Sven blickte müde auf den Laptop-Kalender. Er starrte eine Weile leeren Blickes darauf und plötzlich riss es ihn aus dem Gedankenvakuum. Er war abgeschweift. Erneut versuchte er, sich auf das heutige Datum zu konzentrieren und dann fiel es ihm ein. Er wollte seine Mutter besuchen, mit dem Fahrrad, denn er hatte kein Auto, wozu auch, hier im Dorf, wo alles übersichtlich und fußläufig erreichbar ist; und überhaupt zu teuer.
Es dämmerte schon wieder draußen, obwohl es erst kurz nach 16 Uhr war. “Ach, gestern wurde auf Winterzeit umgestellt”, fiel ihm ein und so machte er sich alsbald auf zu seinem Elternhaus. Die Luft war kühl und der Fahrtwind ließ seine Hände unangenehm kalt werden, aber noch nicht so, dass es schmerzte. Es deutete alles auf einen frühen Wintereinbruch hin, der wohl zur Weihnachtszeit, in der es, seiner Meinung nach, kalt sein sollte, längst wieder abgeklungen sein wird. Kurz darauf erreichte er das Haus und sah seine Mutter in der Küche an der Spüle stehen, die zur Straßenseite gerichtet lag. Sie erwiderte seinen Blick mit einer Art vorbereiteter Vorfreude, die sogleich einer vorwurfsvoll-enttäuschten Grimasse wich, die Sven nur zu gut kannte. Wissend, mit welchen Worten er empfangen würde, öffnete er die Haustür und sah seine Mutter auf ihn zugehen.
“Junge, hast du immer noch kein Licht?”
“Och, Mutter. Das Thema hatten wir doch schon tausendmal. Ich hab gute Augen.”
“Ja, aber andere Leute vielleicht nicht. Und dann liegst du eines Tages unter irgendeinem Auto und denkst an meine Worte.”
“Als ob ich ausgerechnet dann an deine Worte denken würde… Außerdem hab ich das voll im Griff. An Kreuzungen und Seitenstraßen fahr ich langsamer und halte lieber an, wenn ein Auto von der Seite kommt und der Fahrer mir den Blickkontakt verwehrt. Manchmal bremsen die dann abrupt ab, fahren dann ein Stück neben mir her, lassen das Fenster runter und brüllen irgendwas wie: “Kein Licht, du Arschloch!” oder einfach “Licht!”; und ich denk nur: “Seid ihr eigentlich total bescheuert? Muss ich mir von so einem fetten, alten Bonzen sagen lassen, der in seiner Uralt-Mercedes-Drecksschleuder seit Jahrzehnten ungestraft den Planeten verpestet, dass ich Licht an meinem Fahrrad haben soll? Nur weil sich der blöde Spacko beim Bremsen erschrocken hat? Und was soll immer dieses ‘Licht’, ‘Licht’? Sind die Wichser blind? Hätte ich Licht am Fahrrad, würde ich es ja anmachen. Aber ein ordentliches Fahrradlicht ist teuer. Wenn du son Billigding mit kaufst, kannste ja jeden Tag Batterien wechseln und bezahlst dich nachher dumm und dämlich.”
Sven sah die glasigen Augen seiner Mutter und hielt inne. Mit weinerlicher Stimme sagte sie:
“Nun komm doch erstmal in die Stube.”
Svens Mutter brachte Kaffee und Kuchen und beide setzten sich an den Esstisch.
“Wie geht’s dir so, Mutter?”
“Ach, wie soll’s mir schon gehen? Alles gut, Junge. Hast du mittlerweile Arbeit gefunden.”
Sven versuchte mit aller Kraft, seine empörte Standardausrede zu vermeiden, die gewöhnlich bei dieser Frage aus ihm herausbrach. Stattdessen sagte er ruhig: “ Ich muss diese Woche noch zum Arbeitsamt. Vielleicht ergibt sich irgendwas.”
Du weißt, du kannst jederzeit wieder zu mir ziehen. Dann sparst du dir die Miete.”
“Ich weiß, Mutter, danke, aber wir hatten das Thema. Ich möchte alleine wohnen.”
Wortlos nippten beide an ihren Tassen und aßen ihren Kuchen auf.
“Nimm noch einen Lebkuchen, Sven.”
“Wohl eher Stirbkuchen, bei all dem Zucker”, dachte Sven und verfluchte seine Gedanken.
Wozu über den vielen Zucker meckern, der überall drin ist, wozu seine Mutter damit behelligen, warum überhaupt mir ihr reden, sie versteht ja doch nichts. Dieses kleinbürgerliche Leben, Selbstgefälligkeit. Darin sind sie und das Dorf versunken und daran wird hier einmal alles zugrunde gehen. Internet als Ausweg und gleichzeitig Tor zur Hölle. Wäre dieses Tor nur verschlossen geblieben oder an mir vorbeigegangen. Ich wünschte meine Geburt in einer anderen… ach, was soll’s.
“Hast du von der Sache im Schmiedehammer gehört? Der Barkeeper soll doch verstorben sein.”
Sven sprang von seinem Stuhl auf. “Keine Ahnung. Ich muss dann auch mal wieder. Bis nächste Woche. Und danke für den Kuchen.”
Sven schwang sich auf sein Fahrrad und radelte schnurstracks davon. Seine Augen wurden feucht, sei es durch den Fahrtwind oder die Gedanken an vorgestern Nacht. Er fuhr mitten auf der Straße, um die Autofahrer oder irgendjemanden zu provozieren, sodass man ihn anbrüllen möge und er zurückschreien könne, rausschreien, was schon viel zu lange in ihm rumorte, aber niemand tat ihm den Gefallen, böse auf ihn zu sein.
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