V

“Zeig mal her!”, sagte Peter und riss Sven das Buch aus der Hand.
31.10. Gebrauchsanweisung zum Schreiben eines Bestsellers.
Schritt 1: Bringen Sie möglichst viele Anspielungen zur griechischen Mythologie ein.
Schritt 2: Verwenden Sie Fremdsprachen, am besten Französisch.
Schritt 3: Vermeiden Sie…
“Bullshit!”, unterbrach Sven. Das denkst du dir doch gerade aus, du Hund! Nicht schon wieder diese Buchscheiße! Gib her!“
Also, 31.10. Gestern kamen doch tatsächlich diese verkleideten Bratzen hierher und kommen mir mit ‘Süßes oder Saures’. Unmotivierter und klischeehafter geht es nicht. Hätte ihnen gerne beides in Form von Schlägen gegeben, aber der Anstand, ja dieser verdammte Anstand… Habe stattdessen ein paar alte Dauerlutscher aus der hintersten Küchenschublade gekramt. Sollen sie sich doch daran die Zähne ausbeißen.
„Mo, unser Kinderfreund! Peter lachte lautstark und das Echo vibrierte im leeren Raum.
3.11. Vermeiden Sie unbedingt genaue Zeitangaben, z. B. die Abfolge von Daten.
Sven sah auf zu Peter, dieser lächelte nach kurzem Schweigen anerkennend zurück.
„Chapeau, mein Freund. Ein erster wichtiger Schritt deiner Besserung auf dem Weg zur Erkenntnis.“
„Jaja!“, sagte Sven und fuhr fort. „Aber das war’s. Die letzte Seite scheint zu fehlen, wurde rausgerissen.“
„Hmm, vielleicht der komische Zettel, den Hannes dabeihatte?“
„Hmm, gut möglich…“
„Und keine Adressen in dem Buch?“
„Warte, ich schaue weiter vorne. Boah, Mo hat echt viel geschrieben. Hier, ganz vorne ist ein Kapitel Stammgäste. Aber hier steht nur ganz wenig, die meisten Namen kenn ich gar nicht. Wer ist Werner?“
„Wahrscheinlich son Skatrentner.“, sagte Peter.
„Und Martin, Horst, Dieter?“
„Auch, denk ich mal.“
„Kein Wort von uns oder Hannes!“ Verzweifelt warf Sven das Buch in eine Ecke. „Das darf doch nicht wahr sein.“ Sven schluchzte jämmerlich.
„Ich hab eine Idee!“, frohlockte Peter.
„Bitte nicht!“
„Doch, das wird dir gefallen! Wir spielen ein Spiel. Wir gehen jetzt zum Bäcker und du bestellst Brötchen. Doch anstelle von Brötchen sagst du jedesmal Fotze, z. B.: Hallo, ich hätte gerne vier Fotzen. Ja, welche sollen’s denn sein? Eine Mehrkornfotze, zwei Käsefotzen, eine Kürbiskernfotze und zwei normale Fotzen. Aber das sind doch sechs. Und dann laufen wir schnell raus.“
Sven starrte regungslos zu Boden.
„Oder, noch besser, wir gehen ins Restaurant. Herr Ober, in meiner Suppe ist eine Fotze. Hat die Fotze denn gemundet? Ganz vorzüglich, danke. Darf ich Ihnen noch eine Fotze zum Nachtisch bringen? Gern, zwei bitte.“
Peter sah zu dem in sich gekauerten Sven herunter, trank sein Bier aus und sagte: „Hast ja recht; ist eher unwahrscheinlich, dass der Kellner da mitspielt.“
„Ich will nach Hause.“, wimmerte Sven.
Nachdem Peter sich noch einen großzügigen Schluck Bier gezapft hatte und diesen gekonnt exte, verkündetet er großmütig: „Ja, lass uns nach Hause gehen. War ein anstrengender Tag.“

Am nächsten Morgen riss Peter die Augen wie besessen auf und hievte sich aus Svens Badewanne. Seine Knochen ächzten, die Keramik knarzte, aber er musste Sven etwas extrem Wichtiges mitteilen. Er stürmte ins Wohnzimmer, wo dieser, noch immer völlig leblos, einfach rumstand und die Raufasertapete streichelte.
„Sven, ich weiß vielleicht, wo wir Antworten auf unsere Fragen erhalten. Ich habe erst kürzlich von jemandem gehört, der von sich behauptet, dass die Welt nur wegen seiner Existenz noch nicht komplett aus den Fugen geraten sei. Ein echter Guru, zu dem die Leute geradezu hinströmen. Mensch, Sven, das wird uns guttun, wenn wir hier mal rauskommen. Ne, Sven, ne!“

IV

„„Jetzt aber halt.“, Svens Ruf verhallte ungehört und Hannes verschwand im nahe gelegenen Wald. Es war nur ein kurzer Moment des Schreckens, der Überraschung und sich verwehrender Erkenntnis, der unsere Helden nur wenige Sekunden zögern ließ, doch nachdem sie aus ihrer, im Falle Svens entsetzten, im Falle Peters belustigten, Erstarrung erwachten, und Hannes hinterher stürzten, mussten sie feststellen, dass er im dunklen Waldschatten des Spätherbstes verschwunden war. Aufgelöst im Dickicht.
„Der Erlösung versagt.“, Peter Stimme war ein erschöpftes Stöhnen und doch mischte sie sich mit einem anschwellendem Lachen. „Der Wicht.“

Sven der weitergelaufen war, als sich Peter schon keuchend auf seine Knie gestemmt hatte, kam nun langsam den Weg zurück, Ausschau haltend nach ungesehenen Abdrücken des designierten Toten. „Nichts. Nur eine dünne Spur aus Erbrochenem und Blut. Und dann nichts. Verschwunden. Ich versteh das nicht. Ich versteh das alles nicht mehr.“ Sven ließ sich auf den Boden fallen und blickte resigniert in das dichte Blattwerk der Bäume. Es erinnerte ihn an schwarze Krähen und schwarze Papageien, die bis in alle Ewigkeit ziellos durch einen taghellen Nachthimmel flogen und ihm für alle Zeit den Blick auf den Mond verwehrten. Als Peters Gesicht erwartbar und doch unerwartet über ihm auftauchte, war er gleichsam schockiert und erleichtert.

„Nana, nun aber… Wer benutzt denn solche Worte: „Erbrochenes“, mein sensibler Künstlerfreund, sperre dich nicht gegen die Wahrheit, Kotze trifft es da wohl schon eher.“
Sven dachte an den Termin beim Arbeitsamt, an Thomas und Lydia und schüttelte sich.
„Peter Schluss jetzt mit dem Scheiß. Sag mal, was ist in letzter Zeit eigentlich los mit dir. Mo ist tot, Hannes hat sich gerade von Mo’s Dach gestürzt und ist Blut und Kotze spuckend im Wald verschwunden und du läufst hier lachend durch die Gegend.“
„Sehr, sehr gut: Blut und Kotze. So ist richtig Sven. Also, na überleg doch mal, als ob Hannes jetzt unser bester Freund wäre. Und es schien ihm doch gut zu gehen.“
„Oh mann, du verdammter Soziopath. Jetzt lass uns wenigstens mal bei Hannes‘ Wohnung vorbeifahren und schauen, ob er dort angekommen ist. Wo wohnt der eigentlich?“
„Im Himmel und in der Hölle.“
„Adresse?“
„Keine Ahnung.“
„Hm.“
„Hm. Hatte Mo nicht mal so ein Gästebuch, wo die ganzen Besoffenen, wirre Geschichten reingeschrieben haben.“
„Mit bürgerlichem Namen, Adresse und Geburtsdatum?“
Achselzuckend stand Peter vor Sven, der sich nun langsam erhob und wortlos den kurzen Weg zu Mo’s Bar zurückging. Die Haustür war nur angelehnt, der Raum dahinter hell beleuchtet und auf dem Boden lagen einige zerbrochene Flaschen. Geruch von Bier und Rauch und Mo. Sven erwartete, dass er gleich, wie seit Anbeginn der Zeit, aus der von Bratenfett und Zigarettenrauch eingehüllten Küche schritt, doch alles blieb stumm und der Rauch in der geräuschlosen Küche, hatte sich für immer gelichtet.
„Was ist denn hier passiert?“ Peter, der hinter ihm die Bar betrat, stolperte ungeschickt über die zahllosen Glasscherben und kam auf ihn zu. Erfolglos versuchte Sven ihn zu ignorieren.
„Sorry Sven, war nicht so gemeint. Schon alles ziemlich abgefahren, was in letzter Zeit so passiert. Aber die Tragik ist dem Absurden nicht gewachsen. Und die Komik transzendiert die Logik. Bier?“
„Die Bar steht jetzt seit ein paar Tagen leer, sollte hier nicht längst aufgeräumt sein? Und was ist mit Absperrungen, Polizei und dem ganzen Mist?“
„Sven, wir sind hier auf dem Dorf. Und Bier ist Bier und wenn das hier noch steht und wenn das keiner trinkt, wird es halt schlecht.“ Aufmunternd nickte Peter in Svens Richtung und machte sich daran, zwei Bier zu zapfen, während Sven die Suche nach dem Gästebuch begann.

Es war das erste mal, dass Sven, die überall an der Decke angeklebten Zeitungsartikel und Buchseiten, die aus den unterschiedlichsten Ländern stammten, bewusst wahrnahm. Viele der Meldungen waren in Sprachen verfasst, die er nicht kannte, und deren Schriftzeichen er nur unzureichend einordnen konnte. Einzig die Bilder gaben einen Anhaltspunkt über die Bedeutung der Zeichen, doch standen sie in ihrer zufälligen Ordnung, im Spruch und Widerspruch der Fotografien und Illustrationen, im brüchigen Spiel ihrer fragilen Zusammenhänge, antagonistisch nebeneinander. Ein Atompilz über einer unbekannten Landschaft. Die Abbildung eines Engels, der eine menschliche Ziege küsst. Die verbrannten Überreste einer Stadt. Ruinen. Eine Taube mit Doppelanus. Ein menschlicher Korpus, ohne Kopf, der Oberkörper mit dem Unterkörper verwachsen, eine Skulptur des Fleisches. Ein Pinguin kotend im Flug, zielgerichtet ein kopulierendes Paar anvisierend. Exekutionskommandos und Leichenberge. Ein Mann, schwimmend in einem Meer aus lebendem Obst, das die Augen vorwurfsvoll auf ihn gerichtet hat. Die Skizze eines weiblichen Skeletts, ein Mann zwischen ihren Beinen, wie sie oder es oral befriedigt wird. Umso länger Sven die wirre Collage betrachtete, die sich aus tausenden Bildern zusammensetzte und prophetisch über ihm schwebte, umso mehr fragte er sich, ob Mo Verrückter oder Heiliger war. Seine Hinterlassenschaft, sein Vermächtnis für die Menschheit, eine auf Entschlüsselung wartende Geschichte der Welt, wie sie war, sein könnte oder sein sollte. Eine fiktive, auf Fakten beruhende Enzyklopädie der Menschheit. „Wie kann etwas überhaupt postfaktisch oder prefaktisch oder ganz einfach faktisch sein“,überlegte Sven „wenn sich Fakten, sowieso immer nur auf anderen Tatsachen, also anerkannten Fakten begründen. Steht am Ende eines zufällig gewählten Faktums, wenn man es bis zu seinem Grund auseinandernimmt, in Einzelteile zerlegt und dieser endlosen Kette bis zu seinem unmöglichen Beginn folgt, nicht immer derselbe Fakt und ist dieser letzte Fakt, nicht immer nur eine Frage. Und ist diese Frage nicht auch der Beginn aller Fiktion und der Fakt, somit nicht mehr als die Vereinfachung alles Fiktiven.“ Erschöpft von dieser endlosen Reihung und erschöpft, von der nichtssagenden Gewalt der Bilder über seinem Kopf, wendete sich Sven ab und durchsuchte einige der Schränke hinter dem Tresen, bis er ein an den Rändern zerrissenes und vergilbtes Buch fand. Er setzte sich auf einen der Barhocker und nahm einen tiefen Schluck von dem schalen Bier, das Peter ihm reichte.

„Sag mal Peter, sind dir irgendwann mal die Bilder an der Decke aufgefallen?“
Peter schaute nach oben: „Nene, ich glaub ich hab in meinem ganzen Leben noch nie nach oben geschaut. Sollte man öfters mal machen.“, kichernd trank auch er von seinem Bier. „Mo war schon immer so empfindlich. Ein sensibler Botschafter des Rausches.“
„Schon seltsam. Hier, ich hab ein Buch gefunden.“ Sven legte es auf den Tresen und schlug es auf einer der hinteren Seiten auf. „Also, eine Gästebuch ist das nicht.“, sagte er nach einer Weile. Irritiert las er vor:

„29.10. Wünschte ich könnte irgendwohin. Oder zumindest Hannes rausschmeißen. Immer das Gleiche. Sollte seine Spermafreundin überfallen und die Huhnmenschen züchten und auf ihn hetzen. Vielleicht kehrt dann auch das Gefühl der Bestimmung wieder. War mir immer sicher der Auserwählte der Kneiper zu sein. Bestimmung verloren im Schnaps- und Zigarettenmeer. Führerlos in einer Buddle aus Selbstgebranntem und Bier.
30.10. Die Nacht erdrückt von Lichtern. Fenster werden zu kreisenden Quadraten. Die Wirklichkeit ist psychedelischer als die Zeit und jeder Augenblick ist ein Deja-vu. Ich sitze auf dem Klo und will aufstehen und endlos scheint es mir, als hätte ich es bereits getan oder wäre gerade dabei. Die Wände beginnen sich lautlos zu drehen und ich bin mir sicher, schon immer hier festzusitzen.“

III

“Was heißt vom Dach gestürzt?”, fragte Sven entsetzt. “Und dann? Hast du ihn einfach liegen lassen?
“Achso!”, sagte Peter und fasste sich an den Kopf. “Lass uns mal hinschauen.” Er lachte künstlich, als würde er sich eines ziemlich dummen, vermeidbaren Fehlers bewusst.
Sven schüttelte sprachlos mit dem Kopf. In seinem Hirn ging alles drunter und drüber. Aufgeregt stammelte er: “Scheiße, los! Fahrrad!” und holte sein Mountainbike sowie ein altes Damenrad aus dem Keller. Peter musterte letzteres skeptisch. “Dein Ernst?”, fragte er. “Mein Ernst!”, sagte Sven. “Und jetzt los!”
Bis zum Schmiedehammer war es nicht weit, doch als Peter seinen massigen Körper auf das klapprige Rad bugsierte, dieses zu ächzen und stöhnen begann und der Reifendruck sich derart schnell verflüchtigte, als wären die Reifen geplatzt, sagte Sven einsichtig: “Wir tauschen.” Und so fuhren unsere Helden die kurze Strecke in gemächlichem Tempo, da Sven immer wieder auf Peter warten musste, bis sie nach wenigen Minuten am Schmiedehammer angekommen waren. Die Bar stand einsam und verschlossen an diesem grauen Novembernachmittag, von Hannes keine Spur. Peter stieg schnaufend von dem vor Erleichterung aufatmenden Mountainbike ab und schmiss es seitlich von sich in den Dreck.
“Peter!”, sagte Sven ernst, “Wenn das wieder so ne scheiß Luftnummer ist, ich schwöre dir, dann kriegst du bei mir Hausverbot.”
“Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass der vorhin noch hier lag.”, erwiderte Peter.
“Und warum hast du ihm dann nicht geholfen? Wie kommst du darauf, dass er vom Dach gestürzt ist?“
Peter warf die Stirn in Falten und überlegte einige Sekunden, was er antworten sollte.
“Willst du wissen, was in dem Brief steht?”
“Ist das denn wichtig?” Sven lachte hysterisch.
“Nee, aber komisch. Also, da steht…“:

An die Menschheit!
Als Exemplar deiner Gattung sowie Art- und Leidensgenosse, ist es mir ein besonderes Anliegen, ein paar Worte an dich zu richten. Wenn ich könnte, würde ich ab jetzt ohne Floskeln sprechen, ausnahmslos, ohne Kitsch und ohne Zweideutigkeit. Aber es wird mir nicht gelingen, so viel weiß ich bereits. Mit dir zu reden, ist wie Jonglieren mit brennenden Bällen. Selbst wenn du Handschuhe trägst, verbrennst du dich früher oder später und lässt sie fallen. Womit ich mein Versprechen, ohne Floskeln auszukommen, bereits gebrochen habe. Tut mir leid.
Mit dem Wort kommt die Perspektive, die Subjektive, die Anmaßung. Du kannst noch so viel Wahrheit in deine Rede mengen, am Ende stellt jemand alles Gesagte auf den Kopf. Gleichgesinnte – ja! Aber bleibt nicht die Gier deine treibende Kraft, die alles andere mit sich in den Abgrund reißt?
Hüte dich vor den ellenbogenschwingenden, leichenreitenden Großmäulern unter dir – dieses mit leeren Worthülsen um sich werfende, ewig zu dick auftragende, jedem etwas verkaufen wollende und nimmersatte Gesindel – und besinne dich auf dich selbst. Greif nicht nach den Sternen, sondern höre in dich rein.
Wer bist du?
Ich bin der, der lauthals lachen können möchte, ehrlich und ungezwungen, so dass es jeder hört und mitlacht, einschließlich meiner selbst, der von außen auf die lachende Person schaut; so dass mein Lachen alles vereinnahmt, auch mich. Und wenn mein Bauch dann schmerzt vor Lachen, trete ich hin zu mir und lasse den Beobachter herein, so wie es vorher noch nie ganz war, so wie es göttlich wäre. Siehe, dass ich du bin und du bist ich.
Hoffnung – vielleicht! Doch am Ende ist der Mensch ist dem Menschen… ein Mensch.

Ein Rascheln drang aus dem zugewucherten Blumenbeet vorm Schmiedehammer an die Ohren unserer Helden. “Ist das nicht…”, fragte Sven und näherte sich einem dichten Gebüsch, “…ein Fuß?” Das Rascheln wurde lauter und plötzlich erhob sich Hannes wie Phönix aus der Asche und erbrach an sich herunter. “Ihr…”, sagte er vorwurfsvoll, “…Esoterik-Schwuchteln!” Er wedelte abschätzig mit der Hand. “Ach, leckt mich am Arsch!”, bemerkte er und zog schwankend von dannen.

II

Herr Sven, Schluss jetzt. Und auch du Herr Meier. Wir sind hier doch nicht im Zirkus. Oder im Zoo. Biertitten… Säuferglück… Wir alle hier wollen Leuten wie Ihnen, Herr Sven, dabei helfen, eine adäquate Anstellung zu finden, die bestmöglich auf persönliche Stärken und Präferenzen abgestimmt ist. Wenn ich mir Ihren Lebenslauf so anschaue, frage ich mich, wie Sie sich Ihre Zukunft überhaupt vorstellen. Haben Sie sich jemals gefragt, welchen Wert Sie durch Ihre fortwährende Arbeitslosigkeit für unsere Gesellschaft und unseren Staat besitzen. Haben Sie denn nie das Bedürfnis verspürt eine Leistung zu erbringen, die über ein rein egoistisches Interesse hinausreicht? Ich persönlich werde mich dafür einsetzen, dass Sie von nun an die bestmögliche Betreuung erhalten. Und auch wenn es nicht viel ist, so will ich mich doch der Bewahrung der kulturellen und zivilisatorischen Errungenschaften verschreiben und meinen kleinen bescheidenen Beitrag zur Aufrechterhaltung unserer gesellschaftlichen und vor allem moralischen Ordnung leisten. Hören Sie Herr Sven, ich erkläre Sie zu meiner obersten Priorität.“

Sven hörte Lydias Worte und wusste nicht, welche Reaktion von ihm erwartet wurde und ob ihre leidenschaftliche Ansprache nicht ein weiterer Teil des absurden Theaters war, dass er seit diesem Morgen erlebte. Bei den Worten oberste Priorität hatte Sven das Gefühl, dass Lydia leicht die Augenbrauen nach oben zog und ihm einen verdeckt lüsternen Blick zuwarf. Um sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen, schaute er sich unauffällig im Raum um. Er sah Volkers schwabbeliges Gesicht, dass fast vollständig von seiner fleischigen Hand bedeckt war, um die quiekenden und grunzenden Geräusche zu dämpfen, die nun nur noch vereinzelt aus ihm hervorbrachen. Um Lydias Hals erblickte er eine silberne Kette, mit einem kleinen, funkelnden Stein, der in starkem Kontrast zu Ihren roten Haaren und den bunten Tattoos stand und der ihn an den bläulichen Stern erinnerte, den er in der Nacht von Mo’s Tod gesehen hatte. Morgenstern und Totennacht, dachte Sven. Abwesend saß er in seinem Stuhl und sah auf seine dreckigen Schuhe, das Gesicht zu einer scheinbar reumütigen Maske erstarrt.

Nun Kopf hoch, Herr Sven.“, Volker hatte sich erhoben und stand nun unmittelbar vor Sven. „Lydia, nun schauen Sie sich doch an, was Sie dem armen Mann hier antun. Ihre Drohungen und dieser mittelalterliche Appell an die die aufrichtige Seele des edlen und aufgeklärten Menschen, ist hier doch völlig fehl platziert. Schauen Sie nur die unterdrückten Tränen dieses gepeinigten Geschöpfes, dieses gequälten und gemarterten Geistes, der doch nichts mehr ersehnt, als ein Ziel, dass ihm der Erlösung näher bringt. Ich weiß, Ihr vom Logos bestimmtes Wesen, ist wahrscheinlich nicht imstande die empfindsame Natur eines Künstlers, auch nur in ihren Grundzügen zu verstehen. Bei einem offensichtlichen Fall, wie diesem hätte ich jedoch gewünscht, dass Sie zu einem, zumindest gespielten, Mitgefühl fähig wären. Dass ist auch der eigentliche Grund, warum ich Ihnen Herrn Sven vorenthalten wollte. Auch wenn ich mich vor Ihnen als Zweifler bekenne, so wurde mir doch klar, dass ich es mit einem Besonderen Menschen, ich behaupte gar einem Gesegneten, zu tun habe. Ich habe bereits viel von Ihnen gehört Herr Sven. Nennen Sie mich doch Thomas. Thomas Meier. Herr Meier, wenn es Ihnen recht ist. Peter hat mir viel von Ihnen erzählt.“

Auch Lydia war nun vorgetreten und Sven hatte das Gefühl ihr etwas zu aufdringliches Parfüm auf seiner Haut spüren zu können. Ihre Bluse schien etwas weiter geöffnet, als noch vor einigen Minuten und die zwielichtige Dunkelheit ihres Dekolletees, erweckte eine mystische Sehnsucht nach den Geheimnissen und Abgründen der Nacht in Sven. Lydias‘ Blick wanderte unstet von ihm zu Peter und wieder zurück und ihr Ausdruck durchschritt ungekennzeichnete Bereiche von Zorn und Flehen.

Herr Sven, ich bitte Sie nun eindringlich meinen Worten Gehör zu schenken. Es geht hier doch nicht um den Widerspruch von Kunst und Verstand, sondern Ihre Zukunft, Ihr Glück, Ihr Seelenheil. Ich verstehe den grundsätzlich gestalterischen und bildenden Anspruch Ihres Lebens, vielleicht sogar Ihrer gesamten Existenz. Doch sollte nicht gerade ein Künstler die unerträgliche Schwere des Lebens greifen können, ihr widerstreben, sie bekämpfen und sich durch Selbstaufgabe zum Wohle der Menschheit opfern. Wäre dann nicht das Leben selbst ein Kunstwerk, welches es zu gestalten gilt.“

Lydia,“ Herr Meiers Worte klangen nun drohend. „Ich glaube Sie verwechseln hier etwas, nicht des Künstlers Leben ist das Kunstwerk, sondern der Künstler an sich. Nicht das Opfer, zum Wohl des Menschen, weiß den Geist zu stimulieren, zu beflügeln und ihn mit dem Wesen der Unendlichkeit in Verbindung zu bringen, sondern die Selbstaufgabe zum Zwecke der Aufgabe des Selbst an sich. Ich bitte Sie, als ob es die Gesellschaft wert wäre gerettet zu werden. Gerade wir sollten uns doch dem unausweichlichen Scheitern dieses Ziels bewusst sein. Nein, wenn Herr Sven nur ein Kunstwerk schaffen könnte, dass der Erinnerung würdig ist, so erlangten wir, die ihn dabei stützen, doch auch die Unsterblichkeit. Ich, und auch Sie Lydia, wenn Sie sich nur Herrn Sven verpflichten könnten, wären sein Gott und seine Jünger.“

Die Atmosphäre im Raum erregte Sven. Der unsinnige Kampf zweier Sachberater, um ein undefinierbares Ziel, weckte körperliche Gelüste, die ihn selbst irritierten. Er fragte sich, warum sich Lydias monotones Beamtendasein innerhalb kürzester Zeit, zu einem fanatischen Eintreten für die Grundsätze der Gesellschaft gewandelt hatte und Sie ihre gemeinsame Nacht scheinbar völlig ignorierte. Fragte sich, wie Volker in Wahrheit hieß. Dachte darüber nach ihn in seinen Stuhl zu drücken und Lydia anschließend vor seinen Augen und auf seinem Schreibtisch, unter Volkers oder Thomas oder Herr Meiers Gekicher und Beifallsstürmen durchzunehmen und sie dabei in ekstatische Höhen zu treiben. Sven schüttelte sich und stand auf. „Also gut, ich muss dann mal, ich hab auch noch einen Termin.“ „Herr Sven,“ Herr Meier schien aufgebracht „wie sind hier noch nicht einmal annähernd fertig, ein vorzeitiges Verlassen des Raumes, wäre eine grobe Verletzung irgendeines Artikels.“

Herr Sven,“ pflichtete Lydia ihm bei „ich denke auch, dass es hier noch einige grundsätzliche Fragen zu klären gibt. Aber ich verstehe, dass vielleicht alles etwas zu viel für sie ist. Nach allem was gerade mit Ihrem Freund geschehen ist, würde ich sagen, wir vertagen dieses Gespräch auf nächste Woche. In der Zwischenzeit schauen Sie sich doch bitte das folgende Stellenangebot etwas genauer an. Triumphierend und provokant schaute Sie zu Thomas. „Also Freund, ach Mo, nun ja…“ warf Sven ein, doch Volker unterbrach ihn.

Ja Herr Sven, mein Beileid. Tragische Geschichte. Wie gesagt, nächste Woche, gleicher Tag, gleiche Zeit. Und bitte lesen Sie sich auch diese Stellenbeschreibung in Ruhe durch.“, lächelnd zog er einen großen Umschlag aus seiner Schreibtischschublade, übergab ihn an Sven. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Aber natürlich vollkommen zwanglos, wir wollen sie schließlich zu nichts zwingen, was Sie in Wirklichkeit gar nicht wollen.“ Abschätzig blickte er zu Lydia.

Ja gut, alles klar, dann. Tschüss.“ hastig ging Sven aus dem Büro und hörte nur noch ein synchrones auf Wiedersehen von Lydia und Thomas.

Als er endlich bei sich zu Hause ankam, sah er Peter mit undefinierbaren Ausdruck vor seiner Tür stehen. Er war irritiert, wie ähnlich Herr Meier und Peter sich sahen und dass er diese Ähnlichkeit erst jetzt bemerkte. „Du schon wieder hier. Ich wollte jetzt eigentlich…“, doch Peter unterbrach ihn, einen Zettel von links nach rechts wedelnd. „Ja ja, Sven so ist das. Setzt dich lieber hin, oder bleib stehen oder ach, was soll’s: Der Brief ist von Hannes. War vorhin bei Mo. Nostalgie und so. Hannes lag vor dem Haus. Hat sich vom Dach gestürzt. Keine Ahnung wie der da hochgekommen ist. Den Brief hatte er bei sich.“

I

Es begab sich also zu einer Zeit, in der „Gott“ aus dem Fokus der Menschen gewichen war. An falschen Gottheiten mangelte es jedoch nicht. Es waren ihrer religiöse, kriegstreibende und konsumistische weitverbreitet. So taten sich im “Fragilen Säuferglück” echte Gottheiten zusammen und philosophierten über eben die unsägliche Zeit, in welche sie die Menschen hineinmanövrieren hatten lassen.

Dionysos, Hannes und Pan auf Barhockern am Tresen. Mo bedient.
D: “Mo, vier Wein und vier Kurze. Das muss gefeiert werden, dass du wieder da bist.”
Mo sieht verdutzt auf.
M: “Wieso ‘wieder’? Wo soll ich denn gewesen sein?”
P: “Ich hätte lieber ein Bier.”
H: “Pan, altes Gerippe, sprichst mir aus der Seele. Für mich auch Bier.”
Mo serviert einmal Wein, zwei Bier und drei Schnäpse.
D: “Auf die Rückkehr unseres V-Mannes. Auf Mo!“
Alle: “Auf Mo!”
Alle klopfen mit den Schnapsgläsern und verkippen einen Teil auf dem Tresen.
M: „Ich versteh kein Wort. Was soll der Scheiß?“
Die drei tauschen verschmitzte Blicke untereinander aus.
D: „Scheinst nicht mehr derselbe zu sein, Mo. Konnte man aber auch nicht erwarten, die ganze Zeit unter Menschenpack.“
H: „Ach, der hat nur Druck aufm Schlauch, hat bestimmt keine abgekriegt da unten, mit der Visage.“
P: „Im Gegenteil! Wer will schon mit gewöhnlichen Sterblichen…“
H: „Dass ausgerechnet du das sagen musst. Würdest doch auf alles springen, was nicht bei drei auf den Bäumen ist.“
P: „Wer im Glashaus sitzt…“
D: „Na na, die Herren, Contenance. Wir wollen Mo doch noch all den Jahren nicht gleich maßlos überfordern. Und außerdem, steht das V in V-Mann wohl kaum für Vögeln. Mo, mach uns nochmal vier Schnäpse und dann erzähl uns in aller Ruhe von deinen Erlebnissen auf der Erde.“
Mo schenkte den dreien Schnaps nach, presste die Handgelenke vom Körper weg auf den Tresen und beugte sich tief hinüber. Mit bebender Stimme: “Is hier Fasching oder was? Wie seht ihr eigentlich aus, ihr Vogelscheuchen? Schluss jetzt mit dem Affentheater oder ich schmeiß euch ein für allemal raus.“
P: „Oh je, den Guten hat’s ja voll erwischt. Paranoia, Schizophrenie oder schlimmer: Hirnfäule.“
D: „Ruhig Blut, junger Freund. Wir wollen dir nichts Böses. Eins nach dem anderen.“
H: „Ich sag’s doch: Der hat keine abgekriegt.“
Mos Kopf jetzt karmesinrot.
D zu H: Schweig, du hohler Klotz! Und dann verständnisvoll zu Mo: „Kannst du dich noch deiner Mission auf Erden entsinnen?

Dionysos holte tief Luft und beschrieb dem erzürnten Aushilfsbarkeeper, warum man ihn zu den Menschen entsandte. Als er endigte, schien Mo entgeistert und den Tränen nahe. Er, ein Spion der Götter auf Erden, nachdem diese auf einen anderen Planeten flüchten mussten? Die Menschen immer spitzfindiger bei der Erschließung des Himmels und seiner Sphären? Göttliche Frequenzen von NSA abgehört? Auf göttlicher Seite Schwierigkeiten bei der Überwachung der Menschen aufgrund starker Luftverschmutzung? Das Menschenprojekt außer Kontrolle geraten?

Mo geht theatralisch zu Boden.
P: „Und, Mo? Sag schon, was hat sich getan da unten? Was hast du die ganze Zeit gemacht?”
H: „Ja, rück endlich raus mit der Sprache.“
D: „Mo, wir können auch morgen darüber reden. Kein’ Stress.“
Mo, sich aufrichtend, eine Uralt-Partyrock-CD in den Player legend. „Life is life“ von Opus ertönt.
„Alles beim Alten. Nichts als Theater.“

VI

„Nur noch eine Sekunde, ich bin hier mit Herrn… mit Herrn Sven in einem äußerst wichtigen Gespräch. Volker lachte noch immer und sein Gesicht war mittlerweile dunkelrot. Sven sah wie der Schweiß von Stirn, Nacken und Kinn in seine Kleider rann. Sein weißes Hemd war mittlerweile gräulich verfärbt und unregelmäßig mit Flecken bedeckt und sein Bart wirkte wie eine postmoderne Skulptur aus der scheinbar quellenlos und überbordend Wasser austrat, das sich auf den feinen Härchen zu immer größeren Tropfen sammelte, die bei jedem ekstatischen Lachen des mächtiges Körpers auf und ab schwangen und wie festgeklebt schienen. Wasserbart und Biertitte, dachte Sven unwillkürlich und sagte es, um es sich für später einzuprägen noch ein paar mal laut vor sich hin. Der Tag verlief erfolgversprechender als gedacht und war auf absurde Weise realistischer als seine vorigen Besuche beim Amt. Durch Volkers Lachen ermutigt, grinste nun auch er debil vor sich hin und sagteetwas lauter: Biertitte und Wasserbart. Die Geräsuche, die aus Volker hervorquollen wurden nur noch euphorischer und erste Tränen flogen durch die Luft auf vor ihm liegende Unterlagen. Spontan wagte sich Sven an einige Improvisationen: Bierbart und Wassertitte, Bartwasser und Tittenbier, Bierwasser und Tittenbart, Wasserbier und Bartitte. Gerade war Sven dabei sein Vokabular neu zu ordnen und subtile Neukombinationen in den bestehenden Rhythmus einzuflechten da öffnete sich die Tür und Lydia betrat verärgert den Raum. „Ach, na sowas…. Lydia.“ Volker brachte die Worte nur mühsam hervor, doch langsam entspannte er sich. Verschwörerisch blinzelte er Sven zu „Schön das du hier bist, ich möchte dir unbedingt Herrn, Herrn, Herrn… Sven vorstellen. Du wirst begeistert sein. So einen hochmotivierten und engagierten Kandidaten hatten wir hier schon seit Monaten nicht. Grandios, ja famos. IT-Spezialist, Literat und Wortakrobat.“

„Ach Lydia.“, stammelte Sven. „Na, da bist du ja! Volker hat mir gesagt…“

„Herr Meier. Also wirklich Herr Sven, ich bitte Sie. Wahren Sie Haltung auch im Angesicht der Liebe.“ Volker hob tadelnd den Zeigefinger und schwenkte ihn lächelnd von links nach rechts.

„Also Herr Meier hat mir gesagt… Moment, Moment. Ich dachte ich sollte dich, also Sie Volker nennen, dass haben Sie doch selbst gesagt.“

„Herr Sven, ich glaube Sie verstehen den Ernst der Lage nicht. Ich bin ihr Sachbearbeiter, ich bin dafür zuständig Ihnen einen neuen Job zu vermitteln, ich erstatte Bericht an höchste Stelle über Ihren Erfolg und Misserfolg, bestimme somit direkt oder indirekt, je nach Auslegung, über die Fortführung Ihrer Sozialleistungen, bestimme darüber ob Sie im Winter ein Dach über dem Kopf haben, ob Sie im Winter frieren, ob Sie es sich leisten können zu essen oder hungern müssen. Ich bin sozusagen oberster Richter über Ihr Leben. Und Ihren Tod. Herr Sven wissen Sie denn, wer im allgemeinen Verständnis, neuzeitliche Strömungen außer Acht gelassen, dazu in der Lage ist, zu entscheiden, ob etwas leben oder sterben soll.“ In diesem Moment hielt Volker die Luft an und sein Finger stand drohend in der Luft. Alles war still und Sven musste sich eingestehen, dass er der traurigen Komik der Situation den Vorzug gab gegenüber den erniedrigenden Routinen der sonstigen Behördengänge.

Stille. Zäh stehende Sekunden und ein schwankender Finger in der Luft. Sekunde um Sekunde und niemand sagte ein Wort, sodass Sven überlegte, ob er nicht vielleicht eine neuerliche Erklärung fordern sollte. Und doch schien es unangemessen, solang der wulstige Finger in nebulöser und bedeutungsschwangerer Haltung über ihm kreiste.

Geräuschvoll blies Volker die Luft aus: „Gott. Gott richtet über Leben und Tod. Ich bin ihr persönlicher Gott. Der Allmächtige Ihres Lebens. Und glauben Sie, dass ein Gott einem Sterblichen das du anbieten würde?“

Als Sven nicht antwortete, lehnte sich Volker über seinen Schreibtisch und piekste ihn mit einem Bleistift aufmunternd in die Rippen. „Glauben Sie, dass ein Gott geduzt werden möchte?“, wiederholte er mit stechendem Blick.

„Also…“, begann Sven nach einer Weile. „Das kommt vielleicht auch darauf an, ob es mehrere Götter gibt und die sich dann duzen, wenn sie im Fragilem Säuferglück zusammen…“

„Nein“, brach es aus Volker hervor „ein Gott besteht auf das Sie. Seien Sie froh Herr Sven, dass ich in diesem Fall ein gnädiger und kein rachsüchtiger Gott bin.“ Hocherfreut und glücklich begann er wieder zu lachen.

V

Erstaunliche Leere. In Svens Kopf und ringsherum nur scheinbedeutungsschwangere Atmosphäre. Peters Blick und die arbeitssuchende Schar auf dem Präsentierteller. Bereits nackt, seelisch entkleidet, Stimmung im Keller. Peter macht sich rar und Sven bleibt allein in allumfassender Leere.

“Sie müssen zuerst eine Nummer ziehen!”, fauchte ihn die Empfangsfrau an, nachdem er gefühlt eine Stunde wie benommen im Wartezimmer saß und die Wand anstarrte.
“Aber ich habe einen Termin. Zimmer 113.”
“Der war vor ner halben Stunde.” Sie stieß einen monumentalen Seufzer aus. “Bitte nehmen Sie im Wartezimmer Platz. Sie werden dann aufgerufen.”
“Ich muss zu Lydia.” Die Empfangsfrau schaut ihn teilnahmslos an. “Thomas würde auch gehen.” Leichtes Entsetzen machte sich auf dem Gesicht der Frau bemerkbar. “Bitte setzen Sie sich.”

Sven wurde das seltsame Gefühl nicht los, dass Peter ihm irgendwas verschweigt. Wenn er einen Bekannten beim Arbeitsamt hat, müsste dieser doch Lydia kennen. Das hätte Peter wiederum längst erfragen können, aber nun war er einfach verschwunden, so plötzlich wie er aufgetaucht war und dieses kranke Spiel mit ihm spielte. Die Vorstellung eines feindlichen Komplotts seines Freundes schien ihm jedoch unwirsch und er schmetterte den Gedanken so gut es ging ab. Dann ertönte sein Name. Es geht los, dachte er und folgte der Empfangsfrau durch einen schmalen Gang. Das Summen von Neonröhren begleitete die beiden, aber Sven konnte nicht ausmachen, ob es real war oder sich in seinem Kopf abspielte. “Da hinten, einmal die Tür links.”, sagte sie und verschwand wieder hinter ihrem Tresen. Unweigerlich musste er an Mo denken. Arbeitsamt und Bar, im Grunde das gleiche Klientel, nur sind betrunkene Kunden zufriedenere Kunden, wenngleich es sich um eine fragile Zufriedenheit handelt. Fragiles Säuferglück. Guter Name für eine Bar, dachte er. Was wird eigentlich jetzt aus dem Schmiedehammer? Hauptsache kein Tattooladen.

Er klopfte an die Tür. “Hereinspaziert!”, hallte es heiter zurück.
“Ach, Herr… , äh, Sven, kommen Sie doch rein. Nur keine falsche Scheu.”
Verdutzt trat Sven in das kleine Zimmer und schloss die Tür hinter sich. “Sagen Sie, kennen wir uns?”
“Wir? Uns? Nein, also wirklich, ich bin Ihr neuer Sachbearbeiter. Nennen Sie mich einfach Volker.”
Der korpulente Mann mit dem grauen Schnurrbart lächelte bis über beide Ohren und Sven konnte nicht anders, als auch ein wenig die Mundwinkel zu heben.
“Ja, Herr…, also Volker, ich hatte eigentlich einen Termin bei Lydia. Ist sie nicht hier?”
“Lydia?” Volkers Miene verfinsterte sich für den Bruchteil einer Sekunde, klarte dann aber umgehend wieder auf, so sehr, dass Sven glaubte, noch nie ein derart strahlendes Gesicht gesehen zu haben. “Kenn ich nicht. Aber ich hatte mal eine Großtante namens Lydia. Die war ein echter Drachen.” Er lachte laut auf und schien selbst derart überrumpelt von Svens Frage, dass sein Lachen ins Prusten überging.
“Das ist wirklich schade.”, warf Sven ein. “Ich hatte doch diesen Brief von ihr bekommen. Wo ist der denn gleich?” Sven stöberte in seinem Rucksack und ließ nach einer Weile enttäuscht davon ab. “Hab ich zu Hause vergessen.”
“Na na, Jungchen.”, entgegnete Volker gut gelaunt. “Behördenbriefe sind keine Liebesbriefe.” Er zwinkerte ihm mit dem linken Auge übertrieben zu.
“Sie hat rote Haare.”, erwiderte Sven.
“Papperlapapp! Frauen wechseln die Haarfarbe wie Unterwäsche. Da kann ja jeder kommen. Und überhaupt: Warum sind Sie eigentlich hier? Um einer fiktiven Frau nachzustellen oder um Arbeit zu finden?“ Sein Lächeln nahm jetzt unmenschliche Züge an. Sven starrte ihn ungläubig an. Wenn seine Mundwinkel noch einen Nanometer nach oben wanderten, würden seine Wangen sich unweigerlich über das gesamte Gesicht krempeln müssen. Ihm wurde angesichts dieser Vorstellung ganz mulmig.
“Geht’s Ihnen nicht gut? Nun, schauen wir mal, was wir für Sie tun können. Haben Sie sich fleißig beworben? Irgendwelche Rückmeldungen, positiv wie negativ? Immer raus damit. Sonstige Erfolge?”
Sven fühlte sich auf die letzte Frage angesprochen.
“Also ich habe neulich wieder ein Spiel auf PlayStation abgeschlossen. 100% – Platintrophäe. Darauf könnte ich verweisen.”
Volker tippte lachend irgendwas in seinen Rechner. “Interessen?”
“Biertittenforschung!”, brach es aus Sven raus.
“Fahren Sie fort.”
“Na, es wäre doch schön, wenn Frauen statt Milch auch Bier herstellen könnten. Die perfekte Zapfstation wird ja von der Natur bereitgestellt. So hätten Brüste ein Leben lang einen Nutzen.”
“Überqualifiziert!”, rief Volker erregt klatschend, während ihm die Gesichtszüge vollständig entglitten. “Sagen Sie, wollen Sie mich testen? Kein Wunder, dass Sie auf der Suche nach einer Frau sind.”
Plötzlich klopft es an der Tür. “Volker, kann ich reinkommen?”, tönte eine Frauenstimme.

IV

Vielsagend lag der Gang im flackernden Licht einer genau benennbaren Tageszeit. Es war Mittag. Keine Gedanken und keine Bilder, nur die Vorfreude auf die Überlegenheit im Angesicht der Banalität der bevorstehenden Demütigung. Sven fühlte sich gut und war selbst überrascht über die Klarheit der Empfindung. Es waren keine genaueren Analysen erforderlich, keine Hinterfragung winziger Nuancen, der Gedankenstrom ruhte und es war ein ganzheitliches Gefühl. Gut, doch überlegte Sven, gut ist kein Substantiv, eher ein Zustand und ein Zustand ist keine Empfindung. Liebe, Wonne, Befriedigung, Trauer, Schmerz, Gut. Es fügte sich nicht in die Reihe der großen Emotionen, war zu einfach, zu kurz und nichtssagend. Doch vielleicht liegt hier die Größe verborgen, die in Jahrhunderten der Dichter übersehen, gar missachtet wurde. 3 Buchstaben, der Weisheit, die das Leben transzendieren. Zen. Gut. Also dann, dachte Sven und durchschritt zügig und selbstbewusst den Gang. Ein abschätziger Blick durch die Glastür auf der linken Seite. Die Wartenden, die müde oder wütend oder teilnahmslos im Wartezimmer ausharrten, gebrochen durch die Zeit und die Förmlichkeit, das Ritual der Rechtsstaatlichkeit, vor der alle gleich waren und das allen mit derselben Schicksalslosen Logik begegnet. Sven fühlte, dass er die Methodik durchschaute und über sie hinaufblickte auch wenn er weiterhin ein Teil des perfiden Spiels war. Doch galt es den Schein zu waren, das Wissen zu verbergen und vorzugeben die eigene Glückseligkeit auch weiterhin ausschließlich an den Ausgang und das Gelingen zu binden. Sven sah sich selbst in der Masse als leuchtenden Punkte, der innerlich triumphierte auch wenn er verlor. Eine außerkörperliche Erfahrung in diesem Moment, dachte Sven und ging lächelnd auf die Anmeldung zu, wo sein Blick erstarrte und seine Züge entglitten. Ihm gegenüber saß ein Mann mit Brille, massig im Umfang, verschwand der Drehstuhl unter seinem riesigem Körper und er schien nur schwerelos in der Luft zu sitzen und im Rhythmus der Arbeit von einer Seite seines Schreibtischs zur anderen zur Schweben. Seine Haare waren zur Seite gekämmt, das Hemd makellos weiß und modisch, auch wenn die Knöpfe es nur mit größter Mühe zusammenhielten und der edle Stoff den Blick auf die darunterliegenden Fettwülste nur unvollständig verbarg. Der Mann verharrte einen Moment in der Bewegung, lauschte konzentriert und fuhr fort, bedächtig auf seiner Tastatur zu tippen. Er blickte nicht auf und fragte nur in unbeteiligtem und gelangweilten Ton: „Wie kann ich Ihnen helfen?“ Bei der Frage wich alles Vertrauen aus Sven und er sah, wie der winzige Punkte in der Masse unterging, verglühte und als unbedeutender Brandfleck im Boden verschwand. Plötzlich fühlte er sich leer und wünschte sich zu Hause zu sein, auf dem Sofa mit einer Schokomilch, oder im Wald, oder selbst bei seiner Mutter. Wütend lokalisierte er letzte Energiereserven und antwortete ruhig: „Peter, was soll denn der Scheiß. Seit wann arbeitest du denn hier beim Amt?“ Der Mann drehte sich zu Sven um, musterte ihn für einige Zeit, schaute über seine Brille und sagte ruhig: „Entschuldigen Sie aber Sie müssen mich…“ „Einen Scheiß muss ich.“, unterbrach ihn Sven, jetzt lachend. „Alter verarsch mich nicht, als obs auf der Welt irgendwen gibt, der aussieht wie du.“ Der Mann schloss die Augen und als er sie wieder öffnete, wirkten sie müde, doch dann wandelte sich der Ausdruck in seinem Gesicht und er brüllte Sven an: „Was bilden Sie sich überhaupt ein. Nicht arbeiten wollen und dann Geld vom Staat und überhaupt, bin ich doch für Sie nur ne Witzfigur. Kommen hier rein, lächelnd und gut gelaunt und denken sie können hier machen, was sie wollen. Und wenns dann doch mal Arbeit gibt oder Maßnahme, den Scheiß dann bloß nicht ernst nehmen was. Und glauben Sie ich weiß nichts von der Klauerei. Die ganzen Scheißwerkzeuge, haben sie mitgehen lassen und die Firma ist pleite gegangen, wissen sie eigentlich was so ne Scheißwerkstatt ohne Werkzeuge ist, ein vedammter Schrottplatz, auf dem alles verkommt. Aber Ihnen macht das ja nichts. Hauptsache ein bisschen Geld und kein Stress, ab und zu ein bisschen Sport, ein bisschen saufen aber nur von nichts zu viel. Jetzt reichts mir aber. Man sollte Sie einsperren lassen, wie heißen sie eigentlich?“

Sprachlos stand Sven vor dem Mann und schloss nun seinerseits die Augen. Scheiße dachte er, was soll man da noch sagen. Am besten schweigen und warten und wenn mir was einfällt, dann raus damit. Aber was, überlegte Sven, was sagt man, wenn es eigentlich nichts zu sagen gibt. Eigentlich hat er ja recht, also aus seiner Position heraus, also angenommen er wäre nicht Peter. Vielleicht hab ich mich auch verguckt, vielleicht wieder die Nerven, war ja auch einiges los in letzter Zeit und überhaupt den ganzen Stress ist man ja nicht gewohnt. Zwei Tage Saufen, ne Schlägerei und ein Toter. Mo, dachte Sven und spürte, wie er vor Wut und Hilflosigkeit die Fäuste ballte. Und wenn schon, dachte er. Vielleicht hat der Typ recht aber dann, wenn man mal meine Situation betrachtet, kann er mich mal. Son Typ hat mir doch gar nichts zu sagen. Schließlich ist das mein Leben, dachte Sven. Und ich wollte ja nicht zum Amt, sondern das Amt zu mir, also in gewisser Weise. Sven öffnete die Augen und war bereit sich umzudrehen und hinaus zu stürmen, doch der Mann hatte seine Brille abgenommen und seine Augen tränten vor Lachen. „Sven Mensch, was ist denn los, also das dich das jetzt so trifft, hätt ich aber nicht gedacht. Du hast ja Tränen in den Augen. Dachte nach der ganzen Scheiße in letzter Zeit brauchst du mal ein bisschen Aufmunterung.“ Verständnislos und schockiert starrte Sven seinen Freund, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, von denen er nicht bemerkt hatte, dass sie ihm die Wange hinabliefen, holte aus, schlug Peter ins Gesicht und fing seinerseits an zu lachen. Krachend viel Peter zu Boden. „Blöder Typ.“, sagte Sven erleichtert und half Peter auf die Füße. „Was für ne doofe Nummer. Ich versteh das nicht, was sollte das denn? Warum? Wie?“

„Ach Mensch Sven, das hast du mich aber gut getroffen.“ Peters Wange war bereits leicht geschwollen und die Worte klangen seltsam gedämpft. „Hoffen wir mal, dass keine Kameras hier sind, sonst wirst du noch verhaftet.“

„Peter, jetzt erzähl mir endlich was das sollte.“

„Sven, du warst so depressiv oder irgendwie traurig in den letzten Tagen und ich dachte, du brauchst ein wenig Aufmunterung,“

„Mo ist vor zwei Tagen gestorben. Aufmunterung und dann so?“

„Naja, doch, schon, aber vielleicht war das auch nicht ganz durchdacht. Na jedenfalls, kennen die mich hier schon beim Amt und neulich war ich hier mit dem Thomas mal einen trinken und da hab ich den mal gefragt, ob wir das machen könnten und der fand das auch ganz lustig. Hat gesagt, wenn wir nicht zu laut sind, und keinen aufhalten, dann geht das schon, weil das Wartezimmer ja in dem Raum dahinten ist. Ich wusste ja, dass du heute einen Termin hast. Aber lass uns jetzt mal lieber ins Wartezimmer gehen.“

„Hast du diesen Thomas nach Laydia gefragt?“

„Lydia… Lydia… Ach, die. Ne.“

„Du kennst hier wen beim Amt und denkst dir so nen Scheiß aus, und dann fragst du nicht mal. Peter echt mal. Scheiße.“ Sven öffnete die Tür zum Wartezimmer. „Peter, echt mal.“, er schaute auf den Boden, das überfüllte Wartezimmer und drehte sich zu Peter um „Peter echt mal, ich hab keinen Bock mehr.“ „Aber auf was?“, sagte Peter lachend, rieb sich die aufgequollene Wange und Sven war unfähig Peters durchdringenden Blick zu deuten.

III

“Und hier die Nachrichten um halb eins. Dreister Diebstahl: Auf der Baustelle des neuen Piercing- und Tattookomplexes in der Marktstraße wurden über Nacht mehrere hundert Kilogramm Stahl gestohlen. Die Polizei steht bisher vor einem Rätsel, vermutet die Täter aber in Beziehung mit illegalen Altmetall- und Rohstoffverwertungskreisen, die vor allem in Osteuropa Hochkonjunktur haben. Hinweise aus der Bevölkerung werden an das zuständige Polizeikommissariat erbeten.”
Ein zweiter Sprecher mischt sich ein.
“Unglaublich, diese Stahldiebe.”
“Nein, Diebstahl.”
“Ja, sobald die Diebe den Stahl stahlen, begingen sie Diebstahl.”
“Achso, dann macht einen das Stehlen von Stahl also zum Stahldieb.”
“Genau. Der Diebstahl begeht.”
Sven schaltete entnervt das Küchenradio aus. Er bereute die Entscheidung, es überhaupt eingeschaltet zu haben, aber in schwachen Momenten wünschte er sich nichts Anderes als Berieselung, harmloses Gedudel und ein bisschen Lokalkolorit, in der Hoffnung, es möge ihm die Sorgen des bevorstehenden Tages mildern, während er sein spätes Frühstück einnahm. Doch nach wenigen Minuten wurde er meistens furchtbar aggressiv, angesichts debiler Radiomoderatoren, die neben dümmlichen Diskussionen und altbackenen Alliterationen popartige Pissmusik anpriesen, als gäbe es nichts Besseres. Er dachte kurz darüber nach, das Radio einfach aus dem Fenster zu schmeißen, aber brachte es nicht übers Herz, schließlich war es ein Geschenk seiner Mutter zur letzten Weihnacht.

So holte ihn die Eingebung, dass er heute Nachmittag das Gespräch beim Arbeitsamt hatte, zurück auf den Boden der Tatsachen. Wie bereitet man sich auf ein solches Gespräch vor? Nicht, dass es Neuland für ihn wäre, aber das letzte lag schon eine Weile zurück. Zusätzlich die Nervosität, von dieser Lydia empfangen zu werden und die bange Frage, ob es sie überhaupt gibt oder ob er nicht schon komplett verrückt geworden sei. Zimmer 113. Vielleicht ein Code? Sven versuchte angestrengt, mit der Zahl im Kopf zu spielen, aber zu viel mehr, als die Quersumme zu bilden und genauso dumm dazustehen wie vorher, war er nicht imstande. Rote Haare – Satan? Hexe! Zu einfach! Es war wie immer, er kam nicht über kleine, harmlose Gedankenspiele hinaus und verlor sogleich die Lust daran. Es musste daher, wie so oft in seinem Leben, mit der altbewährten Methode klappen, die zu einer Art Lebensphilosophie für ihn geworden ist: ‘Augen zu und durch!’ Nein, zu einfach. ‘Das Glück kommt zu den Wartenden.’ Ja, schon besser. Das ganze Schlamassel ließe sich schon auseinanderklamüsern; davon war er überzeugt. Diese Lebenseinstellung war auch sehr erfolgreich bei der Abwehr störender Gedanken, z. B. bezüglich der Kürzung seiner Leistungen. Ohne das Geld wäre er echt in der Bredouille und er sah seine Mutter ihn schon vom Küchenfenster aus ins Elternhaus zurückwinken. Ach was, dachte er, und vertrieb die Vorstellung mit einer fächernden Handbewegung, als wäre sie eine Dunstwolke. Egal welche Demütigung heute von ihm abverlangt würde, Ein-Euro-Job, Sinnlosfortbildung oder Basteln mit Rentnern, er würde sein Lächeln nicht verlieren, im Gegenteil, er würde dem Teufel ins Gesicht lachen und zu allem Ja sagen. Denn das war seine stärkste Waffe: Andere glauben machen, dass ihm eine bestimmte Sache nichts ausmacht und dann subtil zurückschlagen. So hatte er einmal, während einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme in einer Werkstatt, kleine Werkzeuge und -teile peu à peu in die eigene Tasche gesteckt, so viel, wie er für den Eigenbedarf brauchte und so wenig, dass es niemandem auffiel. Wenn er schon schlecht bezahlt würde, dann müsse er sich halt das zusammenklauben, was er verdiene. Das Wort Diebstahl kam ihm dabei gar nicht erst in den Sinn. Dann endete die Maßnahme und er zog mit einem guten Gefühl weiter. Sven grinste, als wäre beim Onanieren die Uhr stehengeblieben. “Oh, Gott, ich muss los!”, keuchte er und stürzte zur Tür hinaus.

II

Sven wusste nicht was er machen sollte und fühlte sich überfordert. Er fuhr die Straße entlang, versuchte nichts zu denken und musste einsehen, dass auch das in gewissem Sinne wieder ein Gedanke war. Ein Vorhaben , überlegte er, auch wenn es unmöglich sein sollte oder erfolglos. Eine gescheiterte Handlung, die geplant ist aber nicht umgesetzt werden kann. Handlung ohne Aktion, die nur im Kopf vollzogen wird und deren Ausführung selbst dort scheitert. Und wieder ein Gedanke. Abrupt zog Sven die Bremse, schlitterte ein Stück auf der vom Frost überzogenen Straße und kam schließlich zum Stehen. Er befand sich mittlerweile auf einem kurzen Stück Feldweg, das die beiden Ortsteile des Dorfes verband. Um diese Uhrzeit gab es hier keine Menschen und alles was er in der Ferne erkannte, waren die vorbeiziehenden Scheinwerfer der Autos, die sich hinter der nächsten Kurve auflösten, und dann nach einer Weile durch Neue ersetzt wurden. Ein Stakkato von Licht und Dunkelheit und von Stille und Motoren. Sven schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Geräusche des frühen Abends und hörte ein seltsames Rauschen, ein tiefes Summen, dass er immer bemerkte, wenn er im Wald war, oder auf dem Feld, oder Nachts im Dorf, und nichts um ihn herum geschah und alles ganz ruhig war. Es war kein Lärm von Fahrzeugen oder Fabriken, auch wenn es sich manchmal mit einem Klang vermischte, der dem lauten und schrillenden Schlagen eines riesigen Hammers auf Metall glich. Doch das Rauschen wurde dadurch nur intensiver. Sven wusste nicht ob es ein alltägliches Geräusch war, das jeder hören konnte der allein war und die Augen schloss oder ob es sein eigenes, sein persönliches Rauschen war. „Es ist immer da, aber nicht in mir“, überlegte er. „und in der Stadt höre ich es nicht. Und im Winter in den Bergen höre ich es nicht. Unter dem Schnee schweigt alles.“, dachte Sven „unter dem Schnee schweigt die Erde, die sonst rauscht.“ In diesem Moment tauchte auf der Landstraße ein LKW auf, hupte und durchschnitt die abendliche Luft. Svens Gedanken gerieten in Unordnung und plötzlich sah er Mo’s Gesicht in der Dunkelheit vor sich. Plastisch, durchsichtig und aus sich selbst strahlend, stand es körperlos in der Luft, bevor es wieder verschwand.

Es hatte mehr als eine Stunde gedauert, bis vor zwei Tagen endlich die Sirenen des Krankenwagens vor dem Schmiedehammer erklungen waren. Dreimal hatte Sven in der Notzentrale angerufen, bis er jemandem verständlich machen konnte, was er wollte und wo er war. Die ganze Zeit über hatte er fluchend auf dem kalten Küchenboden gesessen, hatte Mo’s Kopf in seinem Schoß gehalten und dabei dessen unerbittliches Fiepsen und Röcheln ertragen. Fast unverständlich, doch mit einem bittenden, fast flehendem Ton, der die Worte nur erahnen ließ und dann doch wieder unmissverständlich und klar „Lass ma… Lass ma… Is schon gut…“ Sven hatte nicht verstanden, warum ausgerechnet er Mo an diesem Abend finden musste, warum er ausgerechnet an diesem Abend ein zweites Mal in den Schmiedehammer gegangen war und doch schien es auch jetzt noch unvermeidlich. Als der Rettungsdienst in die Wohnung gekommen war, hatte es nach all der Zeit des Wartens und der sinnlosen und überstürzten Anrufe etwas Unwirkliches und fast hätte Sven vergessen, dass Mo’s Kopf immer noch auf seinen Beinen lag. Die beiden Notärzte hatten sich so ähnlich gesehen, dass Sven sie, auch wenn er sich bemühte und argwöhnisch die Augen zusammen kniff, nicht unterscheiden konnte. Beide waren groß, mit langen Gesichtern und spitzem Kinn aus denen unregelmäßig einige Haare sprossen. Hellblaue Augen und über ihrer rechten Braue, fast parallel eine rötliche Narbe. Abwechselnd hatten sie Sven einige Fragen gestellt, doch Ihre Stimmen waren identisch, so dass er nie gewusste hatte, wer gerade sprach und beinahe hatte es geklungen, als redeten sie zur gleichen Zeit und das Ende der einen Frage akzentuierte nur den Beginn der nächsten. Sven erinnerte sich nur undeutlich an das Gespräch, das halb im Verborgenen lag, und ihm auch jetzt mit einigem Abstand und in seiner Undeutlichkeit seltsam und bizarr vorkam. „Ihr Freund hier ist der Besitzer der Bar?“ „Seit wann?“ „Hatte er in seiner Jugend jemals Nasenbluten?“ „Und Haarausfall?“ „Geschlechtsreife in welchem Alter?“ „Häufigkeit der sexuellen Aktivität?“ „Und bei Ihnen?“ Verständnislos hatte Sven sie angestarrt und sie angefleht Mo zu helfen und schließlich versucht ihnen etwas von Mo’s Worten mitzuteilen, von Gestalten die Mo manchmal sah und davon, dass Mo vielleicht nicht mehr leben wollte. „Selbstmord? Haben Sie ihn umgebracht? Nur Spaß.“, oder etwas Ähnliches war ihre Antwort und Sven hatte nur noch wütender gestottert und ihnen Mo’s Satzfetzen zusammenhanglos entgegengeworfen bis sie Sven mit übertriebenen, weit ausholenden Gesten und zugespitzten Gesichtszügen ihre Hände auf die Schulter gelegt, ihm ein paar Tabletten in die Hand gedrückt und zu einem Stuhl geführt hatten. „Wie zwei Schauspieler aus einem frühen Stummfilm bei denen jede Handlung wirkte wie Ihre eigene Parodie“, musste Sven jetzt denken. „Hören Sie“, hatten die beiden gesagt und ihre Worten hallten in Sven Ohren noch immer wider wie ein Echo. „Ihr Freund hier ist tot und das wahrscheinlich schon seit ner ganzen Weile. Nehmen Sie die erst mal, dann geht’s Ihnen schon besser und dann fahren wir Sie nach Hause. Und jetzt entspannen Sie sich erst mal. Sind ja ganz blass im Gesicht. Kein Wunder. Die Nerven. Die Nerven.“ Sven erinnerte sich nicht, was danach geschehen war. Irgendwann hatte er sich in seiner Wohnung sitzend wiedergefunden, neben ihm nichts als das beruhigende auf und ab von Peters Schnarchen, welches wie schon fast üblich die Zimmer von Svens Wohnung ausgefüllt und ihm die Zeit bis zum Morgen vertrieben hatte, als er im lokalen Radiosender erneut von Mo’s Tod erfahren hatte.

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