I

Für endlose Zeit herrschte Stille in dem opulenten Saal. Keine Regung und kein Atmen. Keine Bewegungen. Nur die in ihrer Verbeugung erstarrten Jünger und die von Schulz angeführte Gruppe, die auf einem Podest stand, dass sich langsam aus dem Boden erhob. Schulz hatte seinen Jogginganzug gegen ein weißes Gewand eingetauscht, dessen Ende noch eben weit hinter ihm auf dem Beton zu seinen Füßen gelegen hatten das sich jetzt aber wallend mit ihm erhob und den Blick auf das Bild eines mit Rebensprossen gekrönten Löwenkopfes freigab, der in der Mitte von einem Holzstab durchstochen war. Mit geschlossenen Augen fuhr Schulz dem Himmel entgegen und seine Arme streckten sich langsam, bis er sie schließlich, kurz unter der Decke angelangt, entkräftet fallen ließ und sich ein vielstimmiges Summen erhob, dass zu einem dunklen Grollen anschwoll.

„Ach du Scheiße, Peter. Das ist doch Lydia.“ Svens Stimme verklang in der düsteren Tonalität des Chors der Jünger, doch von einem Moment auf den anderen verstummte der Saal und schuf Platz für ein entsetztes Flüstern. Schulz Augen waren weit aufgerissen und mit zitterndem Arm zeigte er auf Sven. „Du wagst es in meinen Tempel zu kommen und die heilige Ruhe zu stören, wagst es, mich bloßzustellen und diese Stätte der Erleuchtung mit deinem Frevel zu beschmutzen. Wer bist du mich herauszufordern und mich in meinem Haus zu betrügen. Einen Platz der Einsicht mit Geschwafel zu entweihen. Haltet ihn. Fasst ihn und bringt ihn zu mir.“

Einige Männer und Frauen lösten sich aus der Masse und kamen aus allen Richtungen auf Sven zu. Hilfe suchend blickte er sich nach Peter um, doch der stand einige Meter entfernt und nickte ihm nur aufmunternd zu. Mit dem Achseln zuckend ergab sich Sven seinem Schicksal, streckte die Arme aus und ließ sich gleichgültig durch die Menschenmenge führen, die sich, wie durch unsichtbare Hand geleitet, vor ihnen öffnete und eine schmale Gasse bildete. In den Gesichtern der Jünger erkannte Sven die unterschiedlichsten Emotionen, die sich im Widerstreit miteinander befanden und die er nur schwer einordnen konnte. Ein junger Mann sah ihn hasserfüllt und mit zusammengekniffenen Zähnen an, während ihn eine ältere Frau voller Liebe zulächelte. Auf dem kurzen Weg wurde Sven angebellt, bespuckt, gestreichelt und geküsst und als er schließlich direkt vor Schulz stand, meinte er zu erkennen, dass auch Schulz ihn anlächelte, bevor er Sven kurz darauf ins Gesicht schlug.

„Unsere heutige allabendliche Andacht ist bis auf weiteres vertagt. Es tut mir leid. Ich habe keine Worte dafür, wie sehr ich diesen Vorfall bedauere. Es wäre ein ganz besonderer Abend geworden. Kunst und Liebe. Und noch einmal: Es tut mir leid. Man sollte die Demut besitzen sich die eigenen Fehler und die Fehler anderer einzugestehen.“ Bei diesen Worten musterte er den zu seinen Füßen liegenden Sven für alle sichtbar. „Vielleicht ist es die Empathie, die mich anfällig gemacht hat für Sentimentalität, doch ich bereue diese Schwäche und werde auch unseren Neuankömmling hier mit strenger Hand erziehen, wie auch ihr von mir erzogen wurdet. Und nun geht bitte und denkt über meine Worte nach.“

Bedächtig löste sich die Versammlung auf und die noch eben von Liebe und Hass entstellten Gesichter waren von jeglichem Gefühl befreit und fixierten nun wieder einen Bereich außerhalb des äußeren Scheins. Fasziniert beobachtete Sven das Schauspiel während er von einem Mann und einer Frau am Arm gepackt und durch die Gänge geschoben wurde. Er vergaß dabei den Schmerz in seinem Gesicht und das Blut, das nun aufs Neue aus seiner Nase lief. Als er über den alten Schulz nachdachte, fing er an zu lachen und der Anfall steigerte sich in absurde Höhen, bis er nicht mehr gehen konnte und Angst bekam, das dies sein Ende sei. Tod durch Ersticken kurz vor der Exekution durch einen alten Dorfkneiper, der durch Geschick und Leberzirrhose zum diktatorischen Führer einer aufstrebenden Sekte wirtschaftlicher Eliten in einem winzigen Dorf am östlichen Arsch Deutschlands aufgestiegen ist. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt sich Sven seinen Magenund rang verzweifelt nach Luft. Das Blut floß stoßweise auf den Boden und spritzte übermütig auf die Kunstwerke und die Psalmen an den Wänden. Die neben Sven einhergehende Frau sah sich erschrocken um, erkannte den in einem Seitengang stehenden Schulz und wechselte hastig einige Worte mit ihm.
„Sehr gut, sehr gut. Sein Aufstieg hat begonnen.“
„Meister wollen sie sagen, dass dies von Anfang an ihr Plan war?“
In Gedanken versunken stand Schulz vor Ihnen, bis er schließlich lächelnd erwiderte
„Aber natürlich. Bringt ihn sofort auf mein Zimmer.“

Wortlos wurde der immer noch lachende, kreischende und japsende Sven an den Schultern gepackt und vor Schulz‘ Zimmer abgesetzt. Als er die Tür mit hochrotem Kopf öffnete, erwarteten ihn bereits Schulz, Herrmann und Lydia.