IV

„Was meinst du eigentlich damit: „Vielleicht sollte ich ihn suchen?“, sagte Peter lachend. „Und wenn du ihn findest, machst du was? Nett fragen, ob du ihn schlagen darfst, oder ob er dir noch eine reinhaut? Für Schlägereien sind wir doch gar nicht die Typen. Stell dir doch mal vor, wie das aussehen würde, wenn wir zum Schlag ausholen. Bestenfalls würden wir günstig stolpern, dem Gegenangriff so ausweichen und uns den Schädel beim ungebremsten Fall gegen die Wand nur anbrechen. Vielleicht hätte die Menge dann ein Einsehen und würde sich angeekelt oder gar belustigt abwenden.“

„Oder sie treten mich blutig und pissen mich an.“, sagte Sven verbittert. Der Schlag hatte ihn nicht allzu hart getroffen und die Wange schmerzte nur unmerklich, doch irgendetwas war ihm bewusst geworden, als er auf dem Toilettenboden aufschlug und für einige Minuten mehr resigniert als gekränkt liegen geblieben war. Es war offensichtlich und unbenennbar und stand entweder direkt mit seinem Leben oder dem Leben an sich in Verbindung. Sven wusste es nicht und wollte nicht darüber reden. Lose Fäden wurden von seinem Verstand nach allen Seiten ausgeworfen und auch wenn sie zum Zeitpunkt ihrer Schöpfung ein Ziel hatten, fielen sie jetzt bedeutungslos und umso schwerer zu Boden. Sven kniff die Augen zusammen und hoffte, dass durch die verengte Perspektive alles Unnütze an seinen Augenlidern abprallen möge und nur die Erkenntnis bliebe und seinen Verstand erreiche. Sven sah sich als fadenlose Marionette, die das Laufen gelernt hat aber nicht sehen kann.

„Nana, jetzt mal nicht so pessimistisch!“, warf Peter gut gelaunt ein. „Und warum guckst du eigentlich so bescheuert? Sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?“

Sven saß mit zusammengekniffenen Augen neben Peter. Ein rotes Licht ruhte auf seinem Gesicht, seine Arme bewegten sich ruckartig und ungelenkig. Die Musik war für einen Moment verstummt, doch Sven vollzog weiter mit größtem Ernst einen stummen Tanz. Wie einer dieser japanischen Roboterhunde, musste Peter unwillkürlich denken. Oder ein Schamane. Entweder er hat jetzt etwas Wichtiges erkannt oder er erkennt gar nichts mehr. Unterwerfung oder Erlösung. In ersterem Fall würde ich ihn angewidert streicheln, überlegte Peter. In zweitem, in den Tanz einstimmen. Plötzlich fielen Peter ein Gemälde und die Zeilen eines Gedichtes ein. Auf dem Bild waren in abwechselnder Reihenfolge Menschen und Skelette zu sehen, die sich an den Armen und Händen hielten und vor einer idyllischen mittelalterlichen Landschaft einen bewegungslosen Tanz vollführten. Betrachtet man das Bild von links nach rechts, sind die Bewegungen auch irgendwie abgehackt, dachte Peter. Ein gemalter Film. Ist das Svens Totentanz? Peter wusste es nicht und als Sven sein Bier für eine ganze Zeitlang nicht anrührte und nur immer weiter tanzte, begann Peter schließlich auch zuckend auf seinem Barhocker zu tanzen.

Das Leben ist wie die Lampe, die auch schon anfängt auszubrennen, wenn sie angezündet wird! So alt wie jeder von euch ist, so viele Jahre habe ich schon mit euch getanzt. Jeder hat seine eigenen Touren, und der eine hält den Tanz länger aus als der andere. Aber die Lichter verlöschen zur Morgenstunde, und dann sinkt ihr alle müde in meine Arme.“

Das Klassenzimmer ist still. Niemand traut sich zu lachen, doch in den Augen der Kinder und Erwachsenen glitzert der Spott. Genüsslich und verächtlich. Direkt neben Mo steht Karl als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener, als Greis. Als Mo ihn für längere Zeit ansieht, erkennt er, das es eigentlich sein eigenes Gesicht ist, in das er da blickt. Mo als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener, als Greis. Das Gesicht jedoch ist immer das Gleiche. Jeden Tag blickt es ihn mitleidig aus dem Spiegel an. Mo schaut in seine eigenen Gesichter und in seinen Augen glitzert der Spott. Genüsslich und verächtlich. Er steht im Klassenzimmer, der Boden unter seinen Füßen ist nass. Seine Mutter hält einen Zeigestock in der Hand, an dessen Spitze ein Licht erscheint, das Mo anstrahlt. Sie geht auf Mo zu und das Licht wird immer heller und blendender und ist gelb und blau und rot und hüllt schließlich seinen ganzen Körper ein, der pulsiert und aus dem eine blendende Flüssigkeit läuft. Mo versucht vor sich selbst zu entkommen, doch schließlich ist da nur noch blendendes rotes Licht.

Als er schließlich erwachte saß Mo noch immer auf der Toilette. Der Boden vor dem Klo war nass und fluchend machte er sich daran seine Pisse aufzuwischen. Der Raum stank und er war müde, seine Beine schmerzten. Schließlich schleppte er sich deprimiert in die Küche und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Vor ihm auf dem Tisch lag der Brief. „Was solls?“ dachte sich Mo und öffnete den Umschlag.