VIII

Als Sven fluchtartig die Disco verlassen hatte, wieder und wieder über unsinnig den Weg versperrende Beine gestolpert, gefallen und wieder aufgesprungen war, hatte Peter stolz und triumphierend auf seinem Barhocker gesessen. Er hatte das absurde Schauspiel, das sich vor seinen Augen entfaltet hatte aus nächster Nähe verfolgt. Von seiner Loge aus hatte er innerlich dem Sieg der Romantik über die Schwärze der Apathie und Teilnahmslosigkeit applaudiert. An einem undenkbaren Ort zu einer undenkbaren Zeit hatte ein betrunkener Casanova der Rationalität und Stumpfsinnigkeit der Welt, schwankend den Krieg erklärt. Taumelnd hatte er sich einer debil grinsenden Ophelia genähert, ihr tief in die vom Alkohol glasigen Augen geschaut, ihr samten rotes Haar beiseite gestrichen und unbekannte Worte gegen den Bass und die Logik angeflüstert. Es folgte ein langer Blick. Verständnislos, abschätzig, verächtlich und schließlich hingebungsvoll. Ein Kuss und die alternativlose Flucht. Für einen Moment hatte Peter überlegt, ob er seinem Freund folgen sollte, doch in den Augen der Ophelia meinte er durch den Rauch seiner Zigarette den ersten Hauch des Wahnsinns zu erkennen und instinktiv hatte er gefühlt, dass diese Bühne keiner weiteren Mimen bedurfte und jede Unachtsamkeit den zarten Keim der Tollheit zerstören konnte, der in diesem Moment und in diesem Dorf zu keimen begann. Peter hatte stumm vor sich hingekichert und sich triumphierend ein weiteres Bier und einen weiteren Kurzen bestellt. Tief hatte er den Rauch seiner Zigarette eingesogen und ihn schließlich, als sich langsam verblassende Ringe in Richtung Paradies geblasen. Eine ganze Weile hatte er schweigend da gesessen und glücklich die letzten Züge seiner Zigarette und die letzten Züge der Nacht genossen. Dann war er aufgestanden, hatte sich geräuspert und sich schweigend einen Weg durch die tanzenden Menschen und in die Mitte des Raumes gekämpft. Unterschwellig lallend aber mit der Zeit immer sicherer werdend, hatte er begonnen zu sprechen:

„Die Pest tritt in die niedren Türen ein.
Vorm Kruzifix zergeißelt sich das Fleisch,
Blut netzt des neuen Gottes bleichen Fuß.

Kehr wieder, Gott. Kehr wieder aus dem Reich
Des grünen Waldes. Denn erfüllt ist nun
Des neuen Gottes kummervolles Reich.

Sie passen in die Königskleider nicht,
Die Zwerge, die wie kleine Affen hocken
Im Götterpurpur auf der Blitze Thron.

Kehr wieder Gott, dem Pentheus einst erlag.
Du Gott der Feste und der Jugendzeit.
Kehr wieder aus des Waldes grünem Reich.

Kehr wieder, Gott. Erlösung, rufen wir.
Erlöse uns vom Kreuz und Marterpfahl.
Tritt aus dem Walde. Finde uns bereit.

Wir wolln dir wieder Tempel bauen, Herr.
Wir wollen Feuer an die Kirchen legen,
Vergessen sei des Lebens ‚Traurigkeit.

Wir flehn zu dir in mancher stillen Nacht.
Wir sehen hoffend zu den Sternen auf.
Tritt aus den Sternen. Hör das Rufen, Herr.

Georg Heym“

Die Musik hatte einige Passagen übertönt und doch hatte sich die Menge schließlich zu ihm gedreht und ihn fassungslos angeschaut. Viele der ihn Umstehenden hatten nur ein monotones Rauschen in den Ohren, dass die Musik mit Peters vor Anspannung zitternder Stimme verschmelzen ließ. Und auch wenn niemand seine Worte verstanden hatte oder verstehen wollte, so war sich Peter doch der Bedeutung seiner Rede bewusst gewesen. Es war der Epilog einer langen Nacht.

Nachdem er sich verbeugte hatte, war er langsam und mit erhobenen Armen zu seinem Barhocker gegangen und hatte in genussvollen Zügen sein Bier geleert. Die Musik war verstummt und der Raum hatte ihn, wie ein tiefer Schlund schwarz und leer und verängstigend angestarrt. Für einen Moment hatte er die Augen geschlossen und die Stille genossen. Als er sie nach kurzer Zeit wieder geöffnet hatte, waren die Türsteher zusammengekommen, hatten sich versammelt um dem Wahnsinnigen zu überwältigen. Doch sie waren unschlüssig. Und so hatten sich plötzlich drei wütend blickende Jungen vor ihm aufgerichtet. Ihre Gesichter waren von Wut und Angst verzerrt und Peter hatte einen Moment lang nicht gewusst, ob sie ihn anlachten. Einer der drei hatte ihn angerempelt und ihm gegen die Schulter geschlagen.

„Du bist doch der Penner, der mit diesem dummen Wichser hier war, der meine Freundin angebaggert hat. Ihr Arschlöcher. Und dann so ne beschissene Aktion hier. Ihr Dreckstypen. Du fetter Wichser. Bis du Terrorist? Ich mach dich fertig du Wichser!“

Peter hatte ihn aus müden Augen angeschaut und seine Flüche ignoriert. Dann hatte er ruhig gesagt: „Mein junger Freund. Der Wahnsinn naht. Schau in die Augen deiner Freundin und du weißt, dass sie verloren ist. Wenn die schwitzenden Affen in deiner Badewanne sitzen, wirst du alles begreifen.“

Dann hatte er ihm mit der Faust ins Gesicht geschlagen, und war losgelaufen, auf der Flucht und auf der Suche nach seinem heroischen Freund.