VII

Mo las den Brief bereits zum dritten Mal. Er war vom Arbeitsamt.

“Sehr geehrter Herr Kieslowski,

da Sie zum wiederholten Mal Ihrer Meldepflicht beim Jobcenter nicht nachgekommen sind, sehen wir uns gezwungen, Ihr Arbeitslosengeld II mit sofortiger Wirkung um weitere 30% des Regelsatzes zu reduzieren.

Wir machen Sie weiterhin darauf aufmerksam, dass bei einem weiteren Verstoß gegen die Meldepflicht Ihr Anspruch auf Sozialhilfe komplett entfällt. Wir fragen Sie: Ja, wollen Sie das etwa?

Bitte beachten Sie zum Thema Meldepflicht folgende Vorschriften:

– Sämtliche Tätigkeiten, die einen monetären Vorteil für Sie nach sich ziehen, haben Sie umgehend dem zuständigen Jobcenter mitzuteilen und detailliert aufzuzeigen.

– Ohne Moos nichts los! Für Sie bedeutet das: Sie gehen nicht über Los und bekommen daher auch kein Moos.

– Sollten Sie unerwartet Stuhlgang antizipieren, haben Sie auch dies unverzüglich dem Jobcenter mitzuteilen. Kleinere Geschäfte können mit einer Vorschussfrist von 15 Minuten, größere Geschäfte mit einer Frist von 30 Minuten angemeldet werden, um Ihre ständige Erreichbarkeit zu gewährleisten. Eine Nachmeldung ist nur möglich, wenn Sie Ihrem Jobcenter binnen 12 Stunden eine entsprechende Stuhlprobe zukommen lassen, aus der eine offensichtliche Dringlichkeit Ihres keramischen Anliegens hervorgeht.

Bei Missachtung eines oder mehrerer der oben genannten Punkte werden, wie bereits erwähnt, Ihre Sozialleistungen gestrichen. Wir fragen Sie daher nochmal: Wollen Sie das?

Mit freundlichen Grüßen

“…deine Mudda!”, stieß Mo keifend aus, sich ungläubig die Augen reibend. Was für ein beschissener Morgen, dachte er und konnte in Gedanken einige Paragrafen des Briefes überhaupt nicht fassen, geschweige denn verarbeiten. “Wollen Sie das?”, äffte er in spöttischem Ton den Wortlaut des Textes nach. “Ja, klar will ich das, du dumme Fotze. Boah ey, und scheiß kalt in der Butze hier.”

Er goss heißes Wasser in eine Tasse mit löslichem Kaffee und schlurfte zum Wohnzimmer. Ungelenk ließ er sich in seinen Fernsehsessel fallen und verkippte etwas Kaffee über seinen Pullover. “Heiß, verdammte Scheiße!”, grummelte er und schaltete den Fernseher ein.

“Wie sieht die Welt in hundert Jahren aus?”, sagte ein Sprecher. “Wir haben mit versch…” Mo schaltete wieder ab. “Wie die Zukunft aussieht, willst du wissen? Das kann ich dir sagen.“ Und er begann, das längste Selbstgespräch seines Lebens zu führen:

„Wenn die Atombomben fallen, wird nichts übrig bleiben. Nichts, außer Kakerlaken und Tauben. Und die Tauben werden so groß werden wie eine Boing 737 und die Kakerlaken so groß wie Leopard-II-Panzer. Und die Tauben werden auf die Erde scheißen. Enorme Batzen, ätzend wie Säure und beim Aufprall so erschütternd wie Erdbeben. Und die Kakerlaken werden sich unter ihren pechschwarzen Panzern verkriechen, perfekt getarnt auf verbranntem Boden. Und sie werden in Scharen über die Taube herfallen, die es wagt, am Boden nach einer einzelnen Kakerlake zu picken. Bis zur absoluten Vernichtung allen Lebens auf der Oberfläche des Planeten Erde wird dieser Kampf geführt werden. Und danach wird sich der Planet ein paar hunderttausend Jahre Verschnaufpause gönnen. Und dann werden wieder hässliche Plattfüßer aus dem Wasser steigen. Und dann werden wieder Affen auf Bäume klettern. Und dann werden Affen wieder vom Baum steigen. Und dann werden sich die abgestiegenen Affen wieder Anzüge anziehen und geschwollenen Scheißdreck labern. Und dann haben wir wieder den Salat.“