IX

Alles sah aus wie immer, nicht besonders ordentlich oder sauber aber immerhin. Auf dem Boden im Flur lag noch die Jacke, die er vorhin, als er sich gehetzt und übereilt auf den Weg zu Peter machte, runter geschmissen hatte. Eigentlich gab es keinen Grund dazu da es völlig egal war ob und wann er Peter besuchte aber doch hatte er immer das Gefühl zu spät zu sein. Meist saß er untätig und abwesend in seiner Wohnung, hing verworrenen Tagträumen nach und tat nichts Bestimmtes. Doch wenn es dann schließlich soweit war, dass er zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort sein sollte, kam er zu spät. Die Zeit die auf diese Weise verging, wog doppelt so schwer in seinen Gedanken. Er wusste, sie war verloren und sagte sich, dass die Zeit für das meiste im Leben sowieso nicht genügte. Und so fühlte er sich ständig gehetzt und gejagt weil die Zeit nicht reichte und dieser Mangel dazu führte, dass er erst gar nichts anfing und sich nur immer einredete, etwas anfangen zu müssen. Dieses etwas war nebulös und hing wie Rauch über ihm und er fragte sich, ob er es eines Tages wohl erkennen könnte.

Als er in die Küche kam, war auch hier das Licht eingeschaltet und er konnte sich nicht erinnern, die Wände und den Küchentisch, das Waschbecken und die auf dem Boden verstreuten Krümel je in der kühlen Klarheit dieses künstlichen Lichts gesehen zu haben. Doch auch hier schien alles unverändert und normal. Die ungewaschenen Teller, die leicht schief hängenden Fotos, die nicht ganz frischen Geschirrtücher. Erleichtert aber immer noch verwirrt betrat er das Wohnzimmer, dass zu seinem Erstaunen völlig dunkel war. Dunkel und still. Er schaltete das Licht ein und sah die Frau aus dem Arbeitsamt, die nur in Unterwäsche bekleidet auf seiner Couch saß und wusste nicht, was er sagen oder denken konnte. Sie saß da mit roten Haaren und geschlossenen Augen. Die Tattoos zogen sich ihre Arme hinauf, bedeckten den Teil ihrer Brüste, den er sehen konnte und ließen nur eine winzige, völlig weiße Stelle auf ihrem Bauch unbedeckt. Sven stand da und wusste nicht so recht, wie er mit der Situation umgehen konnte. Unbeholfen ging er im Kreis, musterte sie eingehend und brach schließlich in Gelächter aus. Er hatte eine Schwäche für Absurditäten und unsinnige Situationen und in diesem Moment hatte er das Gefühl, dass nicht nur eine halbnackte, attraktive und unbekannte Frau auf seiner Couch saß und in einer seltsam steifen Haltung schlief, sondern dass sich hier das Leben vor ihm offenbarte. So stand er lachend in seinem Wohnzimmer und wusste nicht, was er sonst tun konnte. Schließlich öffnete die Frau ihre Augen, stand auf und lächelte ihn an.

„Hey, schön, dass du endlich da bist, ich dachte du kommst gar nicht mehr.“
„Ach…“ erwiderte Sven.
„Sag nicht, dass du mich vergessen hast“, die Frau vollführte einen kleinen Tanz, sodass Sven sie von allen Seiten mustern konnte. Ihre Brüste sprangen auf und ab.
„Ach…“ wiederholte Sven und spürte, wie die Wut die er gestern oder in seinem Traum auf die Frau verspürt hatte, wieder in ihm hochstieg. Er hasste sie und hasste es, dass er sich nicht besser artikulieren konnte. Dass er alles mögliche dachte aber nichts davon klar ausdrücken konnte. Erst recht nicht in einer Situation wie dieser. Die Frau kam auf ihn zu, drückte sich an ihn und küsste ihn auf die Wange. Als Sven nach unten schaute, sah er nichts als ihr Dekolleté und merkte, dass er einen Ständer hatte.
„Du hast mich also nicht vergessen.“, sagte die Frau, lächelte wieder und drückte sich fester an ihn.
Sven wusste, dass es an der Zeit war etwas zu tun oder zu sagen. Nach einiger Zeit öffnete er ihren BH und legte seine linke Hand auf ihre rechte Brust. Das Weiß ihrer Haut schimmerte durch das grün-rote Muster des Tattoos. Ihre Brüste waren bunt und kalt. Die Kälte erinnerte Sven an das Bier in seinem Kühlschrank, sodass er die Frau schließlich sanft beiseite schob, und sich ein Bier aus der Küche holte. Mit Bedauern dachte er daran, dass es nun wohl zu spät war, sie zu fragen, warum sie tagsüber im Arbeitsamt arbeitete und Nachts im BH auf seinem Sofa saß. Konnte er sie jetzt noch nach ihrem Namen fragen? Sven musste Zeit gewinnen und die Lage konkret analysieren. Er ging zur Balkontür, öffnete sie und zündete sich eine Zigarette an. Die Frau erschien als Spiegelung in der Glasscheibe der Tür. Oder besser gesagt nicht als Spiegelung in der Tür, sondern als Spiegelung in der Nacht, korrigierte sich Sven. Eine halbtransparente unbekannte Person, die jetzt etwas unsicher in der kühlen Nachtluft vor meiner Wohnung schwebt. Obwohl sie eher steht, dachte Sven. Schweben hat immer etwas leichtes aber die Frau steht einfach da wie angewurzelt. Und das ist albern, denn niemand der halb durchsichtig in der Luft steht, ist angewurzelt. Als Sven einen Schritt zur Seite ging, immer noch aus dem Fenster starrend, bemerkte er dass nicht nur eine Frau vor seinem Fenster stand. Die Umrisse der Frau überlagerten sich und ließen ein unklares trübes Bild zurück. Die verschwommene Idee einer Frau vor seinem Fenster, die schließlich verschwand als er den Kopf bewegte und sie sich mit dem Fenster auf der anderen Straßenseite überlagerte.

Sven wusste, wie seltsam die Situation war und er wusste auch um das Unsinnige seiner Reaktion. Eine unbekannte nackte Frau in seiner Wohnung und er, der sich eine Bier holte, eine Kippe ansteckte und aus dem Fenster starrte. Erst jetzt bemerkte er, dass die Frau, sich wieder gesetzt hatte und ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und Ärger anschaute. Wieder musste er lachen.

„Sag mal, glaubst du das Menschen die das gleiche Alter haben, unterschiedlich alt sein können?“, fragte er. „Also zum Beispiel ein 80-jähriger, der vielleicht nur 30 ist und dann ein 80-jähriger der schon 150 ist? Ich meine, man sagt doch, dass Menschen die Zeit unterschiedlich wahrnehmen und die Zeit generell subjektiv ist. Wenn die Zeit also für einen Menschen schneller vergeht als für einen anderen, denkst du dann nicht auch, dass er älter ist, als ein Mensch der im gleichen Jahr geboren ist, für den aber die Zeit viel langsamer vergeht. Als ich neulich mit dem Bus in die Stadt gefahren bin, hatte ich alle möglichen Gedanken und hab alles um mich herum vergessen. Und dann war ich auch schon da. Aber auf dem Rückweg da hab ich mich ganz genau auf die Straße konzentriert, auf die Gärten am Straßenrand, die Felder und auch auf die Leute, die im Bus neben mir saßen und die ein- und ausgestiegen sind. Der Weg kam mir unglaublich lang vor. Weil ich so konzentriert war, hab ich dann auch meine Haltestelle verpasst und es erst bemerkt, als ich schon viel zu weit gefahren bin aber trotzdem glaube ich, dass auch wenn ich am richtigen Punkt ausgestiegen wäre, viel mehr Zeit vergangen ist.“

Die Frau schwieg erst, fing dann aber an zu lachen. „Du bist seltsam.“, sagte sie, stand auf und ging auf Sven zu. „Deshalb mag ich dich.“
Sven der noch immer aus dem Fenster schaute, jetzt aber nichts bestimmtes mehr sah, ärgerte sich über das schrille Lachen und die Vertrautheit der Frau.

„Was soll denn das, was gibt es denn da zu lachen?“, wollte Sven, der nun sehr wütend war, wissen. „Wenn man nicht über die Zeit nachdenkt, worüber denn dann? Das muss man doch ernst nehmen, auch wenn es keinen Sinn macht. In gewisser Weise endet doch die Zeit mit dem Tod und wenn man nicht den ganzen Tag über den Tod nachdenken will, dann doch wohl über die Zeit. Als Kind habe ich manchmal daran gedacht, wie es wohl ist Tod zu sein. Und dann sah ich Skelette und Schwärze aber irgendwann wurde mir bewusst, dass dieses Bild völliger Quatsch ist. Schließlich hört man einfach auf zu sein. Als ich mir dann versucht habe vorzustellen, wie es ist nicht mehr zu sein, habe ich unfassbare Angst bekommen. So etwas wie die totale Angst. Die Urangst. Ich mag es zu sein, und wenn ich nicht mehr bin, hört dann doch alles auf und nichts ist mehr. Für immer. Für immer nicht sein, das macht mir heute noch Angst aber wenn ich den Gedanken einmal hatte, dann ist er weg und die Angst kommt nicht wieder weil ich es mir einfach nicht mehr vorstellen kann. Es ist als ob mein Gehirn diesen Gedanken blockiert weil er mich wahnsinnig machen würde. Für immer nicht sein, das heißt doch ewige Schwärze. Manchmal habe ich Angst vor der Dunkelheit.“ Sven saß mittlerweile auf dem Boden und hatte sich eine neue Zigarette angesteckt. Die Frau kam näher und setzte sich zu ihm. Sie strich ihm durchs Haar und sagte: „Wenn man nicht mehr ist, dann hat man doch auch keine Gedanken mehr. Dann siehst du nichts von der Leere und Dunkelheit und weißt nicht, dass du einmal warst. Ich habe Angst vor dem Schmerz. Körperlicher Schmerz. Der ist immer real.“
Sven wusste nicht warum aber irgendwie fühlte er sich erleichtert. Er sah der Frau in die Augen. Dadurch, dass sie ihm nun so nah war, konnte er sie nicht klar erkennen. Sie war verschwommen. Er küsste sie und schob seine Hand zwischen ihre Beine. Ihre Schenkel waren kalt, wie ihre Brüste und das Bier im Kühlschrank. Als Sven am Morgen aufwachte, war er ganz allein.