XV

„Herrmann, du dumme Sau!“ Schulz’ Stimme dröhnte durch die Lautsprecher im Korridor. Ein furchterregendes Stöhnen folgte, einem gepeinigten Monster gleich. Daraufhin eine Frauenstimme: „Meister! Das Mikrofon ist noch an.“ Und dann ein “Verdammte Scheiße!”, als die Durchsage abrupt verklang.

Sven und Peter nahmen Platz im opulenten Speisesaal, nachdem sie sich ohne weitere Vorkommnisse in ihrem Zimmer etwas frisch machten. Auf Peters Aussage, dass dies schon ein komischer Laden sei, reagierte Sven erst jetzt, eine halbe Stunde später: „Das ist schon echt ein komischer Laden.“, sagte er, aber Peter winkte desinteressiert ab. Er deutete stattdessen auf die Briefe in Svens Hosentasche.
„Na, willste sie nich öffnen?“
„Nee, das bringt nur wieder Unglück. Ich versteh nich, wie die hierher gekommen sind. Alter, da steht sogar als Empfänger mein Name drauf. Wie geht denn das?“
„Komm, mach schon auf. Das nennt sich Schicksal.“
Am gegenüberliegenden Tisch bemerkte Sven eine hagere Frau mit hohlen Augen, die ihn ansah wie ein weidendes Schaf, während sie emotionslos auf einem Salatblatt herumkaute.
„Okay, einen mach ich auf. Den anderen erstmal nicht. Aber welchen? Lass uns ne Münze werfen. Hast du eine dabei?“
Peter kramte unter Anstrengung eine Kupfermünze aus seiner Gesäßtasche an seiner zum Bersten gespannten Hose.
„Kopf, den grauen, Zahl, den weißen Umschlag. Kopf oder Zahl?“
„Zahl!“, sagte Sven und schmiss die Münze nach oben.

H: „Müssen wir wegen der ganzen Sache nicht erst den Chef um Erlaubnis bitten?“
D verärgert: „Halt doch’s Maul, du Möchtegern-Herkules. Was meinst du, warum wir uns ausgerechnet an diesem Ort zusammenfinden? Weil er nichts, aber auch gar nichts von unseren Plänen erfahren soll!“
H: „Aber das Menschenprojekt beenden ohne sein Wissen? Wie soll das gehen?“
Plötzlich veränderte sich die Atmosphäre der dimensionslosen Kneipe. Die Decke riss auf und gab den Blick frei auf einen pechschwarzen, sternlosen Himmel, oder ein Loch im Raum-Zeit-Gefüge oder irgendetwas anderes Unerklärliches.
H: „Scheiße, was ist denn jetzt los?“
Violette Blitze durchzuckten lautlos das schwarze Nichts. Hannes tippelte nervös mit den Fingern auf dem Tresen herum. Pan und Dionysos sahen besorgt dem entgegen, was sich dort anbraute. Mo zapfte unentwegt Bier, aber nicht mehr in Gläser, sondern auf den Fußboden. Ein leichtes Grollen wurde hörbar.
P zu D: „Er kommt.“
D: „Scheiße! Wie zum Teufel hat er uns gefunden?“ Panisch zu den Halbgöttern: „Verkriecht euch, schnell. Wenn er euch hier sieht, seid ihr geliefert.“
Ein Blitzschlag krachte mit ohrenbetäubendem Lärm ins Fragile Säuferglück, das sich mehr und mehr auflöste.

Sehnte sich auch einst ein sterbliches Wesen
Nach seiner zerstörerischen Macht der Gewitter
Ward er bestraft, doch sei’s drum gewesen
Die Erde erschüttert
Gegner zersplittert
Jugend verwittert
Alles erzittert
Vor Zeus, dem Zerficker

„Zahl!“ Sven nahm den weißen Umschlag und öffnete ihn vorsichtig. Im selben Moment betraten Schulz, Herrmann und eine rothaarige Frau den Saal, während sich seine Jünger erhoben und ehrerbietend verbeugten.
„Was steht drin?“, drängte Peter.
Sven überflog, während er mit seinen Augen gebannt dem seltsamen Trio folgte. „Ihre persönlichen Zugangsdaten für das Jobcenter-Trainingsportal. Microsoft Office spielerisch lernen. Bei Nichtanwendung droht eine Kürzung Ihrer Sozialleistungen.“
Peter sah ihn lange Zeit nichtssagend an.
„Was für eine dumme Scheiße!“

XIV

H: „Jetzt aber sachte. Das Menschenprojekt wird eingestellt. Warum denn gleich so rabiat?“
D: „Nichts rabiat, konsequent. Die Menschen sind auf Irrwegen und wir sind die Erlöser all der verschenkten Leben.“
Die Biergläser häufen sich auf der Theke, doch Mo zapft unbeirrt weiter, den Blick auf seine Hände gerichtet.
P nachdenklich trinkend: „Mir solls recht sein, hab eh nie verstanden, warum wir den Scheiß gestartet haben aber dann ohne diesen schwülstigen Erlöserpathos.“
H: „Also eigentlich fand ich es immer ganz schön zwischen dem ganzen Pack. Man konnte sich ausleben und man selbst sein.“
P: Als ob du da jemals was anderes gemacht hast als hier. Nur das Säuferglück hieß eben Schmiedehammer.
Mo von seinen Händen aufschauend: „Fragiles.“
D: „Schnödes.“
P: „Lächerliches.“
H: „Penetrantes.“
D: „Was los Mo, noch nicht ganz sauber in der Birne?“
Mo: „Fragiles Säuferglück.“
D, P und H gleichzeitig aufatmend: „Ah.“
Mo: „Da muss man schon penibel sein. Wenn nicht da, wo dann?“
H: „Der alte Mo. Weiß immer, wie man eine Situation rettet.“
P: „Im Gegensatz zu dir.“
D: „Wie dem auch sei, mein Entschluss ist endgültig.“
H: „Aber…“
D: „Nichts aber.“
P: „Die Zeit ohne uns hat ihn weich gemacht.“
D: „Ohne mich.“
Die einsetzende Stille wird nur durch das beruhigende Plätschern des Biers in den sich unaufhörlich füllenden Gläsern unterbrochen.
D: „Mo, eifrig wie eh und je. Ohne zitternde Hände zapfts sich gleich viel leichter, was? Was macht eigentlich unser anderer Bote? Neuigkeiten?“
H kichernd: „Die fette Qualle folgt seinem Schatten auf Schritt und Tritt. Scheint seinen Partner fürs Leben gefunden zu haben und genießt seine Zeit in vollen Zügen.“
Mo irritiert seine Hände musternd: „Wenigstens einer macht, was er soll. Und jetzt Ruhe und trinkt.“
D, H und P leeren pflichtbewusst ihre Gläser.
D nach einiger Zeit: „Wir müssen ihn kontaktieren.“

„Eine Vision!“, Sven klang aufgeregt. „Peter, eine Vision und zack dein Leben sieht anders aus. Umgefallen, aufgestanden und alles so weitergemacht wie bisher, nur anders. Meinst du sowas kann mir auch passieren?“ Der Schlag kam ohne Ankündigung und traf Sven mitten im Gesicht. Lachend stand Peter neben Sven und beobachtete, wie der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht die Nase hielt und mühsam auf die Beine kämpfte.
„Was zum Teufel?“
„Na na na. Übermut tut selten gut.“
„Und dann haust du mir einfach eine rein.“
„Für die Erleuchtung. Was machen die Visionen?“
Wütend wollte Sven davonstürmen. Er malte sich aus, wie Peter beschämt zurückblieb, sich immer aussichtsloser in den Windungen von Schulz‘ Schloss verstrickte, bis ihm schließlich, in den tiefsten Katakomben Herrmann auflauerte und Peter so die Erkenntnis seines Irrtums ereilte. Doch gerade als er sich umdrehen wollte, sah er vor sich auf dem Boden zwei ungeöffnete Briefe. Triumphierend reckte er sie in die Höhe und rieb sie Peter ins Gesicht, während aus seiner Nase langsam das Blut rann. „Vom Arbeitsamt, vergessen und wiederentdeckt. Meine Vision und Erleuchtung.“
Angewidert schloss Peter die Augen. „Oh Mann, meine Erleuchtung das Arbeitsamt. Sag mal Sven, geht’s noch?“

XIII

„Was machst du denn?“, fragte Sven.
„Ja!“, sagte Peter. „Was wissen wir denn schon von dir, außer dass du ne Kneipe hattest und samstags aufm Fußballplatz ausgeschenkt hast?“
Schulz musterte die beiden scharfäugig und erwiderte mit einer gewissen Genugtuung in der Stimme: „Na, das halt. Ich schenke aus, alles mögliche, nur jetzt jeden Tag.“ Er lachte und zog eine Schublade an seinem Massivholzschreibtisch auf. Er griff hinein und holte drei Zigarren heraus. „Lange nicht gesehen, Jungs. Schön, dass ihr mal vorbeischaut. Hier, kubanische.“
Sven verzog das Gesicht. „Nein, danke.“ Peter griff beherzt zu.
„Nun“, sagte Schulz, während er sich und Peter die Zigarren anzündete und ein paar Mal genüsslich paffte, „eines schönen Tages ging ich gutgelaunt zu meiner Gaststätte, machte mich daran, das Essen zu kochen, bereitete das Tagesgeschäft vor, alles wie immer, als mir plötzlich schwindelig wurde und ich in Ohnmacht fiel. Als ich wieder zu mir kam, standen viele Leute um mich rum, alles Dorfnasen, die mir schielend und lallend auf die Schulter klopften und ins Gesicht, und die ekelhaft lachten, als ich mich wieder aufrappelte. Alle dachten, ich hätte zu viel gesoffen und keiner von denen hatte es fertiggebracht oder wäre auch nur auf die Idee gekommen, einen Krankenwagen zu rufen.“
Er inhalierte einen tiefen Zug Zigarrenrauch und ließ den Blick schweifen. Sven und Peter folgten gespannt seinem Blick.
„An diesem Tag wurde mir etwas klar. Er blies einen großen Rauchschwaden fast in Zeitlupe aus. Auf Menschen ist kein Verlass, außer auf dich selbst.“
Nach einer merkwürdigen Pause sagte Sven plötzlich: „Das ist die banalste Geschichte, die ich je gehört habe. Was hat das mit diesem Haus hier oder überhaupt mit irgendwas zu tun?“
Schulz schlug mit den Fäusten auf den Tisch. „Natürlich ist das banal, du Schlaumeier! Das ganze verfickte Leben ist banal. Aber was bist du blöd, mitten in meiner Geschichte sowas zu sagen? Gut, habe verstanden, dann kürze ich die Sache ab: An diesem Tag schwor ich mir, das stumpfe Dorfleben, den Fußball und das ganze undankbare Pack hinter mir zu lassen. Dann ließ ich meine abgewrackte Kneipe in diesen Hochglanztempel umbauen; die Gesichter der ganzen Klappspaten während der Bauarbeiten hättet ihr sehen sollen. Ich sag nur: strengste Geheimhaltung. Die Gerüchteküche war natürlich am Brodeln. Ob ich völlig übergeschnappt wäre und einen Schlachthof bauen würde, um meine eigenen Würstchen zu verkaufen, so wie der Hoeneß. Ha, diese Deppen. Ich lief indes nur noch incognito rum, um die Verunsicherung weiter voranzutreiben. Es ging sogar soweit, dass die Bauarbeiter bedrängt wurden, ihnen zu erzählen, was mit mir passiert sei. Die glaubten wahrscheinlich, dass ich entführt oder verstorben sei und dass auf meinem Grundstück eine riesige Beautyfarm entstehen würde. Jedenfalls“, holte Schulz mit einem breiten Grinsen aus, „jetzt sitze ich hier, seht mich an, von überall her strömen stumpfe Gestalten in mein Kunstkloster und bezahlen ein Heidengeld dafür, sich den Großteil des Tages anschweigen und mir ab und zu bei meinen Gesangsübungen zuhören zu dürfen. Denn ich verfolge seit jenem schmachvollen Tag der Erkenntnis nur ein Ziel, nämlich mein Leben voll und ganz auszukosten.“ Ein Windzug umwehte seine schüttere Mähne. Peter kniff die Augen zusammen, als würde er geblendet.
„Zwei Dinge sind es, die mich antreiben: Geld und die bedingungslose Hingabe an Classic Rock.“
Schweigen breitete sich im Raum aus. Nach einer gefühlten Ewigkeit sagte Sven: „Ach ja, war n schöner Auftritt vorhin. Das Lied kannte ich irgendwoher.“
„Ja, wer da keinen Ständer kriegt, hat kein Herz!“, erwiderte Peter und beide lachten hysterisch los.
„Wollt ihr euch über mich lustig machen? Nun gut, dann geht zurück auf euer Zimmer. Bald ist Abendbrot, es wird eine Durchsage geben. Noch irgendeinen Wunsch? Vielleicht ne Lebensweisheit?“
„Ja, Schnee wär jetzt geil!“, sagte Peter.
Verdutzt starrte Schulz ihn an. Dann fuhr er sich stürmisch durchs Haar und durchsuchte mehrere Schubladen. „Ihr nun wieder“, sagte er, „muss gucken, ob ich noch was da hab. Das Zeug ist nicht so leicht zu bekommen, wisst ihr.“
Sven und Peter schauten sich fragend an und signalisierten diskret, dass der alte Schulz einen an der Klatsche hatte.
„Ich würd noch ne Lebensweisheit mit auf den Weg nehmen, wenn’s recht ist.“, sagte Sven schmunzelnd.
„Also gut!“, entgegnete Schulz, nachdem er sich wieder geordnet hatte. „Hier die Weisheit des Tages: Bleibt unbeweibt! Die Fickerei bringt nur Probleme.
Und jetzt husch husch!“

Auf dem Weg zurück zum Zimmer wussten die beiden nicht, was sie sagen sollten. So liefen sie wortlos die sprechenden Gänge entlang, während draußen unbemerkt dicke, weiße Flocken vom Himmel fielen.

XII

„Die Bewegungen der weißen Menge fügten sich dem Rhythmus der Musik. Das Einzelne wurde hinweg gerissen vom Wogen der menschlichen Welle. Das Individuum zerfiel in seine Einzelteile und wurde hinein gesogen in den pulsierenden Leib des Überkörpers. Ich war viele und ich musste nicht mehr sein.“

Die große Halle hatte sich mittlerweile geleert, der Rauch war abgezogen und die Lichter, die den alten Schulz eben noch in ein auratisches Licht getaucht hatten, waren einem gelblich flackerndem Kerzenschein gewichen. Der Raum war leer und nur der Geruch von schweißgebadeten Körpern hing noch im Raum. Nach dem ersten Lied hatte die schweigende Masse begonnen sich schneller im Takt zu wiegen. Körper hatten sich entzückter aneinander gerieben, bis schließlich ein summender Choral eingesetzt hatte, der beim dritten Lied in wilde unkontrollierte Schreie übergegangen war. Die Jünger, vom Schweigegelübde befreit und dem Regelwerk der heiligen Stätte entbunden, hatten sich ihren animalischen Instinkten und Regungen ergeben. Wie Peter und Sven später von einer der Empfangsfrauen erklärt wurde, endete mit dem Aussetzten des Gelübdes eine Periode der Vernunft, von geistiger und kreativer Produktivität und schuf Raum für eine spirituelle Reinigung. Die unbedingte Hingabe an alles körperlich, an alles nicht-geistige, ungehemmte Gewalt und Sexualität, solange sie den anderen nicht nachhaltig schädigte, sollte die Jünger einmal täglich befreien von der Last des Fleisches und der Natur, die ihre Gedanken bedrückte und ihre Fähigkeiten hemmte. Es gab in dieser halben Stunde nichts was zu tun war und nur wenig was nicht getan werden durfte.

„Viele Religionen und philosophische Strömungen, hatten das Problem der Restriktion und Beschneidung bestimmter Aspekte der menschlichen Natur. Wir sind der Ansicht, dass die modernen Werte des Humanismus und des Liberalismus tatsächlich zum Wohl der Gesellschaft beigetragen haben und doch denken wir, dass eine Trennung von körperlicher und geistiger Freiheit eher dem Ideal des modernen Menschen entsprechen. Die Phase des Geistes gibt die Freiheit für eine Beschäftigung mit dem Tiefsten Inneren, für einen Ausdruck der eigenen Person ohne kultur- oder kunsthistorisches Korsett und ohne Wertung oder Ziel. Man könnte es als metaphysischen Kreislauf der Selbsterkundung bezeichnen. Was wir auch tun. In der Phase des Fleisches bieten wir Raum für eine physische Erkundung des Selbst. Wir ermutigen die Teilnehmer dazu, mit ihrer Körperlichkeit zu experimentieren, die intersubjektiven Machtstrukturen und Moralgebilde einzureißen und sich mit ihrem animalischen Kern auseinanderzusetzen. Die schrittweise Lösung von nie hinterfragten Konventionen, wird schließlich in der nächsten Phase des Geistes reflektiert und findet Eingang in die eigene Arbeit, sei sie nun künstlerischer, wissenschaftlicher oder ökonomischer Natur. Erkenntnis und Erleuchtung ist für uns kein Momentum, kein plötzliches Ereignis, das unserer Bewusstsein durchschneidet und unserer bisherige Existenz in ihren Grundstrukturen erschüttert, sondern ein andauernder Prozess, der ständiger Überprüfung erfordert, den eigenen Zweifeln und sich wandelnder Einsichten ausgesetzt ist.“

Atemlos hatte die junge Frau, die sie vor kurzem empfangen hatte, ihren Monolog beendet und begonnen ihre auf den Boden verstreuten Kleider aufzusammeln. Sven und Peter waren ihr durch Hallen und Korridore gefolgt, ihr Rücken, ein leuchtendes Mosaik aus Schweißperlen und blutigen Kratzern, wie ein abstrakter Wegweiser immer vor ihren Augen. Als sie schließlich vor einer Holztür angekommen waren, hatte sie sich vor ihnen verbeugt und begonnen sich zu bekleiden. „Der Meister duldet es nicht, wenn jemand, seine Privatgemächer betritt. Bitte betrachtet es als ausgesprochene Ehre, dass er nun bereit ist, eine Privataudienz im Allerheiligsten zu gewähren.“

„Die Bewegungen der weißen Menge fügten sich dem Rhythmus der Musik. Das Einzelne wurde hinweg gerissen vom Wogen der menschlichen Welle. Das Individuum zerfiel in seine Einzelteile…“, der alte Schulz hielt Svens Notizbuch in seinen Händen und sein und Peters Gelächter erschütterten die kleine Nische des holzvertäfelten Raums in dem sie saßen..
„Meine Fresse Sven, die Vorführung scheint dich ja tief bewegt zu haben.“, Schulz nahm einen tiefen Zug von seinem Bier, zündete sich eine Zigarette an und reichte auch Sven und Peter zwei Gläser. Er hatte seine enganliegende weiße Hose gegen einen Jogginganzug getauscht.
„Nein ehrlich, das ist groß, das ist stark, das hat Potenzial. Ich habe Jahre für den Scheiß gebraucht und du spazierst hier rein und innerhalb von ein paar Minuten schreibst du hier diesen metaphysischen Wahnsinn. Ich sollte dich als PR-Leiter einstellen. Oder noch besser, du solltest den Laden hier schmeißen. „Ich war viele und ich musste nicht mehr sein.“ Stark, wirklich stark.“
„Achso na gut, danke. Schön.“, Sven nippte irritiert an seinem Bier und dem Kurzen, der sich wie aus dem Nichts vor ihm materialisiert hatte. „ Also nun ja, eigentlich verstehe ich das hier nicht.“
„Kein Grund zur Sorge.“, Schulz lächelte verschmitzt. „Ich kenne diesen Gesichtsausdruck. Jeden mal, wenn ich hier mit jemanden sitze, ist es das gleiche. Schau mal nach oben.“ Svens Blick wanderte zur Decke und was zuerst nur als flüchtiger Schatten erschien, löste sich langsam aus der Dunkelheit, schwang sich elegant zu ihrem Tisch und stellte drei neue Schnapsgläser vor sie.
„Richtig, richtig.“, Schulz strahlte. „Mein Barkeeper!“ Lautlos landete der Affe auf dem Tisch, verbeugte sich höflich und reichte erst Peter, dann Sven die Hand, bevor er seine Schürze gerade zupfte und wieder hinter der Theke verschwand. Peter applaudierte begeistert und machte anerkennende Geräusche. „Sven ein Affe als Barkeeper!“
„Nunja, das ist ja was. Aber das meinte ich eigentlich gar nicht.“
Schulz wirkte enttäuscht. „Schade.“
„Was soll denn das hier oder das da draußen oder das hier drin und da draußen.“
„Die Zeiten ändern sich.“, Schulz‘ Blick schweifte in die Ferne. „Eigentlich mach ich immer noch das, was ich früher gemacht habe, nur anders und für mehr Geld.“

XI

D: „Mo, jetzt sag schon.“
Mo, eine Kerze anzündend: „Ich glaube, ich wurde langsam verrückt. Musste weg. Hab wahrscheinlich nen Doppelgänger da unten.“
D, H und P gleichzeitig: „Doppelgänger!?“
Mo: „Ja, vielleicht ein Agent, auf mich angesetzt. Ich sag’s euch: Die Dinge laufen aus dem Ruder.“
D: „Mal langsam, Mo. Wie muss ich mir das vorstellen? Läuft da jetzt noch einer wie du rum, so…“
H: Lachend „…Mit Hinkebein und allem Drum und Dran?“
P: „Sei still. Hast deinen Auftrag schließlich auch vermasselt. Inzestuöses Halbgötter-Pack!“
D. „Haltet beide die Schnauze! Mo, was kannst du berichten?“
Und Mo erzählte von einem Mann namens Herrmann Mann, einem vom Leben bitter enttäuschten Idealisten, der aufgrund seiner perversen Neigungen ins Exil flüchten musste, wo er sich mit anderen gescheiterten Existenzen einer falschen Gottheit verschrieben hat. Seltsame Dinge gingen dort vor sich, gefährliche Dinge, die die göttliche Schöpfung durcheinanderbringen vermochten.
Betroffenes Schweigen machte sich im ‚Fragilen Säuferglück‘ breit, an dem Ort, wo es keine Zeit gab, wo alles nichts war und alles alles sein konnte.
D, finster und mit ernstem Ton an die Runde: „Das Menschenprojekt wird eingestellt.“

„Achtung, Achtung! Einleitung der Plauderphase. In zehn Minuten ist es wieder soweit: Unser Meister tritt im Saal der Verheißung auf. Alle Bewohner sind aufgefordert, sich unverzüglich auf den Weg dorthin zu begeben. Das Reden ist ab jetzt für eine Stunde erlaubt. Vielen Dank!“

Sven und Peter sahen sich verdutzt an.
„Was ist das hier nur für eine Freakshow?“, fragte Peter.
„Klingt doch toll!“, entgegnete Sven. „Lass uns schnell diesen Saal suchen.“
Plötzlich ertönte sanfte Rockmusik aus den Lautsprechern im Korridor. Peter und Sven verließen den Raum und sahen, wie weiß gekleidete Menschen wahllos aus ihren Zimmern und wie am Faden gezogen Richtung Wendeltreppe nach unten strömten.
„Mensch, Peter!“, sagte Sven aufgeregt. „Lass uns denen anschließen.“
„Ich weiß nicht! Irgendwie hab ich kein gutes Gefühl dabei, mich der Zombieparade anzuschließen.“
„Komm schon, wir wollen doch zum Meister, also zum Schulz. Komm!“
Der Weg verlief im Grunde unspektakulär, runter in die erste Etage, vorbei an den bizarren Kunstwerken und Parolen, zur Eingangshalle, wo eine Abzweigung in einen weiteren, prächtigen Korridor führte, an dessen Ende sich ein riesiges Tor befand, das mit einer weißen Schlange verziert war.
„Warum redet keiner von denen?“, bemerkte Peter, an den Hacken der übrigen Bewohner trottend. „Die hat doch gesagt, es sei erlaubt.“
„Wir genießen die Musik.“, sagte Sven. „Irgendwie kommt sie mir bekannt vor. Wunderschön!“
„Wir? Die, betonte er überdeutlich, haben uns noch nicht mal eines Blickes gewürdigt. Ich glaub, die sind nicht ganz sauber.“
„Lass dich einfach drauf ein.“, grinste Sven.

Am Schlangentor stand die Empfangsfrau und wartete auf die Bewohner. Lächelnd vergewisserte sie sich, dass auch alle anwesend waren. Dann öffnete sie die Pforte und sogartig ließen sich alle Bewohner hineinziehen. Sven und Peter trabten etwas vorsichtiger hinterher, an der Frau vorbei, die sie völlig auszublenden schien, denn sie schloss sogleich das Tor, als die beiden den Saal betreten hatten.

“I should have known better than to let you go alone.”, ertönte es auf einmal von der Bühne am Ende des komplett weißen Saales.
“It’s times like these I can’t make it on my own.”
Und zwischen den Rauchschwaden einer Nebelmaschine erschien schemenhaft der Umriss eines Mannes.
“Wasted days and sleepless nights.”
Weißes Stoffhemd und weiße Stoffhose, barfuß, lange, goldene Mähne, leicht schütter, aber geschmeidig, Bierbauch und Drei-Tage-Bart, kurzum: die Erscheinung eines sündigen Engels.
“And I can’t wait to see you again.”
Die Bewohner hatten sich derweil schon mit hochgerissenen Armen um die Bühne verteilt und bewegten diese leidenschaftlich von links nach rechts, als der Sänger zur zweiten Strophe ansetzte.
„Meister!“, stieß es aus Sven heraus, bei dem die Musik und generell das ganze Ambiente einen Nerv getroffen zu haben schien.
„Der alte Schulz!“, sagte Peter trocken und lachte lautstark gegen die Geräuschkulisse an.

X

Herrmann saß nackt auf seinem Bett und meditierte. Das Licht, das durch das übergroße Fenster in den vollkommen weißen Raum fiel, erzeugte sich kreuzende Schatten, die sich wie ein Netz auf seine Haut legten und die auf dem Boden verstreuten Modelle und die Extremitäten im entstehen begriffener Skulpturen zu einem surrealen Geflecht verwoben. Köpfe und Arme von Menschen und Fabelwesen lagen in wirrer Reihung, ungebunden und autark von widerspenstigen Körpern und einem beherrschenden Geist, waren sie frei vom Zwang der Rationalität und konnten sich in fleischlicher und sinnloser Lust miteinander vereinigen. Beine näherten sich schüchtern und unauffällig Händen und Brüste verwuchsen selbstbewusst mit benachbarten Rücken und Penissen. Herrmann schüttelte sich. Schweiß stand auf seiner Stirn und zitternd versuchte er sich von den albtraumhaften Visionen zu lösen. Dunkelheit hüllte große Teile seines Rückens ein, doch ein Mandala aus lichternen Rechtecken wärmte die auf seine Brust fallenden Tränen.

Herrmann sah sich, wie er langsam die Tür seines Hauses öffnete. Stille, wie immer, doch dann Geräusche, Lachen und zerbrechende Keramik, splitterndes Glas. Vorsichtig nahm er ein Netz aus dem neben der Tür stehenden Schrank, schlich die Treppen hinauf und öffnete die Tür zu seiner Werkstatt. Er hatte damit gerechnet, dass dieser Augenblick irgendwann kommen musste und erkannte sich gleichermaßen als Frankenstein und sein Monster, die nun vom Pöbel gerichtet wurden. Die metallenen und tönernen Skulpturen, die er hier nach seiner Arbeit, in einer naheliegenden Fabrik für Plüschtiere schuf, waren schon immer auf Ablehnung gestoßen. Nachdem er sie in einer kleinen Ausstellung in seinem Heimatort gezeigt hatte, war er als der Perverse von Todendorf verschrien und immer wieder hatten Graffiti mit Aufschriften wie „Tod dem Perversen“ sein Haus geschmückt. Herrmann trat durch die Tür und sah wie seine Frau in lüsterner Ekstase auf einer seiner Statuen saß. Ein riesenhaftes eisernes Zwitterwesen, halb Zyklop, halb Eidechse mit erigiertem Penis, auf dem Herrmann’s Frau sich nackt auf und ab bewegte und dabei von dem örtlichen Polizeichef im wütenden Spiel der Liebe vor und zurück geschleudert wurde. Die Scherben und Überreste der anderen Werke waren auf dem Boden verteilt, Bruchstücke vergebenen Ausdrucks und undefinierbarer Sehnsüchte und Ängste, die nun den Boden bereiteten für ein ungesehenes Schauspiel der Lust und Demütigung. Als seine Frau merkte, dass Herrmann das Zimmer betreten hatte, schaute sie ihn lächelnd und herausfordernd an und stöhnend formte sie mit dem Lippen das verhasste Wort „Perverser“. Unfähig seinen Körper zu bewegen oder seinen Blick abzuwenden, hatte Herrmann den Akt beobachtet und geschwiegen, Zeit und Raum vergessend und nur den Tanz unmöglicher Stellungen, Positionen und wirbelnder roter Haare beobachtend. Als er sich nach Unendlichkeiten relativer Zeit, endlich aus seiner Erstarrung löste, spürte er, dass etwas fundamentales zerbrochen war. Seine Statuen waren entweiht. Durch die Unzüchtigkeit der figurativen Sexualität hatte er sich etwas grundsätzliches bewahren wollen, eine unbestimmte Form geistiger Keuschheit. Eine Reinheit des Gefühls natürlicher Erfahrung, die frei war von menschlicher Intention und Zielen, und die erst jetzt mit ihrer Zerstörung greifbar wurde. Das Netz in seinen Händen, spürte Herrmann die aufsteigende Wut immer wiederkehrender Enttäuschung und Erniedrigung. Er dachte an den Augenblick, in dem seine erste Frau, kurz vor der jungfräulichen Vereinigung angeekelt die Flucht ergriffen hatte, als sie sein verstümmeltes nacktes Bein erblickt hatte, dass sonst unter dem Schutz der Kleidung verborgen lag. Die Erinnerungen hoben das Netz in Hermanns Hand und warfen es über sein Frau und den Polizeichef, die in aufsteigender Panik, vereinigt und gefangen, durch den Raum und die Scherben gezogen wurden. Und die Erinnerung war es, die Herrmann die beiden eingenetzt an das Bett im Schlafzimmer fesseln ließ und Freunde und Verwandt anrief, um auch seine Frau bloßzustellen, wie er bloßgestellt war. Doch als erst die Freunde und dann die Polizei, nach und nach in ihr Haus kamen, gab es kein Gelächter und keine Rache, sondern Handschellen und Knüppel und am Tag nach der Festnahme zeichneten die Zeitungen ein klares Bild des „Wahren Gesichts des Perversen von Todendorf“. Verschwommen war die Zeit im Gefängnis und verschwommen hatte Herrmann die korpulente Gestalt in Erinnerung, die ihm aus den Gefängnis abgeholt und in ein neues Leben geführt hatte.

Das Betttuch unter Herrmanns muskulösen Körper war mittlerweile nass von den Tränen, die das Bild seiner Tochter spiegelten, die er seit mehr als zwanzig Jahren nicht gesehen hatte und nur mühsam gelang es ihm seinen Geist zu fokussieren. Als er die Augen öffnete erblickte er den Schriftzug an der ihm gegenüberliegenden Wand: „Die Kunst hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis aufhören wird. Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist Stückwerk. Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk aufhören. Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat ich ab, was kindlich war. Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin. Nun aber bleiben Freiheit, Ekstase, Kunst, diese drei; aber die Kunst ist die größte unter ihnen.“ (Schulz)

IX

„Eine kleine Blutfontäne stieß aus Peters Schädelplatte hervor und besprenkelte den weißen Marmorboden.“ Sven tat so, als würde er aus einem Buch vorlesen.
Peter fasste sich hastig an den Kopf und schimpfte: „Lass den Quatsch! Der behinderte Hippie hat mir voll eine verpasst.“
„Entschuldigen Sie bitte die etwas rüde Art von Herrn Hermann“, meldete sich die junge Frau zu Wort, „aber wir befinden uns hier in einem Schweigekloster. Lautstarkes Reden sowie hektische Bewegungen sind untersagt und selbst im Eingangsbereich unerwünscht. Einige unserer Langzeitgäste reagieren dementsprechend ungehalten auf intensive äußere Einflüsse, wie eben Herr Hermann, der Sie für Ihre Entgleisung gerügt hat.“
„Gerügt?“, stammelte Peter ungläubig.
„Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Wir haben Kokoswasser und stilles Wasser mit Elektrolytpulver zur Auswahl.“
„Nein, danke!“, sagte Peter.
„Ich versuch’s mit nem stillen Wasser, ohne Elektro…“
„Das Elektrolytpulver ist nicht optional. Hier bitte. Ich schreibe es auf Ihr Zimmer.“
„Zimmer?“, fragten beide unisono.
„Ja, folgen Sie mir bitte.“

Und so gingen die drei, angeführt von der mysteriösen jungen Frau, den Korridor entlang, vorbei an Skulpturen und Gemälden, von denen eins seltsamer anmutete als das andere. Hin und wieder hielten Peter und Sven inne, um eines dieser Werke näher zu betrachten, so zum Beispiel das Triptychon: Einhorn mit Hut, Einhorn mit Glatze & Einhorn ohne Horn, welches keine Unterschiede zwischen den drei Einzelbildern aufwies, denn auf jedem war ein gewöhnliches Pferd zu sehen. Sie erreichten eine Wendeltreppe, die sie zur zweiten Etage hinaufführte.
„Dies ist der Wandelgang der Inspiration.“, sagte die junge Frau euphorisch, verzichtete aber auf weitere Details. Sven und Peter nahmen sie kaum wahr, denn ein langer Schriftzug an der Wand erhaschte ihre Aufmerksamkeit. Da stand: Müßiggänger aller Länder, vereinigt euch!
„Och!“, murmelte Sven vor sich hin.
„Es ist schon verrückt!“, sagte die junge Frau plötzlich. „Wir sind umgeben von diesen grandiosen Errungenschaften der Technik, aber wissen nicht, wie und warum sie funktionieren. Telefonie, Internet, Motor, Batterie, Radio, Fernsehen, Elektrizität, Atomkraftwerke. Es ist schon erstaunlich, wie wenig wir hinterfragen und als selbstverständlich hinnehmen, oder?“
Peter und Sven nickten zurückhaltend.
„Aber all hat uns hier nicht zu kümmern.“, sagte sie fröhlich. „Herr Schulz entgeht all diesen bedrückenden Fragen durch die totale Hingabe an die Kunst. Aus diesem Grund schuf er dieses Refugium der Künste, in dem alle Warum-Fragen und überhaupt die meisten W-Fragen unbeantwortet, ja sogar ungestellt bleiben. Er entzieht durch die Schönheit und Indifferenz der Kunst jedweder menschlicher Egomanie und allzu rationalen Weltanschauungen die Kraft, zugunsten eines ungezügelten, kreativen Spiels der Sinne. Sie können sich wahrlich glücklich schätzen, den Weg zu unserem Meister gefunden zu haben.“, quietschte sie vergnügt.
„Meister Schulz? Also kein Regent und auch kein Guru…“, staunte Sven, aber niemand reagierte darauf.

An einer weiteren Wendeltreppe ankommend, sagte die Frau: „Hier hoch geht es zu den Zimmern. Sie sind im ‚Glücklichen Hirten‘ untergebracht.“ Sie kamen zum Stehen und sahen neben der Zimmertür einen eingerahmten Spruch:

Glück gestalten und bewahren! Das Glück wohnt nicht mit niederen Zielen, Selbstsucht und Verstimmung unter einem Dach. Es ist ein Freund von Harmonie, Treue, Schönheit, Liebe und Einfachheit. Glück ist eine Folgeerscheinung. Davor kommt stets das, was wir tun und getan haben, kommt stets in der Liebe eben die Liebe und im Leben die Leistung.“ (Schulz)

„Das soll der Schulz gesagt haben“?, fragte Peter nach kurzem Schweigen.
„Nein, der Meister hat sich dieses Zitat einverleibt; das ist künstlerische Freiheit. Ich lasse Sie dann vorerst alleine. Melden Sie sich doch einfach bei Gelegenheit wieder an der Rezeption, sobald Sie sich eingerichtet haben.“ Daraufhin verschwand sie die Wendeltreppe hinunter.
„Einrichten?“, fragte Peter. „Womit denn? Wir haben doch gar nichts dabei.“
Sven guckte Peter freudestrahlend an. „Also mir gefällt es hier.“, sagte er und Peter spürte, dass in diesen merkwürdigen Hallen Kräfte auf seinen gutgläubigen Freund wirkten, die ihn einzunehmen drohten.

VIII

Der Eingangsbereich des Hauses wirkte zugleich albern und opulent. Wo einst holzvertäfelte Wände die kleinen Räume und Nischen vor spannenden Blicken geschützt und alles in eine zwielichtige Welt der Zeitlosigkeit und Möglichkeiten getaucht hatten, erstreckte sich nun ein heller Saal post-geo-klassizistischen Kitschs. Weiße Säulen drängten sich dicht aneinander und gegen die Wände, Eisen- und Messingstatuen von nackten Jünglingen und in sich verschlungenen Menschen und Gliedern akzentuierten die überbordende Fülle des Raumes und an den bescheidenden Freiräumen der Wände fanden sich in unbestimmter Abfolge Darstellungen von biblischen Szenen, griechischen Mythen und perspektivlose Zeichnungen kopulierender Paare. Durch ein großes Loch in der Decke fiel Licht auf einen in der Mitte des Raumes befindlichen metallenen Brunnen, der verziert war mit einem übermütigen Mandala verschiedenster Götterskulpturen aus allen erdenklichen Erdräumen und -zeiten. Ein süßlich-stechender Geruch von Harmonie und Entspannung lag in den vom Brunnen aufsteigenden Dampfschwaden, die den Stuck an der Decke fast vollständig einhüllten. Das Atmen fiel schwer in der von Bedeutung überfüllten Luft. Sven schaute sich zweifelnd um und dachte daran, dass die überschaubaren Ausmaße des Zimmers zu klein waren für die Größe von Schulz‘ Vision.
„Mann, o Mann, was für eine Bude. Der alte Schulz. Post-religiöser-Sexguru der Ekstase und des Kitsches.“ Peters Augen funkelten und erregt lief er von einer Skulptur zur Anderen und befühlte liebevoll ihre Körper. Seine Schritte und Ausrufe, hallten donnernd von den Wänden wieder. Nach einer Weile, in der sich Peter immer hemmungsloser seiner aufkeimenden Faszination ergeben und Sven ihn aus einiger Distanz gleichgültig beobachtet hatte, vermischte sich der von Peter ausgehende Lärm, mit einem leisen, bedächtigen Tapsen, dem lange schlurfende Laute folgten.

„Sven, schau dir das mal an. Verdammt. Und das hier!“ Peter stand vor einem etwa zwei Meter großem, schwarzen Elefanten, der vollständig in eine mit Stacheln versehene Rüstung gehüllt war. Aus seinem Rücken ragten, ab den Waden aufwärts, die Marmor-weißen Körper zweier ringender Athleten. Fest ineinander verkeilt in einer Meditation der Gewalt schienen sie nicht zu bemerken, wie sie immer tiefer im Fleisch des Elefanten versanken. Aus allen Winkeln betrachtete Peter die bizarre Skulptur und achtete nicht auf das lauter werdende Geräusch, als aus dem Nebel hinter ihm ein bärtiger Mann mit freier Brust und einem langen Gewand trat. Er beugte sich schwerfällig auf einen großen Gehstock und die Falten unter seinen Augen und die alten, zu schweren Muskeln, die obszön unter dem winzigen Stück Stoff, das er trug, hervorragten, schienen ihn unnachgiebig Richtung Boden zu ziehen. Mühsam trotzte er der Schwerkraft und seine zu klein geratenen Beine und Arme, waren unfähig den Bewegungen des restlichen Körpers zu folgen. Das rechte Bein war kürzer als das linke und auf unbestimmte Weise verkümmert. Als sich Peter zu Sven umdrehen wollte, blickte er direkt in das Gesicht des alten Mannes.

„Hallo Schulz, oder Guru. Sven meint ja eher Regent. Also, wir sind hier um mit dir zu spre….“. Ein Knall ertönte und Peter sank auf die Knie. Ohne Ankündigung, hatte der Alte sich aufgestellt, seine Krücke über den Kopf erhoben und Peter auf den Kopf geschlagen. Nun nahm er ihn bei der Schulter und zog ihn hinter sich her. Sven hatte das Geschehen aus einiger Entfernung beobachtet und das erste mal, seitdem sie an diesem Morgen das Haus verlassen hatten, würdigte er Peter für seine Idee Schulz‘ aufzusuchen. Langsam folgte er den beiden in den nächsten Raum, in dem eine junge Frau bereits auf sie wartete.

„Also, sagen Sie mal.“, Peters Stimme war aufgebracht „Sie Schulz, Mann Guru, was war das denn für ne Nummer. Was hat es hier überhaupt mit diesem Schweigeretreat auf sich? Wir sind hier.“
Gebieterisch legte die Frau einen Finger auf die Lippen und der alte Mann erhob seinen Stock zum neuerlichen Schlag. Peter verstummte.
„Sehr gut. Herr Peter, Herr Sven, wie ich sehe, haben Sie Ihren Weg zu uns gefunden. Leider wird es Ihnen in den nächsten Tagen nicht möglich sein, persönlich mit unserem Guru zu sprechen. Deshalb haben wir sie, sozusagen übergangsweise, in unser Spezialprogramm aufgenommen. Glücklicherweise haben Sie schon die Bekanntschaft von Herrn Hermann gemacht.“ Sie deutete auf den Alten und Svan kam es vor, als blickte Sie ihn lüstern und sehnsuchtsvoll an. „Hermann weilt schon seit einiger Zeit bei uns und zeichnet sich für einen Großteil der Skulpturen verantwortlich, die Sie in unserem Auditorium gesehen haben. Er kam aus einer sehr schwierigen Lage zu uns, sodass er sich dazu entschlossen hat, bei uns zu bleiben. Außerdem hat er die Leitung der Kunstkurse übernommen . Natürlich kann ich verstehen, dass die Lage für Sie… enttäuschend sein muss, doch ich würde Ihnen sehr empfehlen für eine Weile bei uns zu bleiben.“

VII

„Guru ist doch Neusprech, oder?“, bemerkte Sven vorwurfsvoll.
„Dann ist Regent Uraltsprech!“, donnerte Peter. „Mal ehrlich, Sven, du mit deinen archaischen, romantisierenden Begriffen. Regent klingt so unterwürfig und passt irgendwie zu dir. Oh, Herr Regent, darf ich Ihnen die Füße küssen? Oh, Seine Durchlaucht der Regent, darf ich Ihnen die Arschhaare kämmen?“
Peter machte eine frivole Körperbewegung und schnitt dazu abschätzige Grimassen. Er bemerkte aber schnell, wie Sven leicht den Kopf hängen ließ.
„Ach, bevor es dir wieder die Sprache verschlägt, zurück zum Thema. Ich habe für heute einen Termin beim Guru veranlasst. Nicht, dass du denkst, ich wäre schlecht vorbereitet.“
Sven schüttelte ungläubig mit dem Kopf.
„Wieso Termin? Was soll das denn schon wieder?“
„Ja, wusstest du das nicht?“, fragte Peter. „Der werte Herr Schulz ist doch zum Gesundheitsapostel mutiert, hat jeglichem Laster abgeschworen und schwimmt jetzt im Geld, das ihm seine Jünger quasi freiwillig vor die Türe schmeißen.“
„Der Reg…, äh, der Guru?“
„Ja, der Schulz! Wer hätte das gedacht, oder? Aber dumm war der nie. Hat sich immer abgehoben von der Masse.“
„Aber wie? Ich meine, hier im Dorf, wie geht das? Und überhaupt hatte ich mir unter ‘mal hier rauskommen’ was anderes vorgestellt, als eine Pilgerreise zum Schulz.“ Sven blickte enttäuscht zu Boden.
„Tja, wie der das macht, werden wir gleich herausfinden. Und du müsstest mich doch mittlerweile eigentlich ganz gut kennen. Ich habe dieses Dorf in meinem ganzen Leben nur einmal verlassen und dabei wird es auch bleiben. Lass uns weiterfahren.“

So stiegen die beiden wieder auf ihre Fahrräder und radelten den altbekannten Weg zum Schulz, während in Sven wieder einmal eine kleine Welt zusammenstürzte. Er fürchtete sich geradezu vor dem Treffen mit Schulz, den er so heroisch in seiner Erinnerung trug, und der sich über die Jahre so verändert haben soll. Beobachten konnte er den Wandel im Dorf natürlich schon länger. Die Männer mit den Geschichten und den Bierbäuchen wurden älter, zum Teil opulenter, zum Teil hagerer. Die Geschichten blieben meist dieselben. Sven spürte, wie dieses gefühlt jahrhunderteübergreifende Bild des Dorfmenschen mit all seinen Facetten ins Wanken geriet. Dabei fühlte er sich seit jeher als passiver Beobachter dieses Verfalls, geduldet und integriert, aber dennoch fehl am Platz. Zwar spürte er die stillschweigende Akzeptanz der Gemeinschaft, zugehörig fühlen konnte oder wollte er sich aber nur selten. Er fragte sich oft, warum er immer bei den Alten stand und nicht bei den Gleichaltrigen. Auch ihnen fühlte er sich nicht zugehörig, noch weniger sogar, außer den paar, die bereits vor Jahren weggezogen waren.

Gedankenverloren erreichten sie die steile, lang gewundene Auffahrt zu Schulz’ Haus, als zarte Schneeflocken auf seine Hände fielen. Sie stiegen ab und Sven schaute glücklich in den Himmel. Solche Momente, dachte er, sind genau der Grund, warum er noch hier ist. Wozu einem flüchtigen Versprechen nach Glück hinterherjagen, das einem irgendwo in der Ferne zu warten suggeriert wird, wenn die ganze Reinheit der Existenz in den ersten Schneeflocken des Jahres auf heimischen Gefilden wie Balsam auf einen herabrieselt?

Sie schoben ihre Räder schwer atmend den restlichen Weg hoch und kamen an einem hohen, alles umspannenden, mannshohen und blickdichten Zaun zum Stehen. Sven sah ungläubig zu Peter, der ebenfalls überfordert schien.
„Tja, sagte Peter, Schulz hat scheinbar aufgerüstet. Mag wohl keine spontanen Besuche mehr. Hier ist die Klingel.“
Er betätigte sie und eine Frauenstimme ertönte: „Schulz’ Oase der Erholung, was kann ich für Sie tun?“
„Ähm, Peter und Sven hier, wir hatten einen Termin bei Schulz.“
„Kleinen Moment, bitte. Ah ja, Sie haben sich für das Schweigeretreat angemeldet, treten Sie ein.“
„Schweige-was?“, stammelte Peter, aber Sven fasste bereits den Türknauf und stieß die massive Eingangstür auf.

VI

Die langsame Fahrt über die altbekannten Straßen seiner Heimat, durch die kalte Mittagsluft, die den Atem als geisterhafte Wolke verfestigte, ließ Sven an so etwas wie Normalität glauben. Schon als Kind war er zusammen mit Peter auf zu kleinen und zu alten Fahrrädern, ohne Klingel oder Licht, durch das Dorf gefahren, war an der Ecke beim Bäcker rechts abgebogen, dann einen kleinen Hügel hinauf und am Haus von dem alten Schulz vorbei, der früher eine private Kneipe betrieben hatte. Sven kannte nur noch die Geschichten, die sich damals bei den unbedeutenden und dramatischen Derbys der Kreisklasse erzählt wurden. Mit Bier und Zigarette in der Hand hatten die schon damals alten Rentner zwischen Freudenschreien und Todesflüchen vom „Regenten“ geträumt, der gleichzeitig Schulz und sein Wohnzimmer meinte und dabei doch viel mehr umschloss und als Synonym für eine gelebte Utopie stand. Zu einer Zeit, lange bevor zuerst die Welt und dann darf Dorf von einem anankastischen Gesundheitswahn erfasst wurde, der den Tod nicht einfach wie früher ignorierte, bis er nicht länger zu ignorieren war, sondern ihn als abstrakten Bruch mit der rationalisierten und natürlichen Ordnung bekämpfte, zu dieser Zeit also herrschte das goldene Zeitalter des Regenten. Männer die in schlaflosen Nächten zaudernd mit sich und der Welt am Fenster standen und in stiller Meditation den Mond betrachteten, machten sich in ihren löchrigen Schlafanzügen, reihenweise auf zum „Regenten“, der gleichermaßen Frage und Antwort bot. Frauen, die durch die Kälte fehlender Körper erwachten, vom Schlaf verquollene Augen, verlassen von ihren Gemahlen, auf wichtiger Mission, schlüpften in ihre Bademäntel, in die alten vom Hund angefressenen Schlappen und schlurften anmutig und wissend zum „Regenten“, die aufkeimende Sorge schnell vertrieben durch eine furchtbare Maske der Wut. Und so fanden die Partner wieder zusammen. Nach rhetorischen Vorwürfen und Liebesbekundungen waren die Liebenden bei Bier, Wein und Kräuter wieder vereint oder vereint im Rausch, und nicht jeder beendete die Nacht in dem Bett, dem er vorher entstiegen war. Fragte man die Betroffenen später, wie es denn dazugekommen sei und wie die normalerweise von Liebe und Eifersucht ganz und gar besessenen Frauen und Männer, sich dem Exzess und der Vergebung in derlei Weise ausliefern konnten, so erfolgte als Antwort ein schüchternes Lächeln und wie ein Mantra wiederholten alle die gleichen vier Worte: „Die Magie des Regenten“. Es gab Geschichten von Fußspuren an den Wänden und an der Decke, an deren Entstehen sich niemand erinnern konnte und von denen die einen behaupteten, dass ein Mann auf der Flucht vor seinem Weib und auf dem schnellsten Weg zu seinem Bier an die Wand gesprungen und über die Decke zum Tresen gelaufen sei. Andere meinten an einem Herbstmorgen, als die letzten Gäste auf den Tischen tanzten und sich andere in den Ecken des Wohnzimmers ihrer Liebe ganz und gar hingaben, wären unsichtbare Füße an den Wänden erschienen, wären unbemerkt und im Stillen weiter und weiter fortgeschritten, während das Ziel der Hingabe und Wollust, eine Frau mit blutroten Lippen und Ährenkranz in ihrem Haar, ahnungslos die letzten Tropfen aus einer Flasche sauren Apfels leckte.

Gespannt und verständnislos, von Begeisterung und einer unbestimmten Wehmut erfasst, hatte Sven den Geschichten der Alten, die ihm heute mehr denn je als fantastische Mythen erschienen, gelauscht. Er kannte die Legende des falschen Löwen oder die Sage der musizierenden Rugbymannschaft, die in einer stürmischen Nacht, ebenso stürmisch gegen Schulz verschlossene Haustür geklopft hatte. Dreizehn vom Regen und vom Schweiß nasse Gestalten, von einem unbekannten Ort angeschwemmt, im tiefen Osten gestrandet und am nächsten Tag spurlos verschwunden, hatten sie ihre Sporttaschen in die Ecke geworfen, und nach einiger Zeit ihre Instrumente herausgeholt und begonnen zu spielen. Angelockt von der Musik oder von der Trostlosigkeit der nahenden Zukunft, hatte sich fast das Ganze Dorf in Schulz‘ Wohnzimmer versammelt, gelacht, getanzt, getrunken und geliebt und doch wusste am nächsten Tag niemand, wie jemand der die Gegend nicht kannte, am Ende doch immer zu Schulz fand. Doch der Regent selbst hatte immer nur geschwiegen und höflich gelächelt.

Wenn Sven sich jetzt an die Geschichten erinnerte, wurde ihm in unangenehmer Weise sein eigenes Leben bewusst. Verglichen mit den Gestalten anderer Generationen fühlte er sich als unvollständiger Mann, als verkrüppeltes Männlein, dass die Bierbäuche der Alten im Stillen als unschätzbare Lebenserfahrungen verehrte. Jedes Kilo, zehn Bier und jedes Bier eine mystische und geheimnisvolle Nacht der Überraschungen. Doch als er einmal umständlich zu erklären versucht, warum heute nicht alles besser ist, er Probleme hat die Welt zu verstehen, und ihm persönlich etwas fehlt, was es früher wahrscheinlich einmal gab, auch wenn er nicht explizit benennen könne, was das eigentlich wäre, hatte er nur ein mitleidiges Lachen und eine unmissverständliche Zurechtweisung erhalten: Die Undankbarkeit der Jugend, Möglichkeiten und Chancen, an die zu denken früher als Wahnsinn gegolten hätte, die Repressalien, Schwierigkeiten und Entbehrungen der Vergangenheit. Demütig hatte Sven da den Kopf gesenkt und versucht an das Glück seiner Zeit zu glauben.

Und so folgte er Peter heute wie früher auf Umwegen, Schotter- und Schleichwegen, im Kreis und wieder zurück als altes Kind durch das Dorf, und hoffte, dass ihm nun endlich jemand das Glück seiner Zeit zeigen könnte. Bei dem Gedanken daran, dass dieser jemand ausgerechnet Peter sein könnte, begann er atemlos zu lachen, bis er sich schließlich nicht mehr auf dem Fahrrad halten konnte, absprang und in die Knie ging. Und auch Peter tat es ihm gleich und stimmte freudig und hemmungslos in den Lachkrampf ein, bis er schließlich mühsam hervorbrachte:
„Sven… hahah… Sven…. worüber lachen… wir eigentlich…?“
„Der Regent.“, würgte Sven erstickt hervor.
Peter wurde ernst und blickte Sven vielsagend an: „Der Guru.“

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