und auch Sie Lydia, wenn Sie sich nur Herrn Sven verpflichten könnten, wären sein Gott und seine Jünger.“

Die Atmosphäre im Raum erregte Sven. Der unsinnige Kampf zweier Sachberater, um ein undefinierbares Ziel, weckte körperliche Gelüste, die ihn selbst irritierten. Er fragte sich, warum sich Lydias monotones Beamtendasein innerhalb kürzester Zeit, zu einem fanatischen Eintreten für die Grundsätze der Gesellschaft gewandelt hatte und Sie ihre gemeinsame Nacht scheinbar völlig ignorierte. Fragte sich, wie Volker in Wahrheit hieß. Dachte darüber nach ihn in seinen Stuhl zu drücken und Lydia anschließend vor seinen Augen und auf seinem Schreibtisch, unter Volkers oder Thomas oder Herr Meiers Gekicher und Beifallsstürmen durchzunehmen und sie dabei in ekstatische Höhen zu treiben. Sven schüttelte sich und stand auf. „Also gut, ich muss dann mal, ich hab auch noch einen Termin.“ „Herr Sven,“ Herr Meier schien aufgebracht „wie sind hier noch nicht einmal annähernd fertig, ein vorzeitiges Verlassen des Raumes, wäre eine grobe Verletzung irgendeines Artikels.“

Herr Sven,“ pflichtete Lydia ihm bei „ich denke auch, dass es hier noch einige grundsätzliche Fragen zu klären gibt. Aber ich verstehe, dass vielleicht alles etwas zu viel für sie ist. Nach allem was gerade mit Ihrem Freund geschehen ist, würde ich sagen, wir vertagen dieses Gespräch auf nächste Woche. In der Zwischenzeit schauen Sie sich doch bitte das folgende Stellenangebot etwas genauer an. Triumphierend und provokant schaute Sie zu Thomas. „Also Freund, ach Mo, nun ja…“ warf Sven ein, doch Volker unterbrach ihn.

Ja Herr Sven, mein Beileid. Tragische Geschichte. Wie gesagt, nächste Woche, gleicher Tag, gleiche Zeit. Und bitte lesen Sie sich auch diese Stellenbeschreibung in Ruhe durch.“, lächelnd zog er einen großen Umschlag aus seiner Schreibtischschublade, übergab ihn an Sven. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Aber natürlich vollkommen zwanglos, wir wollen sie schließlich zu nichts zwingen, was Sie in Wirklichkeit gar nicht wollen.“ Abschätzig blickte er zu Lydia.

Ja gut, alles klar, dann. Tschüss.“ hastig ging Sven aus dem Büro und hörte nur noch ein synchrones auf Wiedersehen von Lydia und Thomas.

Als er endlich bei sich zu Hause ankam, sah er Peter mit undefinierbaren Ausdruck vor seiner Tür stehen. Er war irritiert, wie ähnlich Herr Meier und Peter sich sahen und dass er diese Ähnlichkeit erst jetzt bemerkte. „Du schon wieder hier. Ich wollte jetzt eigentlich…“, doch Peter unterbrach ihn, einen Zettel von links nach rechts wedelnd. „Ja ja, Sven so ist das. Setzt dich lieber hin, oder bleib stehen oder ach, was soll’s: Der Brief ist von Hannes. War vorhin bei Mo. Nostalgie und so. Hannes lag vor dem Haus. Hat sich vom Dach gestürzt. Keine Ahnung wie der da hochgekommen ist. Den Brief hatte er bei sich.“

I

Es begab sich also zu einer Zeit, in der „Gott“ aus dem Fokus der Menschen gewichen war. An falschen Gottheiten mangelte es jedoch nicht. Es waren ihrer religiöse, kriegstreibende und konsumistische weitverbreitet. So taten sich im “Fragilen Säuferglück” echte Gottheiten zusammen und philosophierten über eben die unsägliche Zeit, in welche sie die Menschen hineinmanövrieren hatten lassen.

Dionysos, Hannes und Pan auf Barhockern am Tresen. Mo bedient.
D: “Mo, vier Wein und vier Kurze. Das muss gefeiert werden, dass du wieder da bist.”
Mo sieht verdutzt auf.
M: “Wieso ‘wieder’? Wo soll ich denn gewesen sein?”
P: “Ich hätte lieber ein Bier.”
H: “Pan, altes Gerippe, sprichst mir aus der Seele. Für mich auch Bier.”
Mo serviert einmal Wein, zwei Bier und drei Schnäpse.
D: “Auf die Rückkehr unseres V-Mannes. Auf Mo!“
Alle: “Auf Mo!”
Alle klopfen mit den Schnapsgläsern und verkippen einen Teil auf dem Tresen.
M: „Ich versteh kein Wort. Was soll der Scheiß?“
Die drei tauschen verschmitzte Blicke untereinander aus.
D: „Scheinst nicht mehr derselbe zu sein, Mo. Konnte man aber auch nicht erwarten, die ganze Zeit unter Menschenpack.“
H: „Ach, der hat nur Druck aufm Schlauch, hat bestimmt keine abgekriegt da unten, mit der Visage.“
P: „Im Gegenteil! Wer will schon mit gewöhnlichen Sterblichen…“
H: „Dass ausgerechnet du das sagen musst. Würdest doch auf alles springen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.“
P: „Wer im Glashaus sitzt…“
D: „Na na, die Herren, Contenance. Wir wollen Mo doch noch all den Jahren nicht gleich maßlos überfordern. Und außerdem, steht das V in V-Mann wohl kaum für Vögeln. Mo, mach uns nochmal vier Schnäpse und dann erzähl uns in aller Ruhe von deinen Erlebnissen auf der Erde.“
Mo schenkte den dreien Schnaps nach, presste die Handgelenke vom Körper weg auf den Tresen und beugte sich tief hinüber. Mit bebender Stimme: “Is hier Fasching oder was? Wie seht ihr eigentlich aus, ihr Vogelscheuchen? Schluss jetzt mit dem Affentheater oder ich schmeiß euch ein für allemal raus.“
P: „Oh je, den Guten hat’s ja voll erwischt. Paranoia, Schizophrenie oder schlimmer: Hirnfäule.“
D: „Ruhig Blut, junger Freund. Wir wollen dir nichts Böses. Eins nach dem anderen.“
H: „Ich sag’s doch: Der hat keine abgekriegt.“
Mos Kopf jetzt karmesinrot.
D zu H: Schweig, du hohler Klotz! Und dann verständnisvoll zu Mo: „Kannst du dich noch deiner Mission auf Erden entsinnen?

Dionysos holte tief Luft und beschrieb dem erzürnten Aushilfsbarkeeper, warum man ihn zu den Menschen entsandte. Als er endigte, schien Mo entgeistert und den Tränen nahe. Er, ein Spion der Götter auf Erden, nachdem diese auf einen anderen Planeten flüchten mussten? Die Menschen immer spitzfindiger bei der Erschließung des Himmels und seiner Sphären? Göttliche Frequenzen von NSA abgehört? Auf göttlicher Seite Schwierigkeiten bei der Überwachung der Menschen aufgrund starker Luftverschmutzung? Das Menschenprojekt außer Kontrolle geraten?

Mo geht theatralisch zu Boden.
P: „Und, Mo? Sag schon, was hat sich getan da unten? Was hast du die ganze Zeit gemacht?”
H: „Ja, rück endlich raus mit der Sprache.“
D: „Mo, wir können auch morgen darüber reden. Kein’ Stress.“
Mo, sich aufrichtend, eine Uralt-Partyrock-CD in den Player legend. „Life is life“ von Opus ertönt.
„Alles beim Alten. Nichts als Theater.“

Previous Posts