III

Mo schreckte aus seinem Schlaf auf. Seine gesamte linke Seite zuckte, aber er war innerlich gefasst. Er hatte einen seltsamen Traum und versuchte sich zu erinnern:
Es war am Ende seiner Schulzeit. Er stand kurz vor den Prüfungen für sein Fachabitur und feierte mit seinen Mitschülern den letzten Schultag. Alle waren ausgelassen, fröhlich und voller Tatendrang. Nur Mo fühlte sich an diesem Tag unwohl, es war, als stünde er vor einem Abgrund; in ihm herrschte tiefe Leere.
“Was ist los, Mo?”, fragte sein bester Freund Karl. “Du bist so still. Lass ordentlich Party machen heute.” Mo schluckte laut hörbar und ging zu den anderen.
Dann Szenenwechsel:
Ein paar Jahre zuvor im Klassenzimmer, gefühlte Zukunft, die Lehrerin war seine Mutter, die Klasse ein Wirrwarr aus tatsächlichen Mitschülern und undefinierbaren Personen, die irgendwann, irgendwo Einzug in sein Leben hielten. “So, wer kann mir sagen…”, sprach die Lehrerin, also seine Mutter, “…was Leben ist?” Alle Hände schnellten hoch, außer Mos, der eingeschüchtert die Hand leicht anhob, um nicht aufzufallen. “Ja, Moritz?” Mo räusperte sich und kalter Schweiß breitete sich auf seiner Stirn aus. Gelächter.
Szenenwechsel:
Ein verschmolzenes Raum-Zeit-Geflecht schulbezogener Personen und Klassenzimmer. Alle scheinen das gleiche Buch zu lesen. Mo sucht in seinem Rucksack nach dem Buch, kann es aber nicht finden. Vorsichtig wendet er sich zu der Person am Nebentisch, in der er Karl zu identifizieren glaubt und flüstert: “Hey, was liest du da?” Eine Reaktion bleibt aus.

Da war es wieder, dachte Mo, als sein Erinnerungsvermögen abbrach und sich seine Gedanken im Strudel wiederkehrender Eindrücke verloren. Das Gefühl, dass irgendwas vor ihm verwahrt blieb, sein Leben lang, was allen anderen anvertraut war, so eine Art Buch des Lebens, ein Regelwerk zur Anleitung für das Leben, woran sich alle halten, wie selbstverständlich, ohne Rückfragen, ganz einfach, weil es einem von Kindheit an beratschlagend zur Seite steht, quasi wie Muttermilch aufgesaugt wird, fast ein Naturprinzip in Buchform, ein Gott auf Papier.
Hatte Gott ihn vergessen? Oder gar verbannt? Warum waren die anderen so zielstrebig und lebensbejahend, während bei ihm immer mehr Zweifel aufkamen? War er nur ein erbarmungswürdiger Pessimist oder ein notorischer Schwarzmaler, der nach Ausreden für sein eigenes Unvermögen suchte? Welches Unvermögen eigentlich? Er war doch hier, zwischen all den anderen, kurz vor seinem Schulabschluss, eine Ausbildung vor Augen, seinen bisher kaum von der Norm abweichenden Weg in der Gesellschaft absolviert. Doch wer bestimmt eigentlich diese Norm?

Mo raffte sich vom Bett hoch und ging ins Badezimmer, wo ein heftiger Schmerz sein rechtes Bein durchfuhr. Nicht auch noch das rechte, dachte er und setzte sich unüblicherweise beim Pinkeln hin.

„Wenn dich einer auf die linke Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“, versuchte Peter Sven zu ermuntern, der leicht benommen wieder auf dem Barhocker Platz nahm. “Hast du echt nichts gesehen?”, fragte Sven. Peter schüttelte den Kopf.
“Und der hat dich einfach so…, aus heiterem Himmel?”
“Ja, voll auf die Mütze, hab’s nicht kommen sehen und auf einmal lag ich da, mitten auf dem Kloflur.” Sven deutete auf seine rechte Wange, die ziemlich gerötet war.
“Heftig! Und ich Volltrottel hab’s nicht bemerkt. ‘Ne richtige Schlägerei!”
“Keine Schlägerei. Eine Faust von der Seite, ohne Ankündigung. Das ist Betrug, feige und hinterhältig.”
“Darauf zwei Kurze! Warte, ich bestell’ eben.”
“Alter, ich find das grad nicht so witzig. Vielleicht sollte ich den Wichser suchen…”
“Oder die Wichserin.”, ergänzte Peter höhnisch grinsend. “Vielleicht war es ja die geheimnisvolle Rothaarige…”
Sven seufzte. “Verdammte Scheiße, warum passiert das ausgerechnet mir? Ich bin wahrlich nicht der Typ für sowas.”
“Kopf hoch, Großer!”, sagte Peter plötzlich ernst und Sven überlegte angestrengt, wann Peter ihn jemals ‘Großer’ genannt hat.
“Nich’ lang schnacken, Kopp in Nacken!”, willigte Sven schließlich erschöpft ein und ergab sich damit seinem Schicksal.