III

“Und hier die Nachrichten um halb eins. Dreister Diebstahl: Auf der Baustelle des neuen Piercing- und Tattookomplexes in der Marktstraße wurden über Nacht mehrere hundert Kilogramm Stahl gestohlen. Die Polizei steht bisher vor einem Rätsel, vermutet die Täter aber in Beziehung mit illegalen Altmetall- und Rohstoffverwertungskreisen, die vor allem in Osteuropa Hochkonjunktur haben. Hinweise aus der Bevölkerung werden an das zuständige Polizeikommissariat erbeten.”
Ein zweiter Sprecher mischt sich ein.
“Unglaublich, diese Stahldiebe.”
“Nein, Diebstahl.”
“Ja, sobald die Diebe den Stahl stahlen, begingen sie Diebstahl.”
“Achso, dann macht einen das Stehlen von Stahl also zum Stahldieb.”
“Genau. Der Diebstahl begeht.”
Sven schaltete entnervt das Küchenradio aus. Er bereute die Entscheidung, es überhaupt eingeschaltet zu haben, aber in schwachen Momenten wünschte er sich nichts Anderes als Berieselung, harmloses Gedudel und ein bisschen Lokalkolorit, in der Hoffnung, es möge ihm die Sorgen des bevorstehenden Tages mildern, während er sein spätes Frühstück einnahm. Doch nach wenigen Minuten wurde er meistens furchtbar aggressiv, angesichts debiler Radiomoderatoren, die neben dümmlichen Diskussionen und altbackenen Alliterationen popartige Pissmusik anpriesen, als gäbe es nichts Besseres. Er dachte kurz darüber nach, das Radio einfach aus dem Fenster zu schmeißen, aber brachte es nicht übers Herz, schließlich war es ein Geschenk seiner Mutter zur letzten Weihnacht.

So holte ihn die Eingebung, dass er heute Nachmittag das Gespräch beim Arbeitsamt hatte, zurück auf den Boden der Tatsachen. Wie bereitet man sich auf ein solches Gespräch vor? Nicht, dass es Neuland für ihn wäre, aber das letzte lag schon eine Weile zurück. Zusätzlich die Nervosität, von dieser Lydia empfangen zu werden und die bange Frage, ob es sie überhaupt gibt oder ob er nicht schon komplett verrückt geworden sei. Zimmer 113. Vielleicht ein Code? Sven versuchte angestrengt, mit der Zahl im Kopf zu spielen, aber zu viel mehr, als die Quersumme zu bilden und genauso dumm dazustehen wie vorher, war er nicht imstande. Rote Haare – Satan? Hexe! Zu einfach! Es war wie immer, er kam nicht über kleine, harmlose Gedankenspiele hinaus und verlor sogleich die Lust daran. Es musste daher, wie so oft in seinem Leben, mit der altbewährten Methode klappen, die zu einer Art Lebensphilosophie für ihn geworden ist: ‘Augen zu und durch!’ Nein, zu einfach. ‘Das Glück kommt zu den Wartenden.’ Ja, schon besser. Das ganze Schlamassel ließe sich schon auseinanderklamüsern; davon war er überzeugt. Diese Lebenseinstellung war auch sehr erfolgreich bei der Abwehr störender Gedanken, z. B. bezüglich der Kürzung seiner Leistungen. Ohne das Geld wäre er echt in der Bredouille und er sah seine Mutter ihn schon vom Küchenfenster aus ins Elternhaus zurückwinken. Ach was, dachte er, und vertrieb die Vorstellung mit einer fächernden Handbewegung, als wäre sie eine Dunstwolke. Egal welche Demütigung heute von ihm abverlangt würde, Ein-Euro-Job, Sinnlosfortbildung oder Basteln mit Rentnern, er würde sein Lächeln nicht verlieren, im Gegenteil, er würde dem Teufel ins Gesicht lachen und zu allem Ja sagen. Denn das war seine stärkste Waffe: Andere glauben machen, dass ihm eine bestimmte Sache nichts ausmacht und dann subtil zurückschlagen. So hatte er einmal, während einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in einer Werkstatt, kleine Werkzeuge und -teile peu à peu in die eigene Tasche gesteckt, so viel, wie er für den Eigenbedarf brauchte und so wenig, dass es niemandem auffiel. Wenn er schon schlecht bezahlt würde, dann müsse er sich halt das zusammenklauben, was er verdiene. Das Wort Diebstahl kam ihm dabei gar nicht erst in den Sinn. Dann endete die Maßnahme und er zog mit einem guten Gefühl weiter. Sven grinste, als wäre beim Onanieren die Uhr stehengeblieben. “Oh, Gott, ich muss los!”, keuchte er und stürzte zur Tür hinaus.